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/
afö 'Reformator bcr bcttffdjctt ^iinahx
bargeftellt
toon
t <^tttto ^ifi^'ejf.
SefftngS teformatortfd^e SBebeütung.
tDltnna bon ^atnl^elm. Sf<^ufi @milia ®alotti.
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SSerlag ber Q. ®. ßotta'fd^ Sud^l^anblung.
1881.
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Srutf tjon ®ebrübcr Äröner in Stuttgart.
^orworf.
3n tücnigcn 3Konaten, bcn 15. g^ebruar 1881,
lüirb ba§ crfte Sal^rl^unbcrt feit bem 5Cobc Scffingö
t)oIlcnbet fein. ®ö bcbarf feiner befonberen g^eier,
um ba§ ®ebäd^tni§ biefeö SWanneö ju erl^öl^en,
bem unfere Siteratiir il^re (Srneuerung unb ben
SBeg JU il^rer ®röfee Derbauft. 3luf baö Sal^r^
l^unbert ber Slufftärung ift baö fritifd^e 3^it<Jtt^^
gefolgt, bem Seffing ate g^ül^rer unb 3Kufter bis
JU biefer ©tunbe t)orteu(i^tet.
Sei einem fotd^en aWann will bie 3lnerfennung
ber SBett nid^t btoö eine auägemad^te, fonbern aud^
in rid^tiger SJBürbigung gegrünbete ^l^atfad^e fein.
S)iefe (Sinfid^t fud^en unb förbern ift nod^ lange
feine überftüffige SKufgabe. 3ebe fatfd^e SKnfid^t,
gteid^T)iet ob il^r unt)erftänbige 33en)unberung ober
unt)erftänbiger ^abet jur ©eite ftef)t, trübt fein ®e=
bäd^tnife. Unb nod^ gibt eä' fotd^er 3rrtf)ümer genug.
IV
3u il^rer Scrid^ligung beitragen unb baö Slnbenfen
fieffingö burd^ bie wafire ®r!enntntfe feiner 58cr=
bienfte befeftigen, erfd^eint mir ate bie roürbigfte
Slrt, ben ©äculartag feineö ^obeö ju feiern.
3n roetd^em ©inn unb innerl^atb wetd^er
©renjen id^ baju meinen Seitrdg in ben folgenben
33tättern ju geben Derfud^t l^abe, erl^eHt auö ifircm
Snl^alt. 3d^ l^abe gefliffentlid^ eine größere 3luö=
bel^nung Dermieben. 2)a§ Sffierf beftef)t|mö jufammen=
gel^örigen SBorträgen unb Slbl^anblungeri, bie jum
2:i^eil in ber SWonatöfd^rift „9lorb unb ©üb" (in
ben Salären 1877 unb 1880) juerft erfd^ienen finb.
SBaö id^ meiner Slrbeit über SRatl^an t)orau§jufd^idfen
l^abe, will id^ am Eingänge be§ jroeiten ^l^eileö
bemerfen.
§eibelberg, 5Rooember 1880:
§n^aft
.*^ etftex 5lBfd&nitt.
@eiie
S)ic 9lcfotin bcx ßiteratur 3
Scffing unb Äant 8
2)te beuifd^e Slefocmation unb Slenaiffance .... 18
3)^tcxf(3^ulcn. SPoctif unb ^Pocfic . ' 17
^ageboxn unb bie ^nalteonttler. Säop^iod unb äBtelanb 25
ScffingS Slnfängc unb enttoidflunöSfiang ..... 35
ScffingS xcfoxmatoxifd^^x ßl^axaücx ....... 41
1. S)cx ßitcratox 41
2. 3)ic SRcttunoen 44
3. 2)cx ÄxitüA 46
4. S)cx ^^tlofort 51
5. S)cx 2)id^tcx 54
6. 3)cx Äritücx unb S)id§tcx 57
7. 2)ct ©d&xiftftcOcx 63
3tocitcx SlBfd^nttt.
^inna von "^arnQefm.
S)ic gicfoxm beS 3)xama§ 73
S)ic @t)od^c gfxicbtid^S. 3)cx ficBcniäl^xtQC Äxtcg . . 80
entftcl^unQ bcx ^Jlinna t)on SÖaxnl^elm 88
S)ic gfaBcC bcS ©tütfg 94
VI
6cttc
^pofttion. G^ataÜerifH! I^elD^tmS. 3ufi unb bet
SGßad&tmcipcr 103
e^araftcrifUf 3Jlmna8 116
2)te Söfung. Umtoanblung S^eHl^imS 127
3)rittcr «Bfd^nitt.
aJlitt^eilungcn ßcffingä 143
1. au8 bcm gfauP 143
2. Heber bcn gfoufl 147
SBricflid&c Seugniffe 150
3)oS Verloren gegongcne SQßctf 157
^lan!enburgg unb @ngel3 ^ertd^te 167
3bcc beS Scfpng'fd^cn Sfoufl. Scfpiiö unb (Soet^c . 172
agiertet ^bfd^nitt.
3)ie giefotm bet Sragöbie 177
^ntflc^ung ber emilia (Salotti -4^
@ntUia @alütti unb bie Hamburger 2)tamatutgte . 19^^
1. 3)ic ttogi^e SGßirhing 196
2. %tx tragif^e ©toff 200
3. S)ic tragifd^e ^onblung 2Q3
aSirginio unb (Smüia ©alotti 201
2)ie gfoBcI be§ ©türfg 210
(^pofiiion unb Sl^oroftetifHf beä ©türfS .... 225
e^oraftcriftif ht^ ?Jrinaen . 237
aiaxalitxi^til (SmilioS. 2)ie Söfung beS ^toBIemg . 247
•
r
gefltitgs xtfmminif^t §thtvAm$.
ftuno griffet, Q. (j^. Sefjlng. I.
\
1.
pie %ef0xm hex (Sitetatux.
6ö loürbe bent beutfd^en ^ßatriotiöntus nnferer
Xa^e nid^t tooI^I (teilen, tüenn wir in bent natio=
nalcn unb politifd^en ©elbftgefül^l, roeld^eö baö
neue beutfd^e SReid^ mit fid^ gebrad^t liat, bie 3Kän=
ncr tjcrgcffen ober geringer anfd^lagen wollten, bie
un^ baö geiftige SBaterlanb gefd^affen liaben, afe
baö poütifd^e barnieberlag; benn eö ift ber Sefife
beö erften geroefen, ber in unferent aSolf bie ©elin=
fud^t nad^ ber ©rneuerung unb ©inigung beö jweiten
erl^alten liat. ©ine nationale Siteratur, bie auf
ber ^Sf)e ber SBelt ftel^t unb bie neiblofe 33en)un=
berung ber anberen SBölfer mit SRed^t errungen {|at,
ift eine 3)lad^t, unoergänglid^er felbft afe bie poU=
{
tifd^c, bent neibifd^en ©d^idfal unb bent SBcd^fcl
ber Seiten ausgefegte ©röfee. ©o ^aben bie SBerfc
beö {jeUenifd^en ©eifteö unb beö flaffifd^en ^liex^
tl)Utttö überhaupt bie 3Kad^tfäIIe feiner SReid^e toeit
überlebt.
^Rationale 2^liaten epod^emad^enber 3lrt reifen
langfam unb werben in aUntäliUd^ettt g^ortgange
vorbereitet, bis fid^ ber 3^itp^^"ft erfüllt, ber ben
SDurd^brud^ beö 5Reuen fidler unb fiegreid^ ent=
fd^eibet : f o unoerfennbar, bafe er bie entpf änglid^en
©entüt^er beö ^eitaiiex^ ergreift, fo mäd^tig, ba^
i^n nid^tö nie^r ungiltig unb rüdgängig mad^en
fann. ©in fold^er SHird^brud^ ift eine reforma^
torifd^e ^l)at, burd^ x)iele angeftrebt, burd^ ben
©ntroidflungögang ber gefammten SRation bebingt,
i)urd^ einen einzigen entfd^ieben. S)enn fie er=
forbert aUemal bie eminente perfönlid^e Äraft. ©in
Salirl^unbert lang l^atte bie d^riftlid^e SBelt beö
3lbenblanbeö nad^ einer ©rneuerung unb Umbilbung
ilireö religiöfen unb fird^lid^en Sebenö getrad^tet,
biö im 2lnfange beö fed^jel)nten 3alirl|unbert§
bie beutfc^ ^Reformation burd^brad^ unb fid^ in
bem gewaltigen Sutlier perfonificirte. SSon ben
2lnfängen beö breifeigjäl^rigen bis ju benen
beö fiebenio^rigen Äricgeö l^at unferc bcutfd^c Site=
ratur unb ©id^tung, il^rer glorreid^cn SBcrgangen^
^cit fafl Dcrgcffctt, roicbcr nad^ einer nationalen
igöl^c gefhrebt, biö enblid^ bie jnnfd^en unferem
Sebcn unb unferer ^ßoefte auf getl^ürmten ©d^ranfen
fielen unb bie 3leformation auf biefem ©ebiete fid^
£uft mad^te. 3)er 3Rann, burd^ beffen eminente
perfönlid^e ^raft biefe Xf)at vo\lbxacS)t würbe, ift
©ottl^olb ©pl^raim Seffing, ber ©egenftanb
biefer ©arftettungen, bie ein fo geroaltigeö unb üiel^
feitigeö 2^ema innerl^alb ber gemeffenen ©renjen
unmöglid^ erfd^öpfen fönnen unb fid^ bal^er bie 3luf=
gäbe geftellt l^aben, von einem bem nationalen Se-
TOU^tfein unb ber attgemeinen Silbung näd^ft ge=
legenen ©efid^töpunfte an^ bie Sebeutung beö
3Ranneö ju fd^ilbern.
SBir feigen in il^m ben ^Reformator unferer Site=
ratur, inöbefonbere ben unferer bramatifd^en 5ßoefie
unb ßebenöanfd^auung. ^ätte Seffing nid^t bie
ßraft gel^abt, auf ben Srettern, raeld^e bie SBelt
bebeuten, ba§ 33ilb beö Sebenö umjuroanbeln unb
oon l^ier auö bem Äörper ber 3^tt ^^^ ©piegel
oorjul^alten, fo würbe er aud^ nid^t auf ben ®e=
bieten ber wiffenfd^aftlid^en unb geleierten Siteratur,
bem äftl^ctifd^en, pl^ilofopl^ifd^en, t^eologifd^cn u. f. f.,
jene (Stärfc befcffen l^abcn, bic jcbc feiner ©puren,
TOO er nur auftrat, un^ertilgbar gemad^t ^at. 3)enn
eö fommt in ber ^Reformation geijHger Dbjecte nid^t
bIo§ auf ba§ an, roaö man fagt unb leiert, fon^
bem mie man e§ fagt, auf ben perfönlid^en &)a^
rafter tJoHer Älarl^eit unb ßnergie, ber jebeö SBort
burd^bringt unb bemfelben bie unroiberfle^Ud&e Äraft
mittl^eilt; aud^ ifl ed nod^ nid^t genug, ba§ man
auf bie befle Slrt erflärt unb Dorfd^reibt, roie bie
S)inge gef d^el^en f otten unb umjugefialten finb : man
mu§ felbft §anb an baö 9Berf legen unb t^un,
Toaö man fagt. S5aö t^atlofe SBort bewegt bie
3)inge nid^t Don ber ©teile. S5ie 3leformation bc«
S5rama§ nrill nid^t blo§ in ber SCefll^etif unb in ber
Seigre Don ber S)id^tfunfl, fonbem auf ber Saline
felbfi gefd^el^en; wer ^ier umgeflaltenb nnrfen foll,
mufe neue S)ramen l^erüorbringen, neue fiebenö-
anfd^auungen in biefem möd^tigflen unb populörften
aller Äunfhoerfe Derförpem. S5ied uermod^te unb
t^at Seffing. 6§ ifi leidet ju fagen, weld^e feiner
bramatifd^en ©id^tungen biefe reformatorifd^e Se^
beutung l^aben: bie nationalen unb populären, bie
jebermann fennt, bie unoergeffenen unb unoergefe^
Ud^cn, bic im @ciflc unfereö SBolfeö ein f eftcd, un=
entbel^Iid^ed Seft|tl^um gcroorbcn futb unb in ü^m
fortleben unb fortroirfen werben, fo lange e§ atl^met.
6s finb bie ©tücfe, in benen unfere neuen unb
nationalen 3^^= wnb Sebenöanfd^auungen in ber
gorni beö Su^iefe, beö S^rauerfpielö, beö „brama^
tifiä^en ©ebid^tö" fxä) ausgeprägt l^aben: SRinna
oon Sarnl^elm, ©milia @alotti unb Slat^an
ber 2Beife.
als id^ mir nun bie 3lufgabe flettte, fieffings
Sebeutung von einem, bem nationalen ©efü^l unb
ber allgemeinen 33ilbung näd^fi gelegenen ©efiiä^tSs
punfte aus ju fd^ilbem, fonnte es mir nid^t jn)eifel=
^aft fein, weld^e Sl^emata id^ ergreifen müfete, um
nid^t blos ein abgeriffenes ©tüdroerf ju geben.
Seffing l^at feine nationalen SBirfungen l^auptfäd^s
lid^ burd^ feine bramatifd^en 3)id^tungen errungen:
burd^ bie brei, bie id^ genannt l^abe, unb beren
jebe in il^rer 3lrt einen reformatorifd^en ßl^arafter
trägt. SDarum mu§ id^ oor allem Seffings refor*
matorifd^e SBebeutung in unferer Siteratur über^
l^aupt ins 3luge faffen : bie ©pod^e, bie il^n geroedft
l^at, bie Gräfte, meldte jum S)urd^brud^ erforberlid^
unb in il^m vereinigt maren.
8
IL
3ebeö tcfomtatorifd^c SBerf ift bie ßöfung einer
Beitaufgabc, einer fold^en, bie ben Oang ber Singe
unterbrid^t, bie S^itm fd^eibet,^ bie lierfömmlid^en
unb ausgelaufenen Slid^ungen abfd^üejst, neue er^
öffnet unb bie Dorl^anbenen Silbungöfornten bers
geftalt umroanbelt, bafe, um eö furj unb treffenb ju
fagen, bie 5Ratur ber ©ad^e wie neugeboren
au^ ber 5Ratur beö 3Kenf(ä^en l^ertjortritt.
9luf bie reügiöfe 5Ratur unb ben Urfprung beö
ei^riftent^umö, auf feine gefd^riebenen Urfunben in
ber Sibel unb bie ungefd^riebenen im menfd^lid^en
^erjen ftüfete fid^ unfere fird^lid^e SWeformation.
Site ein ^al^rl^unbert fpäter bie 3^it jur Segrün^
bung einer neuen ^ß^itofopl^ie gefommen war, for^
berte man bie unbefangene üorurtl^eifefreie ®rfennts
niJ3 ber 3)inge burd^ bie menfd^Ud^e aSemunft unb
bie freie ©elbfttptigfeit ilirer Äräfte: bie rid^tige
©inneßroal^rnelimung unb baö Kare S)enfen. 3)ort
foHte ber religiöfe ©laube, l^ier bie notürlid^e ®r-
fenntni^ auö iliren urfprünglid^en unb einfad^en
9
Sebingungcn erneuert unb gleid^fam roiebergeboren
werben. 3n biefer 3lrt normaler ^erfteHung lag
bte reformatorifiä^e Xf)at SRad^bem fie gefd^elien
unb in il^ren folgen auögefül^rt toar, mußte eine
neue 2luf gäbe eintreten : bie 5ßrüf ung jener ®runb=
lagen, auf bie fid^ in bem einen %a\l bie SRefor^
mation ber Äiriä^e, in bem anberen bie ber ^piiilo^
fopl^le gegrünbet liatte; bort fottten bie Quellen
beö ©laubenö, l^ier bie ber ^liilofopl^ie unterfud^t
Toerben. ©o gefd^al^ eö. ®ie lefete ©pod^e ber
^pi^ilofopl^ie — bie größte, bie fie feit ©ofrateö
erlebt l^at, — beftelit in biefer Unterfud^ung unb
©ntbedfung. Unfere natürlid^en aSernunftoermögen
pnb bie einzigen Duellen menfd^lid^er ©rfenntniß:
fie foHen nid^t ©rößereö leiften tootten alö fie leiften
fönnen, fonft toirb bie SBal^rl^eit oerfel^lt unb
uned^te SSorftettungen ju 2^age geförbert. SDal^er
mußten unfere SBernunftlräfte, jebe in i^rer ©igen^
art, ßeifiungsfä^igfeit unb 2:ragn)eite, forgfältig
geprüft unb auögemeffen werben, bamit man wiffe,
worin baö aSermögen ber menfd^lid^en SRatur beftelit :
il^r ®rfenntnißs unb SBal^r^eitöoermögen. S)iefe
^Prüfung nannte man bie Äritif ber aSernunft;
ber Genfer, bem bie ^pi^ilofopl^ie biefe große ©r^
10
leuiä^timg »erbanft, bic ilirc SBegc bis l^eutc gelenft
l^at, max Smmanuel Äant.
3u ben SBemtögcn bcr menf(ä^Hd^cn 5Ratur gcl^ört
aucS) bic ©inbilbungöfraft, bic ©d^öpfcrin bcr
©d^önl^cit unb Äunft. SBic fi(ä^ bic SÖSal^rl^cit unb
ilirc Dcrfd^icbcncn 2lrtcn — bic matl^cmatifd^c,
pl^^fifalifd^c, ^iftorifd^c, fittUiä^c — mit einem SBortc
bic bcfonbcrcn SBiffcnfd^aftcn ju unfcrcm ©rfcnnt-
nifetjcrmögcn tjcrl^altcn, fo vex\)aüen fid^ bic Dcr^
fd^icbcncn 2lrtcn bcr ©d^önl^cit unb Äunft ju bcn
aJiittctn unb Drganen unfcrcr ©inbilbungöfraft.
2Baö nad^cinanbcr gcfd^icl^t, bic B^itfolgc bcr
©mpfinbungcn unb Scibcnfd^aftcn, bcr Scgcbcnl^citcn
unb ^anblungcn, lä§t fid^ t)on ©eitcn bcr Äunft
poctifd^ burd^ baö Sieb, ®poö unb S)rama tjcrgcgcn*
tüärtigcn, aber nid^t ebenfo plaftif d^ ober malcrifd^ in
bcr S^otalanfd^auung einer ober mcl^rcrcr ©cftaltcn
oorftellcn, bie unfcrcr ©inbilbung juglcid^ cim
Icud^tcn. ©benfo tocnig lä^t fid^ ein fold^cö S3ilb
in eine S3efd^reibung burd^ SÖSortc ocrn)anbcln, ol^nc
bic oollc unb cigcntl^ümlid^c Äraft feiner äftl^ctifd^cn
SBirfung cinjubüfecn. 6§ ift ju fürd^ten, bafe bic
SRid^tbead^tung bcr natürlid^cn ©renjen unfcrcr
Slnfd^auungö' unb ©inbilbungöocrmögcn in bcm
X
■i.^
/
11
©cbiete bcr ©d^ön^eit unb Äunfl öl^nltd^e SBcnoir^
tungen unb uneä)te SBorftcttungen jur ^^olgc ^abcn
wirb, ate bie ^ßid^tbcad^tung bcr ©rcnjcn unb
33ebtngungcn unfcrer 6rfcnntnt§Dcrmögcn in bem
©ebtctc bcr SBa^r^cit unb aBiffcnfd^aft. 5Dic Äunfl
fann cbcnfo fritifloö l^anbcln, alö bic ^pj^itofopl^ic.
3)a]^cr muffen bcibc naä) bcr Slid^tfd^nur ber menfiä^s
li(S)en 3latnx il^rc Gräfte prüfen unb braud^en, um
cd^te SBal^rl^cit unb ed^te ©d^önl^ctt J^ertjorjubringen.
hieraus crleud^tet fld^ bic ^ßaraHelc jroifd^cn einer
fold^cn aSernunftfritif unb einer fold^en Äunft
fritil: jroifd^en ßant, ber bie ©rfenntnifeDcrmögcn
fd^ieb, inbem er bie ©renjen beö finnlid^en unb
intettectueffen feftftettte, unb fieffing, ber in feinem
Saofoon „bie ©renjen ber 3Kalerei unb 5ßoefie"
auö bem SBefen beiber Äunftarten, au§ ben ©le-
menten ber plaftifd^en unb poetifd^en ©inbilbungö*
fraft barlegte. S)iefe 3le]^nüd^feit jraifd^en Äant
unb Seffing ift fo fpred^enb, ber Saofoon unter ben
SBerlen beö lefeteren fo bebeutung§t)ott ünb J^ertJor^
ragenb, ba§ wir fogleid^ erfennen, wie in bem
SReformator unfcrer Siteratur ber fritifd^e ©d^arf^
finn eine cbcnfo unentbe^rlid^e unb berufene Äraft
fein mujstc, ate baö poctifd^e aSermögen. Seffingö
12
rcfomtatorifd^en 6l)arafter rid^ttg tüürbigen, l^ct^t
cinfe^cn, wie biefe beiben gactoren in il)m tJcreinigt
waren ^er fritifd^e Äopf nnb ber S)id^ter.
6ö giebt eine Äunft, weliä^e bie 3Wten bie fönig*
lid^e genannt l^aben: bie beö ^errfd^enö. 3lud^ fie
tann ol^ne ©infid^t, oline Äritif geübt werben nad^
bem »bon plaisir« beö gefrönten Snbioibuumö, ba§
in feiner SRad^t nur bie 3Rittel feineö ®enuffe§
nnb in feiner 5ßerfon ben ©taat fielet. 3n ber
fürftlid^en ©tettung ben großen ntenfd^lid^en SSeruf,
in ber fürfttid^en 3Kad^t bie 2lufgabe beö l^öd^fien
©taatöbienfteö ernennen: ba§ ift bie fritifd^e ®in-
[id^t auf bem ^liron, bie ben ed^ten ^errfd^er vom
uned^ten fd^eibet. ©in fold^er 3Keifter ber fönig=
lid^en Äunft war griebrid^ ber ©rojse. Unter
ben ©ölinen feineö 3^üalter§ finb auf bem ©ebiete
beö beutfd^en ©eifteö jene beiben fritifd^en Äöpfe,
weld^ bie Äunft beö ©id^tenö unb SDenfenö burd^s
fd^aut unb gelenft l^aben, bie mäd^tigften gewefen:
Äant unb Seffing. Dl)ne g^riebrid^ wäre Jßreufeen,
ol^ne Seffing bie beutfd^e 5ßoefie unb Siteratut, oline
Äant bie beutfd^e 3Biffenfd^aft nid^t geworben, waö
fie finb : ©rofemäd^te. ©s war ein finntJoHer @t^
banfe beö 33ilb{|auerö SWaud^, bafe er am ^^riebrid^ö-
13
tnonumcntc in Scriin mit ben ftegreiiä^cn g^elb^crrcn
auä) bie fiegrcid^cn ©cnfcr bcö S^italUx^ feiern
töoHte tinb in biefer Slbfid^t Seffing nnb Äant ju^
fammenftettte, alö ob fie einanber begegneten.
m.
S)ie aiufgabe, bie Seffing im gelbe ber beutf(ä^en
Siteratur Dorfanb, wurjelt im B^talter ber beutfd^en
SJeformation.'y Unfere alte Siteratur roar abgelebt unb
eine neue, nationale, bem 3itftönbe ber SÖSeltcultur
entf:^red^enbe fonnte, abgefel^en t)on ber folgereid^en
Xf)at ber beutfd^en Sibelüberfefeung unb bem eoan^
gelifd^en Äird^enliebe, aM ber ©pod^e Sutlierö nid^t
. ]^en)orge]^enl Um eine neue national gefinnte SBelt^
bid^tung ju erjeugen, war bie ^Reformation burd^
}tt)ei SBebingungen geliinbert : einmal blieb fie burd^
i^re näd^ften Slufgaben ju fel^r auf baö ©ebiet ber
teligiöfen, fird^lid^en, tlieologifd^en Sntereffen ein=
gefd^rönft unb mu^te fid^ ba^er in i^rem Fortgänge
tnelir unb mel^r ben beroegenben SBeltmäd^ten ent-
fremben ; bann liatte fie burd^ il)re unoermeiblid^en
folgen bie beutfd^e 5Ration in jroei einanber feinb^
Hd^c Sefenntniffc unb Äird^en gefpaltcn, ja auö
intern eigenen ©d^o^e felbft neue ©laubenöjrotfUg^
feiten erjeugt, roeld^e bie innere S^rtlüftuifft unfereö
SBotfeö Dergröfeert unb bie SBiberflanbßfraft ber
3lefomtation gefd^n)d(ä^t ^aben. S)arum l^at bie
leitete in il^rem eigenen 3^WöÜ^ "i^t vexmocS)t,
bie beutfd^e Siteratur t)on ®runb auö ju erneuen,
fie mufete eö ber Swhinf^ überladen, biefe burd^
ij^re 6pod^e geforberte aufgäbe ju löfen.
S)od^ erlebte aud^ bie Siteratur in S)eutfd^lanb
eine gteid^jeitige unb notl^roenbige Umbilbung, bie
nid^t t)on ber religiöfen SWef omtation , fonbem
von beut tjeränberten ©tanbe ber SBeltcultur auö^
ging : t)on jener SBiebergeburt beö Slltert^umö unb
ber Belebung ber 2lltert^umöftubien, bie 9lenaif=
fance genannt roirb unb an bie ©tette ber fird^=
lid^en ©rjiel^ung unb Silbung bie l^umaniftifd^e
treten liefe, mit ber neue ©egenftänbe ber ^Jorfd^ung,
neue SBorbilber be§ ®efd^ntadEe§ unb ber ^p^antafie,
neue 2lufgaben unb g^ormen ber 3)id^tung empot^^
fanten. ®ie ^umaniften würben bie ^ßoeten bes
3eitalterö; bie beutfd^en ^umaniften würben neu-
lateinifd^e 5ßoeten, benen eö in ber S^t ber 6rs
Hebung, im 9luffd^n)ung ber gewaltigen ©pod^e nid^t
15
an großen unb nationalen ©cgcnflänbcn, nid^t an
Segeiflerung unb ©cnic gcfcl^lt l^at, bie aber in
ber 3^ ^^ ©nnattung, bic baö fxnfenbc 3al^r=
^nbert mit {td^ brad^te^ nid^ts übrig bel^ielten ate
bic agirtooßtät ber Siad^al^mung. ©tatt bcr natio=
naien 35id^tung, bic auö ben inncm 3Räd^tcn bci^
3SottöIcbcnö cntfpringt, jeigtc jtd^ eine geleierte
Äunfibid^tung , bie julefet nur nod^ in geleierten
Äunfiftüdfen beftanb unb il^re größten aSerbienfte
im Umfange il^rcr Sclefenl^eit , in bem SReid^tl^um
ber SReminiöcenj unb bcr gcfd^idften J^ed^nil bcr
SSerfe erblidfte. 3e länger je weiter mufete fid^ eine
fold^e ^id^tung von ber Slrt beö aSoßeö entfernen.
35aö 3Solf fprad^ beutfd^, feine Sid^ter rebeten
lateinifd^ unb von Singen, bic baö aSoII nie em=
pfunbcn unb erlebt l^atte, bie Sid^ter felbfl nur
burd^ fünftlid^e ©d^uljud^t. ©ine neue Äluft l^atte
fid^ aufgetl^an j^ifd^en ber geleierten Sid^tung unb
bem ungelcierten aSolf. Sie ^Reformation war
beutfde, aber ol^^e baö SBcrmögen, ben ©eift ber
Sid^tung ju beleben; bie SRenaiffance betrieb bie
©ultur ber ^oefie, aber fie war nid^t beutfd^ ; bod^
waren beibe (Spod^en jur ©rneuerung unferer Site^
ratur burd^auö notl^^enbig unb unentbeierfi^ • i>i^
16
^Reformation burd^ bic Ociftcöfrcil^cit, bie il^r
ju ©runbc lag, bic SRcnaiffancc burd^ bic ©ciftcö-
bilbung, bic fic bcfafe unb mittl^eiltc. Slber e§
baucrtc lange, biö bcibc Baattn auf bcm fjclbc
bcr bcutfd^cn Sttcratur gereift waren. 35ie ®nU
n)i(flung, bie un^ jum ^id fül^rtc, ging nid^t bie
gerabc Sinic, fonbern nal^m ben weiteften Umroeg.
Btoifd^en bem gried^ifd^en 3tttcrtl^um unb unö flanb
baö römifd^e, jwifd^en biefem unb unö flanben bic
romanifd^en Stationen: bic Stalicner, ©panier,
granjofen ; bie SRcnaiffance war t)on ©eburt italie-
nifd^, ju un^ f am fic auö ber g^rembe ; bic näd^ften
Erben bcö römifd^en 3tttertl^umö waren bic SßöKer
ber romanifd^en ©prad^cn, beren SBilbung unb
Sebenöanfd^auung in ben überlieferten g^ormen ber
alten Äunft il^ren leidsten unb naturgemäßen 2lu§^
brudE fanben. S^^if^ä^^^ ^^^ romanifd^en Stationen
unb unö ftanb baö nm näd^ftocrroanbte englifd^e
aSol!, baö mit feiner germanifd^en Eigenart bie
romanifd^en Silbungöformen burd^brungen, bie Sie-
formation unb bic SRcnaiffance in fid^ aufgenommen
xmb auf feine 2lrt national gemad^t l^atte. 5Dieö
ift bcr meite Umweg, ben bcr ©ang be§ beutfd^en
©eifteö nel^men mußte, um von ber ^Reformation
\
17
bcr Äirc^c jur SRcfomtation bcr ^ocfic ju gelangen,
Toir finb burd^ bie ©d^ule beö gried^ifd^en unb
römifc^en 2lltertl^umö , burd^ bie ber romanifd^en
Siteraturen, burd^ bie ber englifc^en ju uns f elbft
gefommen. S)ie neulateinifd^e SRenaiffance xoax baö
erfte ©tabium, bie aSorbilber ber italienifd^en, fpa=
nifd^en unb befonberö ber franjöfifd^en S)id^tung
baö jToeite, ber ®influ§ ber englifd^en Siteratur
baö britte ; bann folgte bie entfd^eibenbe X^ai : ber
^nxä)bxnä) jur eigenen Originalität. 9luf biefem
fünfte Mt Seffing.
IV.
6ö ift ber SBeg ber SCrabition , ber SBorbilber,
ber ©d^ule, auf bem wir aHmäl^lid^ fortgefd^ritten
finb von ßutl^er ju Seffing ; eö l^at über jwei Sal^r^
l^unberte gewäl^rt, biö biefer SBeg t)offenbet xoat,
3m Uebergange vom fed^jel^nten jum fiebjel^nten
Sal^rl^unbert gab eö ein 3Wenfd^enalter, wäl^renb
beffen bie beutfd^e ©prad^e in ber Sid^tung fo gut
tt)ie t)erftummt war. 35er 3^itpun!t, wo fie lieber
JU reben begann unb ftatt lateinifd^er SBerfe beutfd^e
18
ju mad^cn Dcrfud^tc, gilt alö ber Slnfang unfercr
neuen ßiteratur: eö war ntd^t ^oefie, fonbem
„^oeterei", eine neue, ber antifen SKetrif abgelernte
3Serö!unft, womit in beni erjien ©tabium beö brei§ig=
jäl^rigen Kriegö 9Jf artin Dptife biefe bürftige ©poc^e
entfcj^ieben l^at.
2)ie fogenannten fd^lefifd^en ©id^terfd^ulen be=
jeid^nen im ©ro^en unb ©anjen bie ©ntmidlung
unb ben ©l^aralter ber beutfd^en ßiteratur tt)äl^renb
be§ fiebjel^nten Sal^r^unbertö ; fie ift nie elenber,
fd^ülerl^after, fümmerlid^er geroefen alö in biefer
jammervollen B^it, morin baö beutfd^e 3Solf bem
fd^recflid^ften aller Kriege erlag unb in feiner SEBiber^
ftanbölraft gebrod^en baraus ^eroorging. Unter
ben europäifd^en ßulturoölfern l^atte unfere Site^
ratur bamafe ben niebrigften ©tanb, fie glaubte in
ber 3Ser§funft mä) bie S)id^tfunft ju beftfeen, unb
„ber nürnberger ^rid^ter" leierte, wie fie in xoenu
gen ©tunben einzugießen fei. Dl^ne eigenen be^
raegenben Snlialt, ol^ne ^iefe unb Sieid^tl^um ber
©eele, mie e§ bie f(3^ülerl^afte 2lrt mit fid^ bringt,
mußten biefe ©id^ter an fid^ unb i^ren Sffierfen
alle bie Untugenben, alle bie Slrmfeligfeiten bar=
[teilen, bie man jebetjeit an ©d^ülern beobad^ten
19
fonn, bie, inncrlid^ nod^ uncntroidfclt unb uner^^
füllt, ©cbid^tc mad^en tooUcn unb im erfünftcltcn
auöbrucfe, in bcr blül^cnbcn S)iction, im gcbunfcncn
©til, in ber crfd^nappten ^l^rafc glauben bic ©ad^e
ju l^abcn. ®er ©d^wulft ber jtDeiten fd^lefifd^en
©id^terfd^ule ifl fprid^wörtlid^ geworben. 3luö [old^en
3eugungö!räften fonnte nur eine fold^e 3)H§geburt
l^eroorgel^en. ©rfd^ien eö bod^ roie eine wol^ltptige
©egenwirfung, als gegen bie SEBafferfud^t jener
©id^ter bie fogenannten SBafferpoeten auftraten, bie
wenigftenö nur bie ganj gemeine ^ßrofa reimten.
2Bir miffen mol^l, ba§ aud^ in biefer Seit be§ Gtenbö
bie poetifd&e Äraft in unferem 3Solf nid^t t)öffig er=
fiidEt mar, ba§ fie in ber religiöfen unb fird^Üd^en,
in ber fatirifd^en unb epigrammatifd^en ©id^tung,
t)or allem in bem Sioman beö ©impliciffiömuö,
ber in feiner ©d^ilberung felbfterlebter 3^it= unb
©ittenjuftänbe einer Dafe in ber Sffiüfte glid^, fid^
nod^ regte; aber biefe t)ereinjelten ®rfd^einungen
reid^ten nid^t l^in, ben Oang ber Literatur ju änbern.
Site baö ad^tjel^nte Sal^rl^unbert begann, l^atte
bie beutfd^e Siteratur nod^ nid^t bie SReife unb
SKünbigfeit erreid^t, mit ber bie ©d^uljeit enbet,
fie blieb nod^ auf ber SBanf, aber fie fam auQ einer
20
fd^led^ten ©d^ulc in eine bcjfcrc unb mad^tc für
V)xen bamaligcn Silbungöjuftanb einen mtflid^en
gortfd^ritt, afe ber Seipjiger ^profeffor ©ottftä^eb
fie in bie Seigre nal^m. S)iefer 3Wann war ber
^räceptor, beffen fie beburfte unb ber mit faft un^
beftrittenem Slnfe^en baö Sa^rjel^nt von 1730—1740
bel^errfd^t ^at ©o einleud^tenb feine 3Serbienfte
finb, wenn man von ^ofmann unb Sol^enftein l^er=
fommt, fo einleud^tenb ift feine SRid^tigleit, menn
man von ber ^öl^e Seffingö ober ©oetl^eö auf il^n
l^erabfie^t. Sie^e fid^ eine nationale Siteratur fabri^
ciren ober wie ein orbenttt(3^er ^auöftanb regeln
unb einrid^ten, inbem auf ber einen ©eite oer=
braud^ter unb unnüfeer ^auöratl^ abgefd^afft, auf
ber anberen nötl^iger unb nüfelid^er SBorratl^ ge=
fammelt unb angefd^afft wirb, fo würbe fid^ ®ott=
fd^eb biefeö 3Serbienft in S)eutfd^lanb, inöbefonbere
um ba§ beutfc^e 2^l^eater erworben l^aben, benn in
biefem ©inne l^at er gel^anbelt. ®r nal^m bie
beutfd^e 3^üp^ttofopl^ie ju feiner SRid^tfd^nur, bie
,,3Bolfifd^e", worin bie Seigre unfereö großen
Seibnij nic^t mel^r lateinifd^ unb franjöfifd^, fonbem
beutfd^ fptad^, unb jwar ein reinlid^eö correctes
3)eutfd^, worin jeber ©ebanfe, aud^ ber felbfitjer«
21
jiänblid^fie, mit unbamtl^crjiger 35eutlid^!eit beroiefcn
unb vorgetragen würbe, ^ier xoat bie ^pi^ilofopl^ie
toirflid^ fo, tote fie 3Repl^iftopl^eIeö fd^ilbert: „3)a
leieret ttiatt eud^ tnattd^ett ^ag, ba§, toaö il^r fottft
auf eittett ©d^Iag getrieben, wie ®ffen nnb SCrinfen,
frei, einö! B^ei! ®rei! baju nöt^ig fei." 3n
biefer ©ebanfenfabrif ging aHeö regelred^t ju; aud^
in ber ^poefie foHte aHeö nad^ Siegeln gelten, nad^
Ielir= unb lernbaren, bie auöjubilben ©ottfd^eb ju
feinem Oefd^äft unb SEBerl mad^te. S)arin beftanb
feine „fritifd^e S)id^tfunft". Siid^tig benfen ^ei^t
nad^ ber Siegel beulen. SWd^tig bid^ten l^ei^t nad^
ber Siegel bid^ten. Slimm einen moralijd^en Sel^r-
fafe, erfinne baju eine allgemeine g^abel, fuc^e ju
biefer in ber ^iftorie berühmte Seute, benen Sielen-
lid^eö begegnet ift, bringe baö &anit in eine ^anbs
lung, tl^eile fie in fünf ©tüdEe, bie ungefäl^r gleid^
gro§ finb : ba l^aft bu baö Siecept ju einer rid^tigen
S^ragöbie! S)aö regelmä^igfte S)rama ift baö mufter-
giltigfte. Slad^ ben 2llten l^aben biefe Äunft bie
granjofen, vov allen ber grofee GorneiHe, am beften
Derftanben, fie finb unfere näd^ften unb lel^rreid^ften
SBorbilber, nad^ bereu Stid^tfd^nur baö beutfd^e
2^^eater umjugeftalten ift: bal^er bie 2lbfd^affung
22
bcr ©ingfpicic unb ^arlcfinabcn, bic ©ammlung
t)orrätl^i9cr bcutfd^cr ©tücfc, bic 2lnfd^affting regel-
mäßiger S)ramen burc^ Ueberfefeungen unb eigene
gabrifation. 2lte nad^jual^menbeö SBorbilb für bie
^^ragöbie empfal^I ber SBerfaffer ber fritifc^en S)id^t
fünft ©opI^oKeö unb fid^. Unter ber ^errfd^aft ber
Siegel unb frember, befonberö franjöfifd^er SSor-
bilber begrünbete ©ottfd^eb bie SReform ber beutfd^en
Siteratur unb 83ül^ne; in biefer Slbfid^t entfaltete
er eine große SBetriebfamfeit, bei ber affeö rul^ig
unb gefd^äftlid^ jwging, wie in einer tt)ol^teingeri(^=
Uten SBirtl^fd^aft, ol^ne äffe ©rfd^ütterungen ber
^ßl^antafie unb beö ^erjenö. S)ie ?ßoetif will bie
^Poefie regieren unb mad^en. S)aö roax fein
©tanbpunft unb grrtl^um. ©ein aSerbienft bleibt,
baß er bie 2lufgabe ber Sie form auf bie J^ageö^
orbnung ber beutfd^en Siteratur gebrad^t liatte.
Slad^ Siegeln unb 3Sorfd^riften läßt fid^ fabri=
ciren unb mirtl^fd^aften, aber nid^t bid^ten, fo wenig
n)ir nac^ Siegeln emppnben unb leibenfd^aftlid^ er=
regt werben, lieben unb l^affen, freubig unb traurig
fein fönnen. Unfere ®emütl|öben)egungen l^aben
i^re Siegeln unb ©efefee, bie man erfennt, menn
man il^ren Urfprung burd^fd^aut, aber fie entftel^en
23
nid^t auö SRcgcIn. S)affelbe gilt oon bcr S5id^=
tung. S)arum roax bcr SBcrfud^, bcn ©ottfd^eb jur
Siefonn bcr bcutjd^cn Sitcratur unternommen l^atte,
von ©runb aus oerfcl^lt. *SSRan erjöl^lt t)on einem
^rinjenerjiel^er , ber feinem Sögüng t)erf(i^iebene
aSorfd^riften gab unb unter anberem jur ^ffid^t
mad^te: „^rinj, ©ie muffen fid^ aud^ mand^mal
amüftren!" ®ine§ 2;ageö, ate ber ^ßrinj mit fei=
nen Äameraben fpielte unb luftig mar, frug er ben
Seigrer: „Slmüfire id^ mid^ jefet?" — ®in fold^er
5ßrinjenei^iel^er mar ©ottfd^eb, ein fold^er ^prinj
bie beutfd^e Literatur, bie il^m gel^or($te. SBäre eö
nad^ bem Seipjiger ^ßräceptor gegangen, fo l^ätten
bie 35id^ter bei i^m unb feiner ^oetif anfragen
muffen, nid^t bloö ob fie biefe ober jene (Srnpfln-
bung l^aben bürfen, fonbern ob fie biefelbe mirflid^
l^aben ?
2)ie 3^t mu^te fommen, mo Oottfd^ebö Srr-
tl^um ber SBelt einleud^tete unb bie beutfd^e ^ßoefie
aufl^ören wollte, in bie ©d^ule ju gelten; biefer
3eitpunft mufete fel^r balb fommen, benn burd^
©ottfd^ebö ©ictatur mar fein Srrtl^um bergeftalt
JU 2^age geförbert, bafe er in bie Slugen f prang.
-SKud^ barin befielet ein aSerbienft biefeö SRanneö,
24
freiließ ein ungcrooffteö, bcnn bic Singe in b^^
SBelt müjfcn offenbar werben, um gerid^tet ju mr^
ben. 6§ mufete fid^ jeigen, ba§ aM bem ©tanb^
punft unb mit ben 3Witteln ber Seigre ©ottfd^ebs
bie ^poefie meber erjeugt nod^ üerftanben werben
lonnte.
2)en 2lnfang ber befferen ©infid^t machten bie
©d^roeijer. 3n bem 3a^re, wo g^riebrid^ ben
preufeifd^en 2;^ron beftieg, entjünbete fid^ ber be-
fannte ©treit jraifd^en bem Seipjiger 2lfabemifer unb
ben Bürid^er ^rofefforen SBobmer unb SBreitinger.
®ie ^pi^antafie gel^t nid^t naä) Siegeln, bie man il^r
üorfd^reibt, fonbern nad^ ben Sebürfniffen, bie fie
empfinbet, nad^ ben SBirfimgen, bie fie erlebt unb
bie fie erquidEen: fie will ergriffen, gefeffelt, erfüllt
werben. Salier begel^rt fie gewaltige, ungewöl^n-
lic^e, wunberbare 35orfteffungen unb erl^abene Silber;
bie ^poefie foH nid^t regelred^t, fonbern pliautafie=
gernä^ wirfen, bie S)id^ter foHen einen ä^nlid^en
Sauber auf unfere ®inbilbung§!raft ausüben als
bie 3Jlaler burd^ i^re farbenreid^en ©eftalten: bieö
war bie neue Seigre, bie Sobmer in feiner ©d^rift
t)om Sßunberbaren, SBreitinger in feftier fritifd^en
S)id^t!unft oerfünbeten, unb bie ben ©treit mit @ott=
25
k
Web §cn)orrtcf, beffcn abfd^ä^igeö Urtl^cil über
^1 äßilton fd^on gcjcigt l^atte, wie lücnig er im ©tanbe
nM
«'ör, Wc eigcntl^ümUd^c ©ro^eit bicfcö cnglifd^cn
«nb religiöfen 3)id^terö ju toürbigcn.
V.
(^ageborn nnb bte Jtiiaftreoiitiftei:. ^(opfloA
\ nttb pte(aiib.
3lud^ bie ©(ä^toeijcr roaren feine ©id^ter. 35er
©treit jtmfd^en il^nen unb ©ottfd^eb bewegte fid^
nod^ innerl^alb ber ^poetif, bie il^re SRed^nung
oline ben SBirtl^ mad^te; eö l^anbelte fid^ um bie
* ^errfd^aft ober ?lid^tl^errfd^aft ber SRegel in ber
^oefle, um biefe tl^eoretifd^e ^rage, in ber bie
©d^roeijer gleid^fam bie ©runbred^te ber ^l^antafie
en bloc öertl^eibigten. 3n biefem fünfte lag bie
©törfe unb ber ©ieg il^rer ©ad^e, wenn bie ftraft
erfd^ien, bie burd^ eine gewaltige bid^terifd^e 2^l^at
biefen ©ieg auömad^te unb bem bloßen Oerebe
über ^oefie ein ®nbe fefete. 35enn bie ^oetil ol^ne
5poefie ifl fo gut ©d^olaftil als bie 2^l^eologie ol^ne
Sieligion.
®ie ©ad^e war fo weit gefommen, bafe ben
26
näd^ftcn ©d^ritt nur ein geborener 5poet tl^utt
fonnte, an bem ©ottfd^eb ju ©d^anben würbe, unb
in weld^em bie ©d^roeijer erfüllt fallen, tt)a§ fie
t)erfünbet l^atten, ein 5poet, ber il^nen jurufen
fonnte: „id^ i^abe getl^an, was il^rnur maltet!"
®aö aSorfpiel auf bem 2^l^eater unferer neuen Site^
ratur xoav ju 6nbe unb ber 3Koment ba, mo ber
@eniu§ ber beutfd^en ^oefie empfanb, toaö im SSor-
fpiel jum gauft ©oetl^e julefet ben 3)irector fagen
lä^t : „35er SBorte finb genug gewed^felt, la^t mxä)
aud^ enblid^ 2^l^aten feigen!"
S)er ^poet, bem man entgegenl^arrte, erfc^ien in
bem jugenblid^en gr. ®ottl. Älopftod ; bie 2^l^aten,
moburd^ er bie ^erjen bejroang, waren bie erften
Oefänge feines 3Weffiaö unb feine Dben. ©in er-
greif enber, geweil^ter 3Roment, in bem er auftrat!
©eit fo langer ^tit roax e§ jum erften 3Kal, ba§
bie großen, nie alternben ®mpfinbungen lieber mit
beutfd^er Urgewalt aus ber güHe beö ^erjenö l^er^
t)or6rad^en unb mit ber £raft unferer ^elbenfprad^e
rebeten. Um SReligion, ?latur, SBaterlanb, greunb*
fd^aft unb ßiebe fo ju empflnben, biefe ©efüi^le fo
auöjufpred^en, wie ÄlopftodE vzxmoä)t l^at, baju ge^
l^örte mitten in einer nod^ gebrüdften unb beengten
27
3eit eine bctounberungstoürbige ©tärfe xmb 6r^
l^abcnl^cit ber ©ccle. S)icfc mäd^tigcn unb cmpfin=
bungsrcid^en %f)emata ^at ftlopfiod cntfcffclt, in
feinen ©efängen auöftrömen laffen, t)on il^rer vex^
kümmerten ©Eiftenj in elenben SRomanen unb SRei::
mereien erlöft. Sol^enftein§ „grofemütl^iger gelbl^err
amtiniuö ober ^ermann mit [einer burd^Iauiä^tigften
2:^u§nelbe" unt) Älopftodö Dbe:
iQal bott fommt et mit @d§toetg, mit ^bmnhlui,
^it bem ©taube bet ©d^lad^t bebeift! fo fd^ön toax
iQtxmarm niemals ! Bo ^aV^ il^m
9lte t)on bem ^uge geflammt.
Stomml td§ Bebe t)ot Suft! teid^ mit hm ^blet
Unh ba^ ttiefenbe ©d^toett ! Äomm*, atl^m* unb xn^ l^iet
^u§ in meinet Umatmung
S3on bet au fd^ted^tid^en @d§lad^t.
S)ie erl^abenen Oefül^le, bie unfere ©eele be^
flügeln unb emportragen, finb einanber uertoaubt,
jte finb in feinem S)id^ter fo gefd^aart unb burd^
\fyce meiä^felfeitige 2lnjiel^ungölraft gegenwärtig aU
in Älopftod; eines ruft gleid^fam baö anbere. 3)ie
greube an einer l^errlid^en Sanbfd^aft medft in il^m
eine SReil^e freubiger, erl^ebenber, aufjaud^jenber
©mpfinbungen , bie fid^ n)ie im ©türm feines ®e=
tnütl^ö bemäd^tigcn; im 2lnbli(fc bcö 3ürid^er ©ceö
fül^lt er fid^ crroeitcrt, fortlcbenb in ber ©pmpat^ie
bcr 5Ra(^n)elt, unb mitten in bem Subelgef ang feiner
^reube an ber erl^abenen SRatur feiert er bie Un^
fterblid^feit menfd^lid^er ©röfee:
9lei5t)oE üingt be§ 9lul^m§ (ocfenbet ^UBetton
3n baS fd&lagenbc ^etj, unb bie UnfterbUd^feit
3ft ein ötofeet ^thanlt,
3ft beS ©d^toeifeeS bet ©blen toertl^ !
Siefe Unfterblid^feit ift i^m geworben. 2Bie er
in feiner Dbe e§ erfel^nt, ^at er „burd^ ber Sieber
Oeroalt" fortgeroirft unb ifl „mit ber ©ntjüdung
2^on oft beim SRamen genannt worben". ®rinnern
wir um jener fd^önen ©tette im SBriefe Sffiertl^erö,
worin er fein erfteö S^fammenfein mit ber ©e^
liebten fc^ilbert, ben länbüc^en Xan^ unb bie
©ommernad^t nad^ bem ©eroitter. „SBir traten
anö genfter. ®§ bonnerte abfeitroärtö, ber l^errlid^e
Siegen fäufelte auf baö Sanb unb erquidenber
SBol^lgerud^ ftieg in affer güffe einer warmen Suft
ju nm auf. ©ie ftanb auf i^ren @ffen6ogen ge^
ftüfet, il^r SBlidE burd^brang bie ©egenb, fie fal^ gen
Fimmel unb auf mid^, id^ fa^ il^r 2luge tl^ränem
t)off, fie legte i^re ^anb auf bie meinige unb f agte :
29
5lopfto(f! 3d^ erinnerte mid^ fogleid^ ber l^err-
H^n Dbe, bie il^r in Oebanfen lag, unb uerfanf
in ben Strom ber ©mpfinbungen, ben fie in biefer
^ofung über mid^ ergo§."
6§ giebt jroei (Sebid^te ©d^iller§, bie mir un-
njiirfürUd^ baö Silb Älopftodö l^en)orrufen. 35er
beutfd^e ^pegafuö lag im 3od&, er entfaltete [ein
Sd^wingenpaar, afö biefer Jüngling il^n berül^rte,
unb ftieg empor ju ben blauen ^öl^en. Älopftodf
war ber 35i(^ter ber erl^abenen ®mpfinbung, beö
Iprifd^en 3luf f d^roungö , burd^ feinen ©eniuö nid^t
jur epifc^en, nod^ mentger jur bramatifd^en ^ßoefie
berufen. Site er baö ©ebid^t oom 3WeffiaS untere
ital^m, l^atte er fid^ jtoeimal geirrt: in ber 3Bal^l
ieö ©toffe§ unb in feinem Talent; eö war bie golge
iiefeö boppelten ^^el^lgriffs, bafe ein SBierteljal^r'
l^unbert t)erging, bis er fein ®poö muffelig ju
<£nbe gebrad^t l^atte. 3)aö 93ilb ber Sffielt unb beö
Doßen TOenfd^enlebenö lann uns nur ber epifc^e
wnb am mirfungöoottften ber bramatifd^e Sid^ter
geben. Älopftotf war lein SBeltbic^ter; ber 3^9
feiner SRatur ging nad^ ben blauen ^ö^en. 3d^
müfete feinen unferer neueren ?ßoeten,., ber fo wie
^r bie grage l^erauöforbert : „Sffio toarft 35u benn.
30
afe man bie SBelt gcti^eilet?" — feinen, ber f
me er antworten bürfte:
3^ toax, fptad^ bct $oct, Bei hixl
Tltin ^uge l^ing an beinern Slngeftd^te,
%n beineS ^immelS ^atmonie mein D^t,
iBetjeil^ bem ^etfle, bet^ t)on beinern Sid^ie
SBetaufd^t, baS Stbtfd^e öetlot.
Sffienn er einer SBet^ei^ung bebarf, fo ift eä
biefe, unb niemanb f)at über Älopftodd ©röfee
unb ^Kdngel rid^tiger geurtl^eilt, afe ©d^iller fettjt
in feiner unDergleid^Iid^en ©l^arafterifHf, be§ „fenti^
mentalifd^en ©id^terä". @§ ift nötl^ig, unferer 3^t
bie rid^tige 3Bürbigung Älopftodd roieber einjuprägcn,
ba mv mel^r afe einmal bei beod^tungöroürbigen
aWännem Derf eierten Urtl^eilen begegnet flnb, bie
ftlopftod ju ben literarifd^en ©uriofltäten red^nen
unb DöHig Dergeffen l^aben, weld^e ©eelen- unb
^pi^antafieftärfe baju geprt, um ben ©taub ber
©mpfinbungen abjufd^üttetn unb bie erl^enen SSor^
fteHungen rein unb gewaltig l^erüorjubringen.
greilid^ fonnte von einem fold^en 2)id^ter eine
burd^greifenbe Sieform unferer Siteratur nid^t an%^
gelten: baju^fel^lte il^m ber Umfang ber poetifci^en
Äraft unb baö 2?erftänbnife ber Aufgabe felbfi
31
SBic fel^r ü^m bie Icfeterc ©tnfid^t gebrad^, 'f)aben
Wc JJcuerungcn beroiefcn, bie er in feiner fpäteren
3«t einfül^ren wollte unb bie eben fo Diele SBer*
imingen waren. Slud^ unter ben 3)id^tern, bie
|id^ t)on ©ottfd^eb unabl^ängig gemad^t l^atten unb
unbefümmert um il^n unb feine fritifd^e ©id^tfunft
ifyce poetifd^en fträfte Derfud^ten, war feiner, ber
an 9Rad^t be§ J^alentö fid^ mit Älopfiodf oergleid^en
fonnte ober bie Oaben befaß, bie il^m fel^lten. S)er
einjige, ben bie SRatur berufen l^atte, gleid^fam fein
poetifd^er ©egenfüßter ju werben, 61^r. aw. 3BieIanb,
l^atte ftd^ t)orl^er ju ben ©d^weijem Derirrt unb
fud^te bem ®id^ter beö aWeffiaö bie gußftapfen nad^^
jutreten. 2)ie bramatifd^e Äraft war aud^ il^m t)er=
fügt. 35ie ©tärfe unb ber B^uber feines J^alentö
lagen genau in ber 3Bagfd^afe, bie ÄlopftodEö er=
l^abener Sprif gegenüber bie beiben ©egengetpid^te
beö Äomifd^en unb (Spifd^en entl^ielt : SBielanb vtx-
einigte biefe beiben gactoren in ber fomifd^en
©rjäl^lung, bie unö ergö^lid^ fd^ilbert, wie bie
©d^wärmerei ju ^all fommt unb bie finnlid^e SRatur
fld^ an il^r räd^t. 3Bäl^renb Älopfiodf „ber fünbigen
aJlenfd^l^eit ©rlöfung" befang, nalim SBielanb in ber
©tiffe bie entgegengefe^te SKd^tung unb liefe fid^ Don
ber 3Kufc belcl^rcn, ba§ bcr ®ctft mllig, aber baö
glcifd^ fd^tüad^ fei. Unb cö ift, fc^te bie 3Rufe l^inju,
nie liebenöroürbiger, aUxoenn eä fd^tüad^ ift! S)ie
ÄiebenöToürbigfeiten bicfer ©d^n)ä(ä^e tüufete SBielanb
mit poetifd^er SBirtuofität ju erjäl^Ien. „2)er l^ol^e
©(ä^TOung beugt meine ©eele nid^t, mein ©lement
ift tieitre fanfte greube." 9lte er biefeö fein ©Icmcnt
gefunben l^atte unb in ber 3Jlufarion t)erfünbete,
mar bie Sieformation unferer Siterotur in ooHem
©ange.
S)er ©egenfafe jmifiä^en Ätopfiodf unb SBielanb
ift feine jufäßige ©rfd^einung, fonbem ber poetifd^e
3luöbrudf jener beiben einanber miberftreitenben
3Jläd^te ber ibeaten unb finnlid^en 3Jlenfd^ennatur,
bie im B^i^fpött il^re ©rgänjung forbern; ein äl^m
lid^er ©egenfafe jcigt fid^ unter ben großen ©id^tern
beö 3Rittetatter8, jmifd^en SBoIfram von (Sfd^enbad^
unb ©ottfrieb t)on ©trapurg ; ein äl^ntid^er bcftel^t
in ber neueren 3ßit, nod^ beoor Ätopftodf unb SBielanb
ben übrigen ausgeprägt l^atten, jmifd^en öaBer unb
ißagebom. Unb ^aBer fal^ in ^agebom beibeö:
fein ©egentl^eit unb feine ©rgänjung. 3n ber
„3[ntl^ologie" beö jugenbtid^en ©dritter finbet fid^
ein ©prud^ (ber nid^t t)on bem Herausgeber felbft
33
^errul^rt), loorin Älopfiod unb SBiclanb afe bic
SHd^ter bcö Scnfettö unb SJicöfeitd erfd^cincn. 2)cr
Scrfaffcr beö ©pigrammä fal^ bic ©d^attcnriffc beiber
dox fid^, bcn S)i(ä^tcr beö 3Jleffiaä rcd^tö, bcn bcö
Dberon Hnfä, unb fein ©prud^ lautete: „©ewijs!
bin id^ nur über'm ©trome brüben, geroife n)iB id^
ben anann jur Siedeten lieben, bann erft fd^rieb
biefer 3Jiann für mid^. gür aJlenfd^en l^at ber
linfe 3Jiann g^f ^rieben, il^n barf aud^ unfer einer
lieben, fomm, linfer 3Rann! 3d^ füffe 3)id^!"
Unter ben freien 2)id^tern, bie Älopfiodf un^
mittelbar t)oran9in9en , mad^ten fid^ geroiffe Se^
flrebungen geltenb, bie im kleinen auf baä grofee
3iel unferer poetifd^en Sieformation l^inroiefen: bie
SEBiebergeburt ber beutfd^en 2)id^tung, bie Befreiung
oon ber fremblänbifd^en SRenaiffance. ailan ^atte
fd^on bie ©ntbedfung gemad^t, bafe bie 3)id^ter beö
9lltertl^um§ nid^t btoö unfere ©d^ulmeifter unb ge-
roid^tigen SSorbilber, fonbern 3Renfd^en wie wir
Rnb, bie fid^ ber SBelt unb be§ 2)afeinä erfreut,
bie greuben ber Siebe unb beö SBeinö erlebt unb
befungen l^aben, bafe bie ©ebid^te beö ißoraj unb
Slnafreon nid^t btoö oorl^anben finb, um überfefet
unb ejercirt, fonbern genoffen, ft)mpat{)ifd^ empfun-
34
bcn, mit gleid^geftimmter Suft nad^gcal^mt ju tuet-
ben. 3Kan fül^tt loic fie unb bid^tet barum naä^
ifirer Slrt. 2lfe bcr crfie in biefer Sieil^e unb bct
gü^rcr in biefer SRid^tung erfd^ien gr. iß a gebor n,
ber fid^ mit bem ißoraj befreunbet l^atte, mie
einige jüngere ®id^ter, bie ^aßifd^en ©tubenten
©leim, ®öfe unb Uj, mit bem 9lnafreon. 3)a§
3BieIanb, ate er nod^ ben ©d^roeijem biente, bie
neuen 2lnafreontifer vztte^eti l^at, war ein ironifd^eö
©piet feineö ©d^idffate. S)iefe 5ßoeten- jeigen \xm
bie erfien Keinen 2lnfänge einer beutfd^ empfunbenen,
ifirer ©d^ülerfd^aft entroad^fenbcn Sienaiffance. 3)as
2^1^ema, baö fie erfüllte, fonnte nid^t einfad^er unb
leidster fein: SB ein unb Siebe! ®ö brang nod^
nid^t biö inä Seben, fonbern blieb nur in ber 5ßl^an=
tiiafie ; im Seben fetbft l^ielt man fid^ nüd^tern unb
Don ben (Srfd^ütterungen be§ ®roö unberül^rt. 6ö
roaren nid^t bie Seiben, fonbent nur bie ©d^et^e
ber Siebe, bie in 25erfen fd^äferte unb mit bem
geuer fpiette. ©o lange bie ©eliebte nod^ ©l^loe,
5pi^t)Bi§ ober SJapl^ne t)ie^, waren bie Seiben 2Ber=
t^erö nid^t ju fürd^ten. "iSienn id^ mir ben 3lmW
oorfteHen roiH, mit bem bie ©leim, ©öfe unb Uj
fo oertraut tl^un, benfe id^ mir eine ^ßorjettan^
35
igur naä) bem 3iococogcf(]^ma(fe beä S^xtalttx^.
aber ba§ man mit einigen ©id^tern be§ 2ltter^
tl^umä leben wollte wie mit feinen greunben,
änberte fd^on in etroaä ben unfreien, fd^üteriiaften
ei^arafter unferer Sienaiffance unb trieb in eine
5Hd^tung, beren 3^^ ^ine ben großen 3Ruftern beö
aitertl^ums congeniate Umbilbung unferer 5ßoefie
unb Siteratur fein mufete.
VI.
®iefe ©mpfinbungöart war e§, bie SeffingS
erfte poetifd^e Siegungen gewedt l^at. ®r war nod^
gürftenfd^üler in 3Rei^en, ate ®teim§ „fd^erjtiafte
Sieber" erfd^ienen (1744). ©eine erften poetifd^en
SBerfud^e auö ber ©d^uljeit ftimmten fid^ auf bie
anafreontifd^e 2^onart ; fein aSorbitb war ^ageborn,
ben er in einem S3rief an feinen SBater nod^ im
Saläre 1749 „ben größten S)id^ter ber 3eit" nennt.
@ö ift ein fel^r bemerfenöraert^er unb von S)anjel,
feinem grünblid^ften SBiograpl^en, mit Siedet l^erDor^
gel^obener 3^9/ ^^^ Seffing gleid^ im SBeginn feiner
aufftrebenben ©ntwidflung bie ^poeten be§ ailter-
36
tl^umö nid^t fd^ülcrl^aft erlernen, fonbern rein menfd^-
üd^ empfinben unb genießen witt:
3d^ finge nid^t für ficinc Änabcn,
2)ie t)oUtx Stola iux ©d^ule gel^n
Unb ben Dütb in ^dnben l^aben,
3)cn i^te Setter nid^t öcrflcl^n!
©d^on auf ber Älofterfd^ute nal^m er in bem
' ©tubium ber alten ©id^ter feinen eigenen SBeg;
}u feinem 5ßrit)att)ergnügen laö er bie römifd^en
Suftfpielbid^ter ^tautuö imb J^erenj, nid^t um feine
(Selel^rfamfeit ju bereid^ern, fonbern um SBelt unb
•
3)?enfd^en in ifinen fennen ju lernen, unb nid^tö
reijte feinen poetifd^en Slad^al^mungötrieb fo lebiiaft,
alö Sffierfe biefer 9lrt, weld^e bie 21^orl^eiten ber
3Kenfd^en bramatifd^ erteud^ten. 5ßtautu§ unb 2^erenj
TOaren bamalö feine greube unb feine SBctt , felbft
Äomöbien ju fd^reiben fein erfteö 3Bagni§; er be^
fennt feinem 3Sater, bafe er nad^ bem SRul^m bürjie,
ber beutfd^e 9Jlolifere ju werben. SBie er feine
9lufgabe fa§t, unb weld^e Slid^tung er fofort ouö
eigenftem 2lntriebe erroöl^It, bafür ift baö J^l^ema
feineö erften Suftfpielö, baö er als ©d^üler ent-
worfen l^atte unb afe ©tubent ausführte, ein fel^r
^larafteriftifd^eö S^wöuijs: er n)iB bie ^orl^eit bar-
37
ficllcn, bie er erlebt, aud^ in {id^ fetbfi erlebt
l^atte, bie etnjige, bie il^m bamate auö ber eigenen
ßrfa^ng entgegenfam. 9luä ben „f leinen Änaben",
bie DoDer ©tolj jur ©d^ule gelten, werben grofee
Änaben, bie ©d^ulfüd^fe bleiben «nb ben 2^ertianer=
fiolj in ©elel^rtenbünfel oerroanbeln. 3)a§ Sufifpiel
]^e§ „3)er junge ©elel^rte". ©o erflärt Seffing
felbfi bie ©ntfie^ung biefeö feines erfien bramatif(ä^en
aSerfud^ö, ber auf bie S3ül^ne fam. „3d^ glaube,
bie 3Bal^l beä ©egenftanbeö l^at t)iel baju beige?
tragen, bafe id^ nid^t ganj bamit oerunglüdft bin.
@in junger ©elel^rter roor bie einjige 2lrt t)on
9Jarren, bie mir aud^ bamate fd^on unmöglid^ nn-
befannt fein fonnte. Unter biefem Ungejiefer ouf-
gerood^fen, war eö ein SBunber, bafe id^ meine
erften fatirifd^en Sffiaffen mber boffelbe roanbte?"
Ueberfd^auen wir, ol^ne jebe biograpl^ifd^e 9lu§5
f ül^rlid^f eit , bie nid^t in unfer J^i^ema gel^ört, in
gebrängtejier Äürje ben ©ntroidflungögang Seffingö.
©ein Seben umfajst nur jweiunbfünfjig Saläre. 3n
feinem ©eburtöja^r (1729) erfd^eint ©ottfd^ebd
„Äritifd^e ©id^tfunft", in feinem 3robe§io^r (1781)
Äantö „Äritif ber reinen SBernunft" unb ©d^illerö
crfie§ S^rauerfpiel.
38
3m Saläre 1759 fielet Scffing, ein breijsigiäi^riger
3Jlann, auf bcr bcginncnbcn ^öl^c feiner reforma^
torifd^en SBtrffamfeit, bie in il^rer SBoBfraft mit
einer Steiiie epod^entaiä^enber 3Berfe jwei Sal^rjel^nte
erfüttt (1760—1780). 3n biefer Seit n)irb bie
beutf(ä^e Siteratur umgeiDanbelt. 2Bie mäd^tig unb
gewaltig bie Ärifis xoax, bie Seffing entfd^ieben
l^at, jeigt auf einen einzigen S3ticf ber ©l^arafter
ber itir t)orl^erge]^enben unb ber il^r nad^folgenben
Siteratur. SBor jener ÄrifiS: ©ottfd^eb, ^ageborn,
Älopftocf; nad^ berfetben: Berber, ©oetl^e, ©d^iHer!
3Jlan t)ergleid^e (Sottfd^eb unb Berber, Sage-
born unb ©oetl^e, Ätopftod unb ©dritter!
Seffingö üterarifd^e 9lnfänge, bie nod^ feinen
refomtatorifd^en ßl^arafter l^aben, faBen in bie
Saläre 1746—1752 ; er lebt jroei Saläre ate ©tu^
beut in Seipjig, bann als beginnenber Soumalifl
in SBerlin unb befd^liefet feine afabemifd^en ©tubien
in 3Bittenberg. 3n Seipjig intereffirt il^n om meiften
bad SCl^eater, in 3Bittenberg bie Sibliottief. Unter
feinen literarifd^en 2lnfängen oerftel^en wir feine
erften ©ebid^te, Suftfpiele unb Heineren fritifd^en
gelbjüge, barunter einen, ber fd^on l^inreid^te, il^n
ju einem gefürd^teten 3Jlanne ju mad^en, e§ war
39
bic SBcrnid^tung eines erbärml^en ^orajüberfe^erö,
ber ju ben l^aBif(ä^en SHd^tern getiörte: „SBabemecum
für ^erm ©amuel ®ottt)otb Sänge, 5paftor in Saub^
lingen." 3Bäre Seffing bamalö geftorben, biefe
©(j^rift von einer beifpiellofen ainntutl^ unb gurd^t=
barfeit ber 5ßolemtf würbe il^n überlebt l^aben unb
mü^te im Slnbenfen ber 3la^rodt unDergefetid^ ge-
blieben fein, aber an^ nur biefe nebft einigen
feiner J^rinfUeber unb ©pigrömme.
@ö folgen bie Saläre ber beginnenden Siefor-
mation (1752—1760), bie Seffing in Serlin, Seipjig
unb roieber in SBerlin jubringt. ®ie l^ierl^erge::
l^örigen, bem 2)ur(ä^bru(^ jufirebenben SEBerfe finb:
3Ri§ ©ara ©ampfon,ba§ erfte bürgerlid^e J^rauer-
fpiel in beutf(]^er ©praiä^e, bie neue gabelbid^tung,
bie Slbl^anblungen über bie gabel, ber 5ßl^ilo=
tad, ber SBerfu(ä^ einer neuen gauftbi($tung unb
feine „Siteraturbriefe" aus ben Salären 1759 unb
1760. SBir finb in ber aRitte beö fiebenjä^rigen
Äriegeö, beffen ©(^auplafe Seffing betritt, als er
gegen ®nbe beö 3al^re§ 1760 SBerlin t)erläfet unb
als ©ecretdr beä ©enerate 2;auenfeien nad^ S3re§lau
überfiebelt.
2)ie beiben näi^ften Sal^rjel^nte jeigen il^n auf
40
feiner ^öfie: er vexiebt baö erfte (1760—1770)
in 33re§Iau, SBerlin unb ißamburg, ba§ jtoeite aft
33ibIiotiiefar in 3BoIfenbättcI ; eö xoat bie einjtg(
amtlid^e ©tellimg, bie er gel^abt ^at
3m Saläre be§ ^ubertdburger ^rieben« (1763^
bid^tet er 3Jlinna t)on Sarnl^elm, bie er in Sertir
t)oBenbet unb 1767 t)eröff entüd^t , bann folger
Saofoon (1766), bie Hamburger Dramaturgie
(1768), bie antiquarif d^en »rief e (1768—1769)
bie§ finb bie unfterbüi^en SBerfe feines t)orIefeteti
Sal^rjel^nts. ©leid^jeitig erfd^eint 3BieIanb in feinetr
®tement, Berber in feinen Slnfängen.
3n ber SBolfenbüttler ^ßeriobe oollenbet Seffinc
emitiaSalotti (1772) unbSRat^an benSffieifei
(1779), bem ber „3lnti^®oejc" oorl^erge^t (1778!
unb „bie ©rjiel^ung beö aWenfd^engefd^Ied^tö'
al§ t)oaftänbige§ 2Berf nad^folgt (1780). @ö ift bai
Saiirjel^nt, worin @oet]^e§ ©eftirn bi§ ju feinei
daffif d^en ^öl^e emporfteigt ; in bief er 3rit entftani
®öfe, aSert^er, gauft, ßlamgo, ©tetta, ©gmont
Sp^igenie unb bie 9lnfänge beö S^affo. SQSäl^rent
Seffing ben 3lat^an in feiner legten ©eftalt t)oB
enbet, bid^tet ©oetl^e bie Sptjigenie in i^rer erften :
im folgenben Saläre beginnt er ben 2;affo.
41
VII.
c^effingd xefoxnaioxi^et pataftfer.
3la^hem loir ben 3iift^w^ ^^^ bcutfd^cn Siteratur
unb bic barin cntl^altcnc reformatorifi^e aufgäbe,
bie Seffing t)orfanb, bargelcgt, ben 5ßunft, wo er
einf cfet, befttmmt unb ben ®ntn)i(Hung§gang, ben
er burd^Iäuft, in feinen Umriffen bejeid^net l^aben,
entfielet uns bie grage : weld^ed waren bie Ärdfte,
bie er befifeen unb in'ö g^elb fül^ren mufete,
um jene 2lufgabe ju löfen? Sffiir wollen Seffingö
refomiatorif(^en ©l^arafter bergeftalt ju entwideln
fud^en, bafe unfere 2luöeinanberfefeung mit jebem
©d^ritt tiefer in bie geiftige ^perfönlid^feit be§
SWannes einbringen unb biefelbe in bem ganjen
Umfange il^rer SBermögen burd^meffen foll.
Sebe reformatorif(ä^e 2^at forbert in bem (Sebiet,
m fie erfd^eint, eine SBemeifterung ber t)orl^anbenen
unb l^errfd^enben 33ilbung§juftänbe, bie man ererbt,
erlebt l^aben unb in yxä) tragen muß, um fie über-
mnben unb oerönbern ju fönnen. ^ier gilt bas
42
f auftif(^c 3Bort : ,,SQ3a§ bu ererbt von beinen 3Säterh
l^aft, erwirb es, um e§ ju befi^en!" aWan tnul
unter ber 3Ra(ä^t ber überlieferten SBitbung fiel^en,
um über biefelbc l^inauöjubringen, man mu^ %
felbft im Sfnnerften erneuen, um bie SBelt Derjüngen
unb bas Sitte als etroaä 2luögelebteä t)em)erfen ju
fönnen. 3)ann erft fommt baö anbere fauftifd^c
SBort ju feiner ©eltung: „2)u alt ©erätl^e, bu
mirft ni(^t gebrandet, bu fiel^ft nur l^ier, weil bid&
mein aSater braui^te!" — Sutl^er würbe nie ber
^Reformator geworben fein, ber er mar, märe er
nid^t ein frommer, t)om fird^lid^en ©lauben huxä)^
brungener 9Ilönd^ gemefen. 3d^ mitt gleid^ bie ^n^
menbung auf Seffing mai^en. ©eine 9lufgabe mar
bie Sffiiebergeburt ber beutfd^en Siteratur, bie SSe^
freiung t)on ber überlieferten fremblänbifd^en SRe^
naiffance, t)on ber erlernten, nad^geal^mten, gelefirten
Silbung, t)on ber SBüd^ergelel^rf amf eit unb ber 5ßoefie,
bie im SBud^e ftelit. ®r mu§te biefe ©elel^rfamfeit
befifeen unb jmar in einem ®rabe, ba§ er fie be=
meiftem, ilire f oftbaren ®üter t)om SBattaft, il^ren
frud^tbaren SReid^tl^um t)on ber geleierten SBettet
l^aftigfeit mol^l unterfd^eiben fonnte; er mufete fo
Teid^ fein, um wegwerfen ju bürfen. @ö ift fel^r
43
Wd^t unb barum oöttig toirfungdtos , bic ©ctd^r-
famfcit ju veta^im, wenn man fie nid^t ^at
2)a§ 33ü(]^erftubium, bie geleierten unb pl^tlotogifd^en
Äenntniffe, auögebilbet bi§ ju bem mrtuofcn 5Ber=
mögen, ftd^ in ber 33ü(^em)clt fd^nett unb fidler ju
orienttren, mit einem SBort, alle bie ©igenfd^aften,
bie nid^t ben geroöl^nlideen , fonbern ben großen
Site rat or mad^en, gel^örten ju bem Siüfijeug,
womit ber 3ieformator, ber Seffing werben foHte,
geroaffnet fein, ju ben Gräften, bie er in'ö gelb
fül)ren mufete. @r ift ein ^elefirter im eminenten
©inne gewefen, in einem erftaunlid^en Umfang unb
mit ber nod^ größeren göl^igfeit, ben erworbenen
SReid^tl^um in jebem 2lugenbtidf, wo es nötl^ig fd^ien,
JU t)eroielfäÖigen. Unfere genialen SJid^ter, bie
nad^ il^m famen, fielen in biefer SÜidffid^t weit
l^inter Seffing jurüdf, fie beburften aud^ eines fold^en
3iüftjeug8 nid^t mel^r. ©elbft ©oetl^e anerlennt in^
einem feiner Urtl^eile über Seffing „bie ungei^eure
ßultur" biefe§ ©id^terd, „gegen bie wir jefet fd^on
wieber SBarbaren finb". 3lo(^ afe ©tubent l^atte
fid^ Seffing eine fold^e Drientirung im gelbe ber
Oelel^rtengefi^idete oerfd^afft, bafe er im ©tanbe war,
bie Siecenfion eines ©elel^rtenleEifonS ju fd^reiben
44
unb bcmfctbcn eine 3Ren9C gciiter unb Unrid^tig^
feiten nad^juroeifen.
@§ wäre biefer gro^e Siterator n^t gewefen^
wenn er nid^tö atö ein geletirter SBielwiffer l^ätte
fein TOoBen. @r la§, um ju erfennen, eingerourjelte
Sirrtl^ümer aufjuftnben unb ju berid^tigen, Älarl^eit
ju fd^affen, n)0 Unftarl^eit unb aSerroirrung l^errfd^te,
rid^tige 3SorfteIIungen an bie ©teile ber falfd^en ya
fefeen. 3)iefen 3ug tl^eitte er mit 5pierre Saple,
beffen l^iftorifd^'fritif(^e§ 3Börterbud^ eine ber erfien
unb reid^ften gunbgruben feiner ©tubien würbe.
3}id^t§ fd^ien il^m ju gering, um gemußt, fein falfd^eö
Urtl^eil JU unbebeutenb, um aufgeflärt ju werben,
©al^er fam feine Suft, „Siettungen", wie er eö
nannte, ju f(^reiben, felbft in gäHen, wo feine
©pmpatl^ien au^er ©piel waren. @r fonnte bie
©d^mäl^fd^rift eines ©imon Semniuö gegen Sutl^er
fo weit entfd^ulbigen, aU er gefunben, baJ5 Sutl^erö
ungereimte unb ge^äffige SBerfotgung ben 3orn bed
ailannes gereijt l^atte ; er t)ertl^eibigte ben 6od^Iäu§
gegen ben fatfi^en aSorwurf, ba^ ein unbegrünbeter
unb nad^mafe oft wieberl^olter Stngriff wiber Sutl^erS
45
SlblaPreit oon il^m ausgegangen fei ; er wollte ein
3Ki§oerftQnbni§ ni(ä^t befleißen laffen , weld^eö bem
^ieronpmuö ßarbanuö Dorroarf, in einer feiner
©(ä^riften bie (ä^riftlid^e SReligion l^erabgeraürbigt ju
l^aben. ^anbelte eö fid^ aber um einen gried^ifd^en
ober römifd^en ©td^ter, ben er liebte, um ben
€l^arafter beö ^oraj wiber falfd^e Sefd^ulbigungen,
ober um bie ©ebid^te beö ^oraj unb ^l^eofrit gegen=
über ben elenben Ueberfefeungen ber Sänge unb
fiieberfül^n, fo, fam, wie namentlid^ in ben beiben
'legten gäHen, ju ber Suft ber SRettung ber S^ni,
ber fld^ t)ernid^tenb ausliefe. „3n Slnfel^ung ber
alten ©d^riftfteHer," fd^rieb er gelegenttid^ einem
greunbe, „bin id^ ein realerer irrenber SRitter, bie
©alle läuft mir gleid^ über, toenn id^ fel^e, bafe
man fie fo jämmerlid^ mi^anbelt." — 3Kan l^at
e^ neuerbingö unferem Seffing in ^Rettungen l^ie
unb ba nad^tl^un wollen unb fid^ babei nid^t feiten
in ben Dbjecten unb in ber 3Jletl^obe t)ergriffen.
^en 3Slof)xm rettet man nid^t, menn man il^n meife
mäfd^ty unb ben 2^iberiuö unb 9lero nid^t, menn
tnan fie tugenbl^aft mad^t. S)iefe Slrt ju retten
erinnert an unwirf f ameö %kdvDa^ex ; eö fielet f o an^,
ate ob bie gledfen oerfd^munben mären unb nad^
fünf aWinuten finb fic toicber ba! Sei Scffingö
^Rettungen l^anbclt cö fid^ nie um ben ©ffect eim
Äunftftüdf eö ober eine tl^eatralifd^e Slenbung, fonbem
bloö um bie ©ad^e ber SEBal^rl^eit.
3. fer Kritiker.
®iefe SEBal^rl^eitöIufi , biefer offene unb l^eEe
SBerftanb, ber bie ©inge in il^rem eigenen ßid^t, in
il^rer nattirlid^en Sefd^affen^eit ju feigen begel^rt
unb fielet, biefer „©eierblidf", toie SBofe eö nannte,
maä)t auö bem Siterator ben pl^ilofopl^ifd^en Äopf,
ben grojgen für ade B^ten oorbilblid^en Äritifet.
Um unö oon ber fremblänbifd^en, romanifd^en, inö^
befonbere franjöfifd^en SRenaiffance ju befreien, oon
ber Seffing in feinen 3lnfängen felbft abfiängig roat,
muJBten wir roieber unb in einer neuen, oon ber
bisfierigen ganj oerfd^iebenen 3lrt auf bie Duellen
jener gefammten Silbung, baö Slltertl^um felbft unb
feine Driginalroerfe in Äunft unb ^oefie l^ingeroiefen
werben, nid^t in SBeife ber ©d^uljud^t unb Rnaben-'
biöcipUn , um ate „junge ® elel^rte" ju glänjen,
fonbem um jene SBerfe poetifd^ ju erfennen, in
unferer eigenen ®mpfinbung unb ^^antafie ju er-
leben unb mit bem ©eniuö beö 2lltertl)umö auf
47
gletd^cn guJB ju fommcn. 2Bic cinft ber fird^lid^cn
2^rabition unb bem romanifirten 6f)riftentf|um t)ott
©eiten bcr beutfd^en SWcformation SWcIigion unb
öibel cntgcgengefefet würben, fo toirb jefet jur
SBSicbcrgeburt bcr bcutfd^en ßitcratur ba§ gried^ifd^e
unb römifd^c 3lltcrtl^um felbft ber neulateinifd^en
unb romanifd^en SRenaiffance aU SRorm unb SWd^t-
fd^nur gegenübergefteHt. Unb ba fid^ bie römifd^e
©eificöbilbung auf bie gried^ifd^e grünbet, fo fott
ber beutfd^e ©eift bie fiellenifd^en Driginalroerle
in Äunft unb 5ßoefie auf congeniale 9lrt burd^=
bringen, um mit äl^nlid^en b. ^. eigenften Kräften
fd^affen ju fönnen. ©tatt ber S^rabition foH bie
Duelle, ftatt ber ßopie baö Urbilb, ftatt ber 3lad9^
al&mung baö Original, ftatt ber ©d^ule ber 3Jleifter
gelten. 3)em aWeifter fommt man nur gteid^ burd^
eigene 9Reifterfd^aft, bem Originale nur bann, menn
man felbft original wirb ober ift. Sie ganje aBelt^^
cultur ber SRenaiffance ift auf biefeö 3^^^ angelegt
unb mürbe nid^t ben Slamen ber l^umaniftifd^en
©rjiel^ung unb Silbung Derbienen, romn i^re
grüd&te nur im ^reibl^aufe ber ©d^ule gejüd^tet
unb nid&t, mie bie SBerfe ber ©ried^en felbft, am
Saume be§ Sebenö mad^fen unb reifen foHten.
48
3lber mit ben SWittcln einer ererbten unb über^
lieferten Silbung allein läßt fid^ biefeö S^el mä)t
erreid^en; eö finb unabl^ängige, nid^t burd^ Sßep
erbung .gebunbene, fonbem freie unb eigenartige
»laturfräfte beä ©eifteö baju nöt^ig : ein aSolf, baS
fraft feiner ©prad^e unb @ntn)idflung bem röntifd^en
Slltert^unt gegenüber freier unb felbftänbiger bleibt,
ate bie romanifd^en ^Rationen, bie ©rben ber lo-
teinifd^en ©prad^e unb Silbung. ®arum waren
bie germanifd^en SBölfer unb vor allen baö beutfd^e,
weil eö baö mäd^tigfte ift, berufen, jene SBeltauf^
gäbe ber SRenaiffance ju löfen : mit bem l^eHenifd^en
(Seift eine eigenartige beutfd^e, von ber tateinifd^en
Xrabition unabl^ängige SSerbinbung einjug^l^en unb
burd^ eine neue Slrt ber Jiad^al^mung, bie aufptt
SRad^al^mung ju fein, bie eigene Originalität ju
befräftigen. 3)ieö ift bie SRad^al^mung, bie SBindfel-
mann unb Seffing t)er!ünbeten, ber SBeg, ben fie
brad^en unb vorangingen, bie unt)ergänglid^e ©eifteö-
tl^at, bie il^ren europäifd^en SRul^m auömad^t. SBad
©injelne mit ^oraj unb 3lnafreon fpielenb unb
tänbelnb Derfud^t l^aben, mit biefen 35id^tern wie
mit greunben ju leben: baö foHte im ^inblidf auf
ba§ gefammte gried^ifd^e 2lltertf)um, auf bie Original-
49
tocrfe bcr ^cffenen in Äunft unb ^ßoefic burd^ eine
tiefe, n)Q]^rf)aft lebenbige unb nad^fd^affenbe ©r-
fenntnife berfelben erfüllt werben, ©leid^ im @in=
gange feiner erften ©(ä^rift erflärte SBindf elntann :
„S)er einjige SBeg für unö, grofe, ja, wenn eö
mögtid^ ift, unnad^al^mlid^ ju werben, ift bie
3Ja(ä^a]^mung ber Sllten, unb roaä jemanb von Corner
gefagt, ba§ berjenige il^n beraunbere, ber i^n rool^t
t)erfte]^en gelernt, gilt aud^ t)on ben Äunftraerfen
ber 9llten, befonberö ber @rie(ä^en. 501 an ntug
mit il^nen, mie mit feinem g^reunbe befannt
geworben fein, um ben Saofoon eben fo unnad^^
al^mlid^ alö ben ^omer ju finben. ^n fold^er ge-
nauen Sefanntfd^aft mirb man n)ie 9li!omad^oä t)on
ber Helena beä S^W^ urtl^eilen : „Jiimm meine
3lugen", fagte er ju einem Unraiffenben, ber baö Silb
tabeln moHte, „fo wirb fie bir eine ©öttin erfd^einen."
®aö 3i^l/ i>Äö wte erreid^en foHten, lägt fid^
mit menigen SBorten auf baö Älarfte erleud^ten.
©oetl^e ift oft unb mit SRed^t eine l^eHenifd^e SRatur
genannt morben, er war eö ol^ne alle ©d^ule
gried^ifd^er @elef)rfam!eit. ©I^afefpeare mar feine
l^eHenifd^e Statur unb fein gried^ifd^ ®elef)rter, aber
burd^ baö ®enie unb bie 3Kad^t feiner ©d^öpfungen
Äuno drif^er, &. Q. Sefjlng. I. ^
ein bcn Sllten ebenbürtiger S)id^ter. ®enn it^
SSerroanbtfd^aft fd^öpferifd^er Staturen ifl aUemal
größer unb ed^ter, afe atte burd^ bie ©d^ule ge-
mad^te unb erfünftelte SCe^nlid^feit.^ S)iefe in bcr
Originalität unb im ©enie begrünbete SSerraanbt-
fd^aft erfannte Seffing unb raieö barum jugleid^ auf
bie 3ttten unb ©l^afefpeare. „®enn ein ©enie !ann
nur an einem ©enie entjünbet merben unb am
leid^teften an fo einem, baö aHeö bloß ber 9latur
ju banfen ju l^aben fd^eint unb burd^ bie mü^fame
SSoHfommenl^eit ber ihmft nid^t abfd^redft." „3la(^
bem Debipuö be§ ©opI^oHeö mu§ in ber SEBelt fein
©tüdE me^r ©eroalt über unfere Seibenfd^aften l^aben,
afe Dtl^eHo, afe König Sear, afe Hamlet u. f. to."
— 2Bir merben ben ©ried^en unb ©l^afefpeare
gleid^fommen, nid^t menn wir fie nad^äffen, fonbem
TOenn wir finb, wie jene waren, b. 1^. votnn wir in
unferer eigenften SCrt bleiben unb barfteHen, maö
wir finb unb erleben. S)aö ift bie Sebeutung bet
nationalen ©id^tung, bie Seffing geforbert unb ge^
leiftet f)at, ber SBeg, ben er bem beutf(ä^en ©eniuö
jeigte ; bief er ift if)m gefolgt „unb auf ber ©pur
ber ©ried^en unb beö Griten ift er bem befferen
SRu^me nad^gefd^ritten".
51
4. §tx i^^r^*
2)ie Unterfd&eibung jmfd&en Driginalrocr! unb
d^oi^mung, jtmfd^en cd^tem unb uned^tcm Äunfl^
i, roal^rem unb falfd^em SBerflänbnife ber Äunfls
j|e ifi bic ©ad^e einer fold^en fritifd^en ©im
t, bie nid^t bei betn ©tubiunt einjelner SEßerfe
en bleiben fann, fonbern notl^roenbig weiter fül^rt.
jt weil bie Äunflwerfe gried^ifd^er ^exinn^ flnb,
m fie unfer Seitjiern fein — bieö wäre Sluto-
tös unb ©d^ulglaube — , fonbern weil fie im
iften ©inne wa^x, b. f), einfad^ unb naturgemäß
. ®iefe ©infid^t, bie ben SBeg ju ben lefeten
irlid^en Duetten fud^t unb nid^t rul^t, biö fie
)edt finb, erleud^tete unferen Seffing unb gab
em fritifd^en ©eift bie SRid^tung: fie beraog il^n
ber franjöfifd^en unb römifd^en "^ahel jur gried^i=
rt, von Safontaine unb 5ßl^äbruö ju „SCefop",
ber franjöfifd^en unb römifd^en 2^ragöbie jiir
d^ifd&en, von ßomeitte unb ©eneca ju ©opfio*
ö, von ber franjöfifd^en Äunftlel^re jür gried^i:^
rt, von ber falfd^ üerftanbenen ^oetif bei^
ftoteleö ju bef[en urfunblid^er Seigre jurüdfjus
m unb biefe in SRüdffid^t ber S^ragöbie au§ bem
52
SEefen ber ©ad^c unb ber yiatux ber menfd^ßci^en
3Iffecte felbft ju begrünben. ©r fa^ fid^ vor bie
ejragc gefteHt : tüorin befleißt bie SRatutToa^r^eit ber
Äunft? ®r tnujgtc ber gad^c auf ben ©ruitb
fotttmen unb baö Äunfitoer! au§ feinen einfad^ften
unb urfprünglid^en Sebingungen, auö ber menf(i^''
lid^en 3Jatur felbft erflären unb entftel^en laffen.
25arin lag bie ^robe ber SRed^nung. 2Bie entfielet bie
%abel, baö ©pigrantm, baö S)rama, bie J^ragöbie?
2Bie unterfd^eibet fid^ bie ^anblung, roeld^e bie
grabet erjäl^It, t)on ber epifd^en unb bramatifd^en?
2Bte unterfd^eiben fid^ fraft ifirer natürüd^en SBe^
bingungen bie bilbenbe unb bid^tenbe Äunft, 9KaIerei
unb ^oefie? S)ieö finb bie g^ragen, bie Seffing,
immer weiter unb tiefer einbringenb, in feinen
3lbf)anblungen über '^ahd unb ©inngebid^t, in feinem
Saofoon unb ber Dramaturgie ju löfen unternal^m,
nid^t etwa burd^ Dorgefd^riebene SWegeln, fonbem fo,
ha^ auö ber ©ntftel^ung be§ SBerfe, b. ^. auö feiner
naturgemäjgen ^robuction, bie Stege! I^eroorging unb
fid^ ergab, wie auö ber ßonftruction beö Äreifeä
bie Definition biefer ©röfee.
Unb nid^t bloö baö ©ebiet ber Äunft unb Äunft^
tel)re ^at um Seffing auf biefem SBBege unb nad^
53
bicfcr 9tt<ä^tf<ä^nur fritifd^ crlcud^tet, i^ii beilegten
aud^ bicrcUgiöfcn unb tl^eologifd^en Probleme,
bie ber ^rcbigeröfol^n auö Äamenj aU t)äterlid^eö
©rbtl^cil in fid^ trug unb bie i^m ftetö roid^tig
geblieben waxffi, SCud^ l^ier trieb i^n fein g^orfd^ung§=
geift nad^ ber Duelle unb bem Urfprunge beö reli=
giöfen fiebenö, bie er jule^t in ben ^Tiefen ber
menfd^Ud^en 5Ratur felbft ergrünben ntufete. @r
l^atte (in ber SBreölauer 3^^0 bie @ntftef)ung ber
Äird^enlel^re in ifiren Duellen, ben Äird^enoätern,
ftubirt, er br'ang weiter biö ju ben erften ©laubenö-
urfunben ber (ä^riftlid^en SWeligion unb fud^te burd^
eine einfädle unb frud^tbare ^gpotl^efe, bie ein
2)enlmal ber g^orfd^ung geblieben ift, bie gefd^id^t-
lic^e ©ntftel^ung ber ©oangelien ju erflären. 3lber
ber ©laube ift frül^er afe bie ®Iaubenöur!unbe, bie
SWeligion früher afe bie Sibel, bie au§ i^r ^eroor*
ge^t, ber religiöfe ©laube früfier afe ber ©d^rift-
glaube, auf bem bie lutl^erifd^e Drt^obojie, afe
il^rem legten g^unbament, ftanb unb ftel^en bleiben
rooHte. ^ier entjünbete fid^ ber ©treit jwifd^en
Seffing unb bem Hamburger 5ßaftor ©oeje. Sa§
alte 2^eftament ift frül^er afe ba§ neue, bie jübifd^e
SReligion frül^er afe bie d^riftlid^e, unb baö religiöfe
54
Sebürfnife her 3Jlenfd^ennatur, bic ungcfd^riebcne
SReligion beö ^erjenö früfier ate bte fd^riftU(i^cn
Dff enbarungöurfunbcn , afä bic gefd^id^tlid^en itnb
pofittocn enormen bcr in bcr SBclt l^crrfd^enbcn
^Religionen. 5Die lefete unb tieffie Jrage tl^at [4
auf: Toorin befielet baö 2Befen ber SReligion unb
i^rer ©efd^id^te? 2Bie Derl^ält fid^ bie SReligion
ju ben Steligionen? Siefefönnen nid^tö anbercs
fein ate bie fortfd^reitenbe 3lu§bi(bung unb ©nt-
Tüidflung ber realeren SReligion, qIö bie allmal^li(i^
fortfd^reitenbe ®rjiel^ung ber aWenfd^l^ett na^ mm
göttli(ä^en SBeltpIan. 5Den ©ebanfen auöjufül^ren,
fd^rieb Seffing eine feiner tieffinnigflen ©d^riften,
bie lefete, bie er l^erauögab: „S)ie ©rjiel^ung
beö 3Kenfd^engefd^led^tö". Um aber ber 2ßelt
in ber ergreifenbften unb populärften g^orm ju
fagen, tüaö er unter SReligion unb religiöfer ©r-
jiel^ung t)erftef)e, betrat er jum legten 3Ral feine
alte Äanjel, baö Stfieater, unb DoHenbete „5Ratf)an
ben aBeifen".
S)er große Siterator unb Äritifer wäre nie ber
^Reformator unferer ^oefie geworben, wäre er nid^t
55
fclbji ein ^oct gcroefen, bcr bic cinbringenbe nnb\
crf(ä^ütternbe Äraft be§ bramatifd^cn SBemtögenä
befafe: ein bramatifd^er Si(ä^ter unb ein 2^l^eater=
bid^ter. ©efeen mv gleid^ ^inju, er tüäre aud^ nie
ber grofee Äritifer gewefen, ol^ne ein fold^er S)id^ter
ju fein, ^iex liegt in Seffingö reformatorifd^er
Sebeutung bas entfd^eibenbe ©eroid^t. SSor il^nt
eine ^oetif ol^ne ^oefie, ballet eine ol^nmäd^tige,
benn bie ©id^tung entfielet nid^t auö Siegeln unb
fommt nid^t auö Sudlern; vox il^nt eine 5ßoefie,
aber tl^eife eine geringfügige unb nur in ber Ileinen
SBelt einl^eimifd^e, bie fid^ in Siebem, ^^abeln, (Sr-
jöl^Iungen befriebigen fonnte, tl^eife eine fd^raung^
voüe unb erl^abene, wie Älopftodfs aJlufe, ber aber
bie bramatifd^e Äraft unb ber ©inn für bie refor^
ntatorifd^e Slufgabe unferer Siteratur, bie roal^re
©rfenntnife beffen fel^Ite, waö eine nationale ©id^-
tung leiften f oUte ! 3«^ ^^t^" 3Jlal in Seffing
ergreifen fid^ beibe ^actoren: S)id^tung unb ^ritil,
5ßoefie unb ^oetif; il^r ^robuct ift bie reforma^
torifd^e 2^l^at. 3^r biäl^erigeö SBerl^ältnife wirb von
©runb auö geänbert: bie ^oefle mad^t bie ^oeti!,
baö ©enie mad^t bie SWegel, nid^t umgefel^rt. ®er=
felbe 9Rann ift ©id^ter unb Äritifer jugleid^; er
56
begreift, toaö er t^ut, unb erfüllt, roaö er forbert.
JJie ift bie SBed^felroirlung jroifd^en ©id^tung unb
©infid^t, jroifd^en SBoHbringen unb SBiffen im ©e-
biete ber 5ßoefie intimer unb frud^tbarer geraefen,
alö in biefem einjigen Seffing ; id^ raenigftenö raupte
feinen, ber bei einer fold^en ©emüt^ö- unb ©eifteö^
tiefe fid^ fo biö auf ben ®runb burd^fd^aut l^at,
ate er. Seffing ber Äritifer ift ber fid^ felbft Höre,
einleud^tenbe , fein eigenes ©d^affen DöIIig burd^-
fd^auenbe ©id^ter.
©e^en wir nur, wie feine SBerle, bie poetifd^en
unb Iritifd^en, wed^felfeitig in einanber greifen,
ßrft bie g^abelbid^tung, bann feine Slbl^anblungen
über bie g^abel; erft feine ©inngebid^te , bann bie
Slb^anblung über ba§ Epigramm; erft bie ©ara,
bann feine 33riefe an SRicoIai unb aJlenbetefol^n,
worin er bie jenem 2^rauerfpiel gemäße SBirfung,
baö aJlitleib, ate bie n)al)rl^aft tragifd^e ju begrünben
fud^t; erft bie 3Jlinna t)on 33arnl^elm unb bie in
if)rer älteften g^orm fd^on auögefüfirte ©milia ©alotti,
bann bie Dramaturgie; felbft ber ©ntrourf jum
Jiatl^an ift Diele Sa^re früfier ate bie tl^eologifd^en
kämpfe unb bie fritifd^en Unterfud^ungen über
SReligion unb ß^riftent^um. 2)od^ übte aud^ bie
57
firitif einen wefentlid^en etjeugenben ©inflnJB auf
feine 2)i(i^tun9, benn bie poetifd^e Slufgabe war x^tn
9ön} Aar unb tourbe Don il^m feftgefteHt, ievox
er fte löfie. ©o l^utte er bie SRotl^roenbigfeit beö
iürgerlid^en S^rauerfpiete begrünbet, el^e er in feiner
Sara ba§ erfte beutfd^e Söerf biefer Slrt auöfül^rte;
er l^atte in feinen Siteraturbriefen baö nationale
^rama geforbert, bevor er in ber 9Kinna von Sarn-
l^elm felbft bie ©a(ä^e in§ SBerl fefete; bie jroeite
Bearbeitung ber ®miKa ©alotti folgt ber S)rama=
turgie , bie SBoHenbung beö 5Ratl^an folgt bem
i'®oese.
6. §tr Kritiker urit §i^Ux.
®afe fieffingö bicä^terifcä^e ^bätigfeit vöüxq im
©rleud^tungöfreife feines Serou^tfeinö vor fid^ ging
unb in biefem Sid^te gebie^ , ba§ er t)oIIf ommen
wuJBte, waö er tl^at: barin befielet fein ß^arafter
als ^oet unb jugleicä^ eine ber roefentlid^ften Se-
bingungen jur ©rfüHung feineö reformatorifd^en
Serufs. aBaö ©infid^t unb ^öd^fte ©eiftesKar^eit
einem poetifd^en 2Berfe t)erleif)en !önnen, fam feiner
©id^tung ju ®ute ; maß in ber ©eburt eineö Äunft^
roerfö, in ber fd^affenben ^fiantafie eineö 35id^terö
58
bic ©onnenl^eHc bcr ©rfcnntnife unb SRefleEion nxiji
vextväQt, mufetc il^r f eitlen. SBcnn b^r poetij(|e
©d^öpfungöbrang fo mä(ä^tig ift, bafe er qHc übrigen
©eiftcöDermögen bel^crrf d^t unb • ba§ eigene Sewu^t-
fein foraeit überwältigt, ba§ biefem baö freie unb
unbefangene 3«f^^ß" t)erge]^t; wenn ber Swftanb
be§ ©id^terö jene Segeifterung fein foH, bie man
ben göttlid^en SBal^nfinn genannt l^at: fo l^atte
Seffingg ©id^terfraft eine fold^e ©eraalt nxä)t ©e*
l^ört e§ jum ß^arafter be§ @enie§, bafe feine
SRatur mäd^tiger ifi, aU feine SReflejion, unb feine
©d^öpfungen tiefer entfpringen, aU atteö Seroufet^
fein: fo war Seffing ein fold^eä 35id^tergenie ni(i^t
unb burfte eö nid^t fein ber Slufgabe gegenüber,
bie er löfen foHte. 9?ad^ einem befannten, aus ber
eigenften ©rfal^rung gefd^öpften 9luöfprud^e ©oeti^eä
l^at jebeö geniale ©ebid^t etn)a§ ©unfleß; eö ent-
l^ält, „waö oon 3Renfd^en nid^t gewujgt ober nid^t
bebad^t, burd^ baä Sab^rintl^ ber S3ruft roanbelt in
ber SRad^t". 5Diefeö magifd^e 5Dunfel fe^lt in Sef-
fingö 5Ratur unb feinen SBerfen. 5Riemanb n)u§te
baö beffer, als er felbft, er fannte bie aWad^t beö
©enieö, roufete, baJB SBorbilb unb Siegel aus il^m
l^eroorge^en ; bafe feine SRegel baö ©enie ntad^t,
59
feine baffelbe erfefet, rool^l aber, tüenn es bie e(ä^te
Siegel unb baö rtd^tige Äunftoerftänbmfe ift, bie SBege
beö ©enieö ju erleud^ten unb feine SBerfe bavox
}u fd^üfeen tjermag, fi(ä^ an ber Söal^rl^eit ber
Statur JU t)erfünbigen : ba§ in biefem ©inn felbft
ber weniger geniale 3)i(ä^ter ber beffere fein !ann.
35arum ift e§ eben fo t^örid^t, bem35id^ter bie
Siegel oorjuf d^reiben , ate int Slamen beö ©enieä
affer Siegel ben Ärieg ju erHaren. Seffing l^atte
©ottfd^eb unb beffen ©d^ule vox fid^, ate er begann;
er prte fd^on baö ©efd^rei ber ©türmer unb
oranger, afe er jroanjig Saläre fpäter feine Srama::
turgie fd^rieb. „SBir ^aben, beut öitnmel fei 35anf,
je|t ein ©efd^led^t t)on Äritifem, beren befte Äriti!
barin befielet, äffe Äriti! t)erbäd^tig ju mad^en.
®enie ! ©enie ! fd^reien fie, ba§ ©enie fefet fid^ über
äffe Siegeln ^inraeg! SBas baö ©enie mad^t, ift
Segel! 2)ie Siegeln unterbrüdfen baö ©enie! Site
ob [x^ bas ©enie burd^ etwas in ber SBelt untere
brüdfen liefee! Unb nod^ baju burd^ etraaö, baö,
töie fie felbft geftel^en, auö i^m l^ergeleitet ift.
Slid^t jeber Äunftrid^ter ift ©enie, aber jebeö
©enie ift ein geborener Äunftrid^ter. @ö l^at
bie ^robe affer Siegeln in fid^. ®ö begreift unb
60
bepft unb befolgt nur bie, bie ifim feine ©mpfim
bung in SBorten auöbrücfen."
Unb wie Seffing afe ©id^ter unb Ärittter ^ii)
felbft beurtfieilte unb von ber SBelt beurtlieilt
roiffen wollte, i)at er am ©d^luffe ber S^ramaturgie
in einem Sefenntnils au§gefprod^en, ba§ in feiner
erl^abenen Sefd^eibenlieit bie fogenannten @enie§
nieberf(§lagen unb befd^ämen mülste, wenn fie i^re
2Ber!e mit ben feinigen Dergleid^en. „3^ bin toeber
Sd^aufpieler nod^ ©id^ter. 9Jlan erroeift mir jroor
mand^mal bie 6^re, mid^ für ben tefeteren ju er-
Unntn, aber nur, weil man mid^ t)er!ennt. 3lu§
einigen bramatifd^en aSerfud^en, bie id^ gemad^t
l^abe, follte man nid^t fo freigebig folgern. 9lid^t
jeber, ber ben ^pinfel in bie ^anb nimmt unb
g^arben t)erquiftet, ift ein 3)ialer. ®ie .älteften t)on
jenen aSerfud^en flnb in ben Sauren gefd^rieben, in
roeld^en man Suft unb Seid^tlebigfeit fo gern für
©enie l^ält. 3Ba§ in ben neueren ®rträg{id^e§ ift,
baoon bin id^ mir fel^r betoulst, bajs id^ e§ einjig
unb allein ber Äriti! ju t)erban!en l^abe. 3d^ füllte
bie lebenbige DueHe nid^t in mir, bie burd^ eigene
Äraft fid^ emporarbeitet, bie burd^ eigene Äraft in
fo reid^en, fo frifd^en, fo reinen ©tral^len auffd^ie^t:
iä) mu§ Sltteö burd^ ^xwdroexl unb SRöl^rcu auö
mir l^eraufpreffen. 3(§ würbe fo arm, fo !alt, fo
furjftd^tig fein, menn id^ nid^t einigermajsen gelernt
l^ätte, frembe ©d^äfee befd^eiben ju borgen, an
frembem g^euer mid^ ju märmen unb burd^ bie
©läfer ber £unft mein Sluge ju ftärlen. 3d^ bin ba^
l^er immer befd^ämt unb DerbrielsKd^ geworben, menn
id^ jum $Rad^tIieif ber Äriti! etmaö laö ober l^örte.
Sie foll ba§ (Senie erftidfen unb id^ fd^meid^eüe
mir, etmaö Don il^r ju erl^alten, ba§ bem ©enie
fe^r nal^e fommt. 3d^ bin ein Salimer, ben
eine ©d^möl^fd^rift auf bie Ärüdfe unmöglid^ erbauen
fann."
gaffen mirSlHeö jufammen, um furj ju fagen^
auf meldte Slrt in bem ^Reformator unferer Siteratur
ber fritifd^e Äopf unb ber ©id^ter Dereinigt finb.
®ö ift ber ©tanbpunft ber poetifd^en, probuc=
tioen genialen Äritü, ben Seffing begrünbet
unb in feiner ^ßerfon gleid^fam t)orbilbtid^ Derförpert
l^at: ber Äritif, bie ba§ (Senie nid^t erjeugt, aber
erfennt unb erjiel^t, nid^t mad^t, aber beffer mad^t
unb Dom falfd^en SBege auf ben rid^tigen, von ber
Unnatur jur 5Ratur fül^rt.
„Äeine SWation ^at bie SRegeln beö alten 2)ramaö
62
mel^r t)erlannt, alö bie graitjofen." „^S) wage cö,
liier eine Slcugerung ju tl^un, mag man fic bo(i^
nelimcn, wofür man mll! 9Jlan nenne mir
ba§ ©tüd be§ großen Gorneille, baö iäf
nid^t beffer mad^en moUte. SBaö gilt bie
SBette? ®x)d^ nein, id^ moHte nid^t gern, bajs man
biefe Sleulserung für ^ral^Ierei nelimen lönne. 3Jlan
merfe alfo mol^t, maö id^ Iiinjufe^e: id^ merbe e§
jut)erläffig beffer mad^en unb bod^ lange !ein ßor-
neide fein unb bod^ lange nod^ !ein 3Keifterftä(f
gemad^t l^aben. 3d^ merbe eö jut)erläffig beffer
mad^en unb mir bod^ nur wenig barauf einbilben
bürfen. 3d^ merbe nid^tö get^an Iiaben, ate was
jeber tl^un lann, ber fo feft an ben 2lriftotele§
glaubt, wie id^."
®ö ifi fein 2lutoritätöglaube, auf ben er pod^t;
fonft märe e§ molilfeil, ein Seffing ju fein. Um
an ben 2lriftoteleö ju glauben, wie er, mujs man
ben Slriftoteleö fo oerftanben unb feine Seigre von
ber 2^ragöbie fo auö ber SRatur beglaubigt Iiaben,
wie Seffing moHte, unb baju geliört ni(§t weniger
alö ein fold^er Äritüer unb ein fold^er ©id^ter.
2ln 2lriftotele§ im ©inne Seffingö glauben J^eijst
übcrjeugt fein, bajs niemanb bie SRaturgefefee ber
63
Iragöbic rid^tiger crfannt ^at, ate ber gricd^tfd^e
?^Iofopl^, unb burd^ eine falfd^e Sluffaffung beö
le^teren niemanb fie mel^r vextannt f)at, afä bte
g'ranjofen. 3n ber ©rfenntnils jener ©efefee liegt
ba§ ©etoi^t ber ©ad^e, bie wir im g^ortgange
unferer Betrachtungen an einer fpäteren ©teile
naiver erläutern werben.
7* f er ^tißiflfitlitx.
3lfe Seffing in feiner 35ramaturgie biefe mer!-
loürbigen ©elbftbefenntniffe gab, worin er feine
fritifd^e ©infid^t fo l^od^, fein poetifd^eö ©enie fo
jering anfd^lägt, l^atte er SWinna von Sarnlielm
jebid^tet, unb baö ©tüd l^atte foeben auf bem
C^eater feine ©pod^e gemacht. SBenn er oon bie^
[er 35i(3^tung fagen !onnte: „id^ t)erban!e fie einjig
inb allein ber Äriti!", fo muJBte freilid^ feiner ®in=
'id^t eine Äraft inroo^nen, „bie bem ©enie fel^r
lal^e !am". 3Öir werben biefe Äraft au§ il^rem
ffierfe !ennen lernen, ©o oiel ift getoils, bajs bie
^larl^eit feines (Seifteö nod^ gewaltiger war als bie
jJlad^t ber ©id^tung, bie nad^ bem ©d^iHer'fd^en
ffiort „an^ nie entbedten DucHen" ^en)orbrid^t.
5o mufete ber Äopf befd^affen fein, bem bie beutfd^e
{
Siteralur bte grojse 3)iiffion anoertraut l^atte, fie ju
erneuen, urnjuwanbeln unb il^re Sffiege weit ^inaus
ju erteud^ten. 2in btefer feiner föniglid^en Äraft
einer probuctioen Äritif, einer fruchtbaren erjeugeti-
ben @infi($t, eineö Sid^teö, baö überall, wo eö ^in
f d^eint, Seben • erf ennt, xoedt unb entfaltet, ift Sef-
fing ein unerrei($teö aSorbilb. 3d^ füge ju ber
©d^ilberung feineö reformatorifd^en 6^ara!ter§ ben
legten gug, ber baö 93ilb t)oIIenbet, unb in weld^em
atte Äräfte, bie wir erfannt ^aben, jufammenroirfcn.
2Ba§ ©oet^e im ^inblidf auf bie g^ranjofen oon
aSoltaire gefagt l^at, er fei ber benfbar ^öd^fte
©(^riftfteHer feiner 5Ration, gilt für unfer eigenes
aSolf von Seffing: er ift ber gröjste beutfd^e
Sd^riftfteller.
3n ber Äraft feiner ©d^reibart, bie oottfornmen
SWatur ift unb gar nid^t§ ®rfünftelteö l^at, t)ereinigen
fid^ alle Äräfte, über bie er verfügt. 3?ur wer
biefe aJiittel fämmtlid^ befa^, !onnte im Staube
fein, fo ju f($reiben, wie er. ^at il^m baö magifd^e
35unfel gefel^tt, fo waren il^m bafür alle S<^^^^^
ber Älar^eit üerliel^en, wie feinem jweiten. Seber,
ber für bie SBirfungen einer fotd^en Älarl^eit em^
pfänglid^ ift — wer foHte eö nid^t fein? — mufe.
65
menn er Seffing reben l^ört, ben ©tnbrud l^aben:
es ift bie Äraft felbft! Um ein fotd^er Q^xi^U
ftcHer fein ju tonnen, mu^te Seffing ein fot(§er
Siterator, ein fold^er Hrittfer, ein fold^er ^^ilofop^,
ein fold^er ^^oet fein. 3?ur auö bem fpielenben
Sufammenioirfen aller biefer Kräfte entfielt fein
unnad^al^müd^er ©lil. ®ö ift ni($t genug, ba^ er
txM fo umfaffenbe Selefen^eit, einen fold^en 3tei(§=
tl^um geleierter Äenntniffe, eine fold^e güHe bebeu^
tenber iinb fidlerer aSorftettungen erworben f)at unb
befifet; fie ftel^en t)öllig in feinem ©ienft unb ge=
^ord^en feinem 2Binf, wie bie 2^ruppen bem g^elb-
l^errn; unter ber ^errfd^aft feiner geber orbnen
fid^ bie SBorftettungömaffen, bie er brandet, lei(§t
unb jmangloö, jebe '^iee erf($eint ftet§ an bem
Drt, mo fie i^re Doffe SBirfung t^ut. Seine SJar*
fteffung nimmt ni(§t ben gewöl^nUdeen Sel^rgang,
ber etmaö fertig ©ebad^teö überliefert, fid^ langfam
fortfd^leppt unb ben Sefer mitermübet : er fül^rt unö
ben SBeg ber eigenen ©etbftDerftänbigung unb läjst
unö mitfu($en unb mitpnben, bajs wir bei jebem
©d^ritt unö 'erfrifd^t füllen, wie bei einer J^errlid^en
SBanberung burd^ immer neue 2luöfi($ten ober in
bem belebteften ©efpräd^ burd^ ben frud^tbaren
f
66
SBcd^fel ber Sbccn. ©ein Genien ift ein beftftnbigeö
prüfen, er [teilt fid^ bie eJtage, fud^t unb finbet bie
2lntn)ort, mad^t fid^ bie (Sinwürfe, bie neue fragen
]^ert)orrufen. ®ie Unterfud^ungen, bie er fül^rt,
finb wie baö lebenbigfte ©elbftgefpräd^ ; er brandet
nur bie SRoden ju vetti)txUn, unb e§ entfte^t bct
natürtid^fte Dialog. SJarum war ber Dialog
feine ©tärfe, aud^ im ®rama; nie ift bie Äunfi bcs
3n)iegefprä$ö fo leidet unb natürlid^ geübt toorben,
toie von if)m, ber fid^ mit einer berounberungö-
TOürbigen geinl^eit aller ber ©änge unb unrnUKür-
üd^en SBenbungen beroujst war, bie ber natörlid^e
glufe eines (Sefpräd^ö brandet unb finbet.
2)ie 35eutlid^!eit ber Sbeen Derlangt bie ©d^ärfe
ber (Segenfäfee, bie in ber epigrammatifd^en gorm
fid^ iliren wirffamften 2luöbrudf giebt, unb baö ©pi^
g r a m m war red^t eigentlid^ SeffingS poetif d^e aSir^
tuofität, eö bilbet ben ®runb(§arafter feiner ©ebid^te,
aud^ berjenigen, bie nid^t fo l^eifeen. ©elbft „bie
Äüffe", bie er fid^ wünfd^t, wie bie g^reunbe, für
bie feine Sieber beftimmt finb, werben burd^ Sintis
tiefen befungen. Unb ift baö 3^^K^1> „©eftem
Srüber, !önnt il^r'ö glauben — " nid^t jugleid^ ein
beijsenbeö Epigramm auf ben Xoh unb bie profU
67
tablcn Slcrjtc? ®er S^ob l^alst bie Sebenöluft, aber
gönnt fle bem rocrbenben äJlebiciner! ^6) erinnere
an bie befannten unb treffenben ©pigramnte auf
Voltaire unb ben 3uben 2lbral^am ^irfd^el, auf
®ottfd^eb unb ©d^önaid^, auf Älopftod unb Seffing,
jene 3lntitl^efe, womit bie ©inngebid^te beö leftteren
i^re fiefer begrüisen: „33Ber wirb nid^t einen Ätop^
fiocf loben, bod^ roirb ilin jeber tefen? 5Rein! 3Bir
woHen weniger erl^oben unb fleijsiger gelefen fein!"
Sie Älarl^eit be§ kentern, um in i^rer DoIIen
©tarfe ju mirlen, bebarf ber bilblid^en 2lnfd^auung,
bie unfere ^^antafie mit einer älinüd^en Ueber=
jeugungöfraft ergreift, afe bie t^atfäd^Iid^e ®egen=
wart be§ Dbjectö unfere ©inne. S^iefe, Hare unb
beutlid^c aSorftellungen ju erjeugen, ift bie ©a(§e
beö ^Iiilofopl^en unb Iritifd^en 35en!erö; 2lnfd^au=
ungen unb Silber ju erfinben, weld^e bie 3been
oerWrpern unb un§ in ber fajslid^ften ©rfd^einung
oor Slugen ftetten, ift ein SBer! beö ^oeten. Sef=
fing Dereinigt beibeö. ®r ift in biefer ^Bereinigung
ooHfommen einjig unb unübertroffen. 9Baö er tief^
finnig gebadet unb auf baö Älarfte beriefen l^at,
eben baffelbe t)erftel^t er in ber anfd^aulid^ften gorm
bilblid^ bar jufteffen , in ber einfad^fien unb an-
68
tnutl^igften fabuUftifd^ ju erjäl^len unb feine &'
jäl^lung fo bramatifd^ ju beleben, ba§ wir bie
®inge vor un§ gefd^el^en felien. 33Baö ©dritter in
feinen Äünftlern oon ber 3BQl^rl^eit gefagt l^at:
„S)er 3lnmut^ ©ürtet umgewunben, wirb fie jum
Äinb, bog Äinber fie üerfte^n!" biefeö SSBort ^at
niemanb in l^öl^erem SJJalse unb fiegreid^er erfüßt
afe Seffing. Sin ber beroiefenften 3&af)xi)ext tarn
man nod^ irre werben, aber wer jroeifelt an einer
gabel? 3d^ erroäl^ne nur ein Seifpiel, ba§ größte
unb ben)unberung§n)ürbigfte biefer Slrt. 2)ie um^
ff fict hn unb ftf^wierigen Unterfud^ungen über baö
SSerl^ältnils jn)if($en Jleligion unb Sibel, ©d^rift-
glaube unb Äritif, Drtl^obo^e unb SlufMärung, ba§
Problem unb bie Söfung, um bie eö fid^ l^ier l^an-
belt, erjäl^It Seffing fpielenb unb in jebem 3"9^
treffenb, fo furj unb fo lebenbig al§ möglid^ in
jener unt)ergleid^li(§en „^Parabel", womit er ben
Streit roiber ©oeje eröffnet: ber alte Äönigöpalaft,
an bem ^cti^rl^unberte gebaut ^aben, mit feiner felt^
famen unb regellofen, aber bequemen unb bauer-
l^aften 2lrd^itef tur ; einige ©emäd^er barin, bie vor-
nel^mften, von oben erteud^tet, bie alten (Srunbriffe,
bie Dermeintlid^en 3(rd^iteftur!enner, bie jebe Seiend^-
69
tung ber Orunbrtffe für 3Jlorbbrennerei ausgeben ;
i>a entfielet plöfetid^ um 3Jlitterna(§t geuerlärm, jene
^ermeintltd^en Äenner benfen nid^t an bie SRettung
beö 5palafte§, nur an bie ber ©runbriffe, laufen
bamit auf bie ©trajse unb fud^en ftreitenb auf bem
Rapier bie ©teile, wo ber ^pataft brennt, ber ju
©runbe gegangen wäre, wenn er gebrannt ^ätte,
aber fie l^atten ein 5Rorblid^t für eine geueröbrunft
gel^alten !
3d^ lüoHte nur an\)enitn^ wie fi(§ in SeffingS
©d^reibart bie SBermögen beö ©pigrammatiften, beö
gabelbid^terö, beö bramatifd^en ^Poeten, beö gelelirten
fritifd^en unb pliitofopl^ifd^en ®en!erö t)ereinigen
mußten, um jenen unoergleid^lid^en ©tiliften ju
erzeugen, ber eben fo muftergiltig bleibt afe un:=
erreid^bar. ©old^e Gräfte, beren jebe burd^ ilire
aSereinigung mit ben anberen gefteigert mirb, finb
berufen ju fämpfen unb polemif(§ ju roirfen:
ba fie fiegreid^ unb ftetö überlegen finb, muffen fie
[ireitluftig fein; fie finb fidlere unb unroiberftel^lid^e
aOSaffen burd^ bie ©ad^e, ber fie bienen, nid^t
J^l^eaterlünfte, bie btenben, wie ©oeje feinem (Segner
Dorwarf. 3n £effing§ 3lntn)ort Iiören wir ben
Sd^riftftetler, ben wir gefd^ilbert Iiaben: „3Bie läd^er=
i
70
lid^, bie ^iefe einer SBunbe nid^t bem fci^arfe^^
fonbem bem blanfen ©d^roerte jufd^reiben! 555i
läd^erlid^ alfo aud^, bie Ueberlegenl^ett, toeld^e t>i
SBal^rl^eit einem (Segner über unö giebt, ein^^
blenbenben ©tile beffelben jufd^reiben! 3(i^ fens^
leinen blenbenben ©til, ber feinen ©lanj nid^t t)01
ber SBal^rl^eit mel^r ober weniger entlel^nt. 2Bal^^
l^eit attein giebt ed^ten ©lanj. 9Kfö von ber, poi
ber 3Ba]^rIieit laffen ©ie un^ reben imb nid^
pom ©tit."
©0 finb wir burd^ Seffing felbfi auf baö ^J^etrti:
jurüdfgeroiefen, t)on bem biefe ©arfieHung feinei
reformatorifd^en Sebeutung in ber beutfd^en 2ite^
ratur ju l^anbeln l^atte. ®enn bie ^erftettung ber
SBal^rl^eit in unferem 2)en!en imb 3)id^ten war bie
Aufgabe unb baö 2Ber! feines &eUM. 3)ie beiben
größeren ©id^ter, bie il^m gefolgt finb, l^aben, ein^
geben! feiner kämpfe unb ©iege, Seffing afe ben
Sld^illeS ber beutfd^en Siteratur gepriefen:
S3ovmal3 im Seben el^vten toiv btd^ tote einen bev (&btttx,
mm bu tobt bift, fo ievvfd^t über hit @etfteT bem (Setfl!
Pinna tr0n ^ütnf^tim.
I.
©ctt ben S^agen ber SRenaiffance galt in ber
Seigre unb StuSäbung ber bramatifd^en 2)id^t!unft
ein Ration ber ®intl^ilung, toonad^ bie 2lrten be§
S)ramaö fid^ wie bie ©tänbe unb SRangftufen ber
nienf(3^Iid^en ©efefffd^aft üerl^alten fottten: g^ürften
unb gelben gehören nur in bie S^ragöbie, bie bürger=
Ii(^e Ätaffe in bie Äomöbie, bie Sauern in ba§
©d^äferfpiel. Sie grojsen ^erfonen ber SEBelt muffen
nad^ ftanbeögemäjser ^oefie emft unb erl^aben, bie
bürgerlid^en Seute fpajsi^aft unb läd^erlid^ erfd^einen ;
bort entl^üHt bie bramatifd^e Äunft l^eroifd^e ^anb=
lungen unb ©d^irffale, l^ier 2^l^or^eiten unb Safter.
aSaö in bem Seben ber g^ürften unb gelben nad^
74
geroölinlid^cr ober nieberer 3Jlcnfd^cnart gcfcä^ici^t/
lomtnt auf ber Sül^ne fo rocnig jum SSorfci^eitt/
als in ber ©tüette ber ^of^ unb ©taatöactioneti ;
toaö in ber bürgerlid^en SBelt ©rgreifenbeö unt>
©rfd^üttembes erlebt wirb, ifi für bie bramatif^e
aKufe nid^t Dor^anben unb finbet im ©piegel ilirer
Äunfi lein Slbbilb. 6ö war nid^t fd^toer ju ent=^
bedfen, ba^ ber Sniialt beö toirfUd^en 2eien^ in ben
fteifen formen einer fold^en Äunft nid^t aufgellt.
3n bem 35afein ber ©rofeen ift nid^t atteö l^ol^er
®mft, wie f d^on ßorneille bemerft l^atte , bie Äönige
fifeen nid^t mit Ärone unb ©cepter am ^ifd^, me
im „gefüefetten Äater"; nod^ weniger befielet baö
bürgerlid^e Seben in einer ©ammlung t^pifd^er
^or^eiten unb Safter. iBo Ratten fid^ jmifd^en
ber wirHid^en SBelt unb ber bramatifd^en Äunfl,
bie il^r ben ©piegel üorl^alten foH, trabitionette
©d^ranJen aufgetl^ürmt, bie ben emften ©mpftn-
bungen unb Gegebenheiten ben ©ingang in baö
Suftfpiel, unb ben bürgerlid^en ©rtebniffen unb
©d^idffalen ben ©ingang in bie S^ragöbie fperrten.
3)iefe ©d^ran!en muffen im Slngefid^te ber neuen
Seit, inöbefonbere bem ©elbftgefül^I beö mobemen,
reid^ entwidf elten , innerlid^ lebenöDoffen SBürger-
75
%ms gegenüber afe unnatürlid^e empfunben toerben
wnb faden. 'S)ie bratnatifd^e 5Poefie xoax ftanbeö^
S^mäg, fie foll menf d^Ud^ toerben | ber britte ©tanb
forberte feine ©leid^bered^tigung erft auf ber Saline,
bann im ©taat: bie poetifd^e 3let)olution xoax eine
SSorläuferin ber poHtifd^en!
S)urd^ bie SBegräuntung jener ©d^ranJen bilben
fid^ jroei neue, ben B^^bebürfniffen entfpred^enbe,
barum jeitgemäfee formen beö S)ramaö. 2)ie
Äomöbie nimmt ernfte unb ergreifenbe ^Begeben-
l^eiten, bie SIragöbie bürgerlid^e @rlebniffe unb
©d^idffale In fid^ auf ; fo entfielet bort „baö rttl^renbe
Sujlfpiel", njeld^eö bie ©egner baö roeinerlid^e
(comique larmoyant), ©ottfd^eb baö l^eulenbe
nannten, l^ier „baö bürgerlid^e Si^rauerfpiel":
jened l^aben bie granjofen, namentlid^ SJioelle be
la (S^auff^e, biefeö bie @nglänber, junäd^ft ©eorge
Sitto in feinem „ftaufmann oon Sonbon" (1731)
ausgebitbet, iSBeibe formen l^atte Seffing oor fid^,
ate er feine Stbl^anblungen oon bem meinerüd^en
ober rül^renben Suftfpiele fd^rieb (1754).
, @r felbjl l^ielt ftd^ an bie ©nglänber unb rooHte
ber beutfd^en SBül^ne baö erfte bürgerlid^e ^^rauer::
fpiel geben. 3lber l^ier war eine Umgeftaltung
/"
76
nötl^ig. 2)ag bie biöl^erige ^ragöbie, bie fogenannte
^o^e, ii)xe ß^araftere auf ben ^öl^en ber ©efett-
fd^aft, in dürften unb gelben fud^tc unb i^te
^anblungen in entlegenen S^ten unb Sänbern ge-
fd^el^en Uejs, bamit bie ©r^abenl^eit i^rer $erfonen
nid^t burd^ bie 3lä^e gefd^roäd^t werbe, l^atte ni(|t
blo§ bie trabitioneffe Autorität für fid&, fonbcm
eine geroiffe menfd^Iid^e Sered^tigung. Um %t^
wältige Seibenfd^aften ju l^aben unb auSjulaffcn,
muß man gleid^fam mit ungehemmter Äraft aus^
l)olen unb l^anbeln fönnen, unb baju ift ein weitet,
unbeengter Spielraum not^wenbig, wie il^n bie
©rofeen ber Sffielt burd^ il^ren erl^abenen, ben ge^
wöl^nlid^en ©efefeen entrüdften unb überlegenen Se^
benöjuftanb unmittelbar befifeen. ©ie finb in ber
menfd^lid^en ©efellfd^aft auf ben fiotl^um gefleHt
unb erfd^einen bal^er für bie ^ragöbie wie pri-
t)ilegirt. 3lnberö t)eid^ält e§ fid^ mit ben bürget^
lid^en ^ßerfonen, bie t)on atten ©eiten burd^ ®efe|e
eingefd^ränft, auf ©d^ritt unb ^ritt ©enöbarm unb
^polijei in ber 3la^e l^aben. ^ier werben 9lu§brüd^e
ber Seibenfd^aft unb gewalttl^ätige ^anblungen leidet
ju gemeinen aSerbred^en, bie ber bürgerlichen Suftij
t)erfallen unb beffer in ben ptat)al als auf bie
77
Sül^ne gebrad^t werben, j^n jenem englifd^en ^^rauer^
fpiel, baö Seffing r>or ftd^ l^atte, toirb ein junger
fiaufmann in bie Jlefee einer 33ul^Ierin t)erftridft,
Ju Untl^aten oerfül^rt unb julefet ots 2)ieb unb
iDJörber jum ©algen oerurt^eilt; bieö mad^t aud^
feinen ®ffect, aber nid^t bie erf^üttembe unb er-
^benbe SBirfung, bie nrir tragifd^ empftnben. S)as
mrgertid^e 5trauerfpiel bebarf bal^er eineö ©piel^^
aumeö, ben äujsertid^ beengte Sebenöjuftänbe weniger
infd^ränfen unb t)erfümmern fönnen: es ergreift^,
ie ßonfticte beö ^erjenö, bie rül^renben SBegebem
eiten unb ©d^idfale, bie innerl^atb beö ^aufeö
mb ber gamitie erlebt werben unb um fo mannid^-
attiger finb, um fo fpmpat{)if(^er berüfiren, je reid^er
mb tiefer baß ©emüt^öleben ber 3Bett fid^ entroidfelt
at 2)ie ©türme, bie baö jurüdgejogene ©ebiet
eö ißerjenö unb ber gamilie bewegen, brachte ber
nglifd^e SBud^brudfer ©amuel SRid^arbfon in feinen
Romanen, vox allem in ber ßlariffa, jur Darfteilung
nb eröffnete bamit bie 33al^n jener S)id^tungen,
ie in ber neuen ^eloife unb im SBertl^er il^re
3olIenbung erreid^en foHten.
3n ber Umgeftaltung beö bürgertid^en 2^rauer=
pielö jur gamilientragöbie erfannte Seffing
I
78
feine nä(]^fte Slufoabe: er bid^tete HRtfe ©ota
©ampfon unb vereinigte in biefem ©tüdf (nrie
S)anjel beö 3läi)exen nad^geioiefen) geioiffermafeen
ßitto unb SRid^arbfon, ben Kaufmann vm fionbon
unb bie ßlariffa. 2)ad SBerf würbe in ben erftcn
3Ronaten beö ^ai)xe% 1755 in einem ©artenl^aufe
ju 5Potöbam DoHenbet unb ben 10. 3uli in g^ranl-
fürt alD, aufgefül^rt. ®d mad^te ben Slnfang jur
SR e form be§ 35rama§. 3wwi erfienmal betrat ein
bürgerlid^es ^rauerfpiel bie beutfd^e Saline. Stber
baö ©tü(f felbft fpielte nid^t bloö mit feinen g^iguren
unb SBegebenl^eiten in ©nglanb, fonbem blieb auci^
in ber SBel^anblung unb. Slusfül^rung beö ©toffä,
felbft in ber ©tilifirung ber ß^araftere bergeftalt
t)on feinen aSorbilbern abpngig, baß ein ®nglänber,
ber eö fal^, wetten wollte, e§ fei englifd^en Ur=
fprungö unb nur eine beutfd^e Ueberfeftung. @ö
war nod^ fein nationales S)rama, aud^ fein ge^
lungeneö ftunfhoerf ; man l^at nid^t ß^araftere unb
wol^l motioirte ^anblungen vox fld^, bie ben ®ang
beö ©d^idffate befümmen, fonbem ©ituationen unb
@mpfinbung§arten , beren ©d^ilberungen auf ben
raffinirten ®ffect beö 3Ritleib§ bered^net finb. ©aras
©rmorbung burd^ 3Rarwoob müjste eine %f)at ber
79
Biad^e fein, bie auö bcr ©fcrfud^t folgt, aber bic
^ul^terin ifi nid^t eif crf üd^tig , benn jxc liebt ben
abtrünnigen 3Wann nid^t, fonbem vM xf)n nur
ausbeuten; fte wirb aud^ nid^t burd^ ^abfud^t ge=
trieben, benn eine 3Wörberin, bie i^re Untl^at
rül^menb eingejiel^t, l^at nid^tö ju geroinnen, ^er
tragifd^e Suögang ijl unmotimrt. &)en fo um
begrünbet erfd^eint, baß SWeHefont bie SBul^lerin afe
feine SSenoanbte ber ©ara jufül^rt, rooburd^ allein
jenes tragifd^e @nbe ber lefeteren ermöglid^t wirb.
S)iefen entfd^eibenben ©d^ritt ju motit)iren, l^at ber
©id^ter nid^t einmaf ben ©d^ein eines ©runbeö
aufgeroenbet. 3n eine Sage gebrad^t, worin fie nur
nod^ in ©emutl^ ju gel^ord^en unb nid^tö mel^r ju
forbern l^at, wagt aWariooob eine fold^e Sitte, unb
3Wettefont gewährt fie ol^ne SBeitereö, ,,nad^bem er
einen Slugenblidf nad^gebad^t". 3<ä^ oermutl^e ben
Snl^alt feines oerfd^roiegenen SWonologS. 3d^ muß
es tl^un, benft er, fonft fommt bie Si^ragöbie nid^t
}u ©tanbe. ©o aber mad^t fid^ nid^t bie ^anblung,
fonbem, — um mit Seffing ju reben — ber
Äummel einer SIragöbie!
35ie SBebeutung ber ©ara befd^ränft fid^ auf
bie neue Srt bes S)ramas, bie ^erftettung eines
80
bürgerlid^eitv S^rauerfpiete burd^ bie SBegrdumung
ber ©d^ranJe jtoifd^en ber tragifd^en ©id^tung unb
bem bürgerüd^en Seben, jroifd^en gamitie unb Sül^nc.
Sie ©d^ranfc ju burd^bred^en , bie baö bcutfci^c
ätben unb feine ©egenroart oom 2^^eater trennt,
ift bie Slufgabe, bie fid^ jefet erl^ebt, unb in i^rer
ßöfung Hegt bie entfd^eibenbe Xi)at
II.
Pie §vo^e ^xUhxi^^. Per fteSmiä^nge
^ier aber gab eö fein aSorbitb, worauf man
l^inroeifen, feines, baä man literarifd^ erwerben
lonnte, ober bei bem fid^ eine poetifd^e 2lntei^c
mad^en liejs. 2)aö Original ju unferem nationalen
2)rama mufete in ©eutfd^lanb erlebt werben unb
gegenwärtig fein, wie ber l^eutige 2^ag. 9)ian lann
ber Äunft unb 2)id^tung nationalen 6l)arafter
wünfd^en, aber unmöglich barauö eine Slnweifung
mad^en, bie in jebem beliebigen B^itpunfte, wenn
man nur ernftlid^ woHe, auöjuf ül^ren fei ; nationale
Oefinnung unb Slffecte laffen fid^ ber ^oefie fo
wenig t)orfd^reiben, alö man bem 2)id^ter ratzen
81
fann: „<3ei originell, fei genial; id^ roitt bir fagen,
TDie bu bie ©ad^e anzufangen l^aft." SBenn er
nad^ einer fold^en aSorfd&rift l^anbett, ift er geroi^
baö ©egentl^eit beö Driginafe. Unb wenn bie ^oefie
erfi belel^rt werben ober felbjl ergrübein mu§, roaö
ju tl^un fei, um unfere nationalen @mpfinbungen
ju bewegen, wirb fie fidler ni(^t baö §erj beö
aSolfeö treffen, fonbern auf aUerl^anb ^imgefpinfte
geratl^en, wie Älopftodt, ber 33arben erfanb, too nie
weld^e waren.
S)ent nationalen Umfd^wung ber beutfd^en 2)id^=
tung ntufete eine Umwanblung ber beutfd^en Jlation
felbft Dorauögel^en : eine neue gewaltige B^it, bie
baö morf(^e, in feinen mittelalterlid^en formen er=
fiarrte, t)ont breifeigjäl^rigen Kriege niebergeworfene
9leid^ in feinen ©runbfeften jerftörte unb ben
beutfd^en Staat ber S^funft fd^uf. S)iefe S^it
erfd^ien In bem Stugenblidf, als an^ unferer ®i(^5
tung fein anbereö S^l^ewa blieb, alö nationale, er-
lebte, gegenwärtige ©d^idffale; bie 2lnleil)e, bie
Auffing ju unferem erften bürgerlid^en S^rauerfpiel
bei ben ©nglänbern gewad^t l^atte, war oerbraud^t;
bie neue SJid^tung mußten wir mit unferen eigenen
9Kitteln beftreiten. 2)ie @pod^e, oon ber id^ rebe,
«uno griffet, ®. e. Sejpng. I. 6
82
ift ber fiebenjäl^rigc Ärieg unb ber2:^aten-
rul^m gricbrid^ö beö ©rofeen.
35ie ^^antafte, l^atten bic ©d^roeijcr gcfagt, be^
bürfe neuer, ungemeiner, erhabener SBorftellungen
t)on rounberbarer SBirfung ; bie S^ragöbie naö^ alter
3lrt t)erlan9te erl^abene 5Perfonen, Könige unb
gelben, bie t)on SJatur baö SRed^t unb bie Ärafl
gewaltiger Seibenfd^aften, ^anblungen unb ©d^idf fale
l^aben. "^wn, eine fold^e beiounberungöroürbige
^perfon, ein Äönig unb ^elb, ber felbft nad^ bem
Urtl^eile be§ geinbeö burd^ feine ©nfid^t unb ^at^
fraft wie fein '^xotxitt baö S)iabem geabelt, fie|t
plöfelid^ oor ben 3lugen ber SBelt: er aBein gegen
eine 3Belt in 3Baffen, bie feinen Untergang begel^rt!
2)ie 2^ragöbie ift ba, bie geroaltigfte, bie eö giebt:
„benn ber Ärieg läjst bie Äraft erfd^einen, aUeö
ergebt er jum Ungemeinen, felber bem Steigen
erjeugt er ben 9Wut^!" 3Beld^e ßontrdfte unb
©d^idfaferoed^fel in bem ©ange biefeö Äriegeö, in
bem 2Atn biefeö Äönigö: bie ©iegeöfd^lad^ten x>m
Soroofife, 5prag, SRofebad^, Seut^en unb 3omborf;
bie Unglüdfötage oon Äottin, ^od^fird^ unb ßunerö-
borf ! S)er ©inbrudf feiner perfönlid^en 6rl)abenl^eit
unb ^elbenfraft ift mäd^tiger alö bie politifd^e
'
83
^^rtci^mmung. SBenn man nid^t preufeifd^ gcfinnt
^% hm man bod^ „frifeif(^" gefinnt fein.
Siefcr Äönig war ber beutfd^en Literatur unb
^^tung von ®runb an^ abgeneigt unb ift eö fein
^eben lang geblieben. 9Wag man i^m barauö einen
Vorwurf mad^en, benn bafe er felbft einen Seffing
unb ©oetl^e nid^t ju fd^äfeen mußte unb weniger als
einen 3Bolf unb ©ellert, mar gewiß ein aWangel
an ©infid^t unb ©efd^madf. aber bic Siebe jur
?5oefie mirb in ber Sugenb entfd^ieben, nid^t im
älter. Sfe Äarl Slugufi t)on ©ad^fen-SBeimar jung
loar, fa^ er ben 2)id^ter beö ®öfe unb SBertl^er vov
jtd^. Sllö griebrid^ Äronprinj mar, blühte ©ottfd^eb ;
er l^atte SRed^t, menn er aSoltaire Dorjog. S)od^
war er imSnnerften ein beutfd^er aWann, ©eine
Semunberung für 3Soltaire l^at \i)n nid^t ge^inbert,
bei ©elegenl^elt einer nid^tömürbigen ^anblung bem
l^od^gepriefenen 2)id^ter auf franjöfifd^ bie Sffial^rl^eit
nad^ beutfd^er 3lrt ju fagen: „3d^ fd^reibe biefen
Srief mit bem berben SWenfd^enoerftanb eines
©eutfd^en, ber fagt, ma§ er benft, o^ne jweibeutige
auöbrüdfe unb flaue S3ef d^önigungen , weld^e bie
SBal^rl^eit entftellen." ©eine Sewunberung für bie
franjöfifd^e Siteratur l^at i^n nid^t gel^inbert, bas
84
franjöfifd^c ^cer bei SRo^ad^ ju fd^lagen, unb ^^
Koav hoä) beffer, bajs er bie beutfd^e Siteratur v^^""
od^tet unb bei dio^ha^ sefiegt l^at, ate wenn ^^
utngele^tt gegangen n)äre. ^ux^ bas, n)a3$riebrt<$
roar, ein großer ^etbenfönig, burd^ ben ©nbru-^
feiner ^erfon unb %i)aten, ^at er ber beutf(^ett
Literatur toeit mt^v genügt, alö wenn er fie g^^
pflegt, beja^lt, felbft ftatt franjöfifd^er ©ebid^te
beutfd^e gemad^t unb ber Äarfd^in wel^r ate ixod
%f)akx gefd^enft l^ätte.
35ie ^erjen öffneten fid^ ben ©inbrüdfen einer
]^eroifd;en ©egenroart. Sffield^e ^l^antafie l^ätte anä)
jenem ©inbrudf wiberftel^en fönnen, ben bie ßunbe
von bem ^elbentobe ©d^roerinö in ber ©(^lad^t bei
^rag l^eroorbringen mujste: toie ber linfe glügel
ber ^Preußen ju weid^en beginnt unb ber fiebjig-
lästige gelbwarfd^att bie gal^ne ergreift, oorangel^t
unb bei ben erften ©d^ritten von Äartätfd^en ju
33oben geftredt wirb! ^ören wir nur, weld^en
poetif(^en SBiberl^all ber fiebenjäl^rige Krieg in
tmfrer 2)id^tung fieroorrief, ben „©d^lad^tgef ang"
eineö preufeifd^en ©renabierö na^ bem ©iege von
Soroofift:
85
3BaS l^elfen SBaffen unb ©efd^ü^
3m ungctcd^tcn Ättcg?
(Sott bonnette bei Sotooft^,
Unb unfet toax bet ©ieg!
Unb baö ©iegeöHeb nad^ ber.©(^lad^t twn
^tag mit ber SSer^errlid^ung B^xoexxM:
Söictotia, mit un8 ifl ®ott,
Det flolje gfeinb liegt ba!
Qx liegt, geredet ift unfet @ott,
6t liegt, Sictotia!
3toar unfet Sätet ift nid^t me^t,
3ebod^ et ftatb äl§ ^elb,
Unb fie^t nun unfet ©iegeS'^eet
SBom ^o^en ©tetnenjelt.
@t ging t)otan, bet eble @teig,
SBoa ©Ott unb S}atetlanb !
^tin Qltet Äopf toat !aum fo toei§,
. SIIS iap^tx feine ^anb.
SJlit munttct jugenbUd^ct Ätaft
ßtgtiff et eine gfo^n*
Unb ^ielt fie l§od^ an i^tem ©d^aft,
2)a6 toit fie aQe fal^n.
Unb fagte: „Äinbet, SSetg ^inan!
3luf ©d^onaen unb ©efd^üfe!*
aOßit folgten aUe 3Jlann füt 3Jlann,
(Sefd^toinbet, toie bet $Ii^.
t
5ld&, aber unfct fßaitx fiel,
2)ie gfal^ne fiel auf il^n,
O toeId§ gIotteid^e§ Ißeben^jiel,
©lüdfeliget ©d^toetin!
. SBeld^c natürlid^c ©icgeögeroifel^cit im aSertrauen
auf ben großen Äönig erfüllt bie legten SBorte bcS
Siebes :
Unb toetc^ett fie auf tiefen %a^
2)en xixithtn botauaiel^n,
©0 ftütutc gfticbtid^ erft il^t 5^tag
Unb bann fül^t' unS nod& Söien!
S)er ©renabier, ber biefe Sieber fang, roax
©leim, ber 3lnafreontifer! bie 5tänbeleien waren
Derftuwmt, bie ^elbentl^aten ber 3^it werften beut-
fd^en ^etbengefang. Seffing gab bie beiben Sieber
in eine 3ßitfd^rift unb tiefe bie Sewerfung oorau§^
ge{)en : ,Jie fönnten beibe roeber poetifd^er ' no(i^
friegerifd^er fein, t)ott ber er^abenften ©ebanfen in
bem einfältigften 3luöbru(f." 3lte er ein ^a^v fpäter
(1758) ben aSorberid^t ju ben Ärieg§Iiebern beä
©renabier fd^rieb, wollte er vov allem il^ren natio^
nalen ß{)arafter ernannt unb belierjigt roiffen: fie
finb nid^t nad^ bem aSorbilbe römifd^er ober grie^
d^ifd^er ^id^ter, fie finb preufeifd^. SBie l^atte
man fid^ früfier mit^fold^en aSergleid^ungen gütlid^
87
fictl^an, balb foHte ober toollte einer ber beutfd^e
^ib, balb ber beutfd^e ^oraj, fogar ber beutfd^e
^inbar fein. SJiefer ©renabier, fo urtl^eilte Seffing,
ifi fein beutfd^er iQoraj, fein beutfd^er ^pinbar, nid^t
einmal ein beutfd^er SIprtäuö, benn bie l^eroifd^en
Scjinnungen finb einem Preußen eben fo natürtid^
al§ einem ©partaner!
aWit bem näd^ften Saläre begannen bie Sriefe
iber bie neuefte Siteratur, bie Jlicolai J^erauögab,
mb beren wid^tigfte Seffing in ben Saliren 1759
mb 1760 fd^rieb. 3n biefen ©riefen feilte, bie
eutfd^e Siteratur wäl^renb beö fiebenjäl^rigen Äriegeö
efproc^en werben; man badete fid^ einen Derroun*
eten Dffijier im g^elblager, ber auf biefem Sffiege
on ben geifiigen ©rlebniffen ber ßriegöjeit Äunbe
r^alten fottte. @s toar Seffings ©ebanfe. „3Bie
rid^t/' fagte er, „fann Äteift t)ern)unbet werben,
f ollen bie ©riefe an il^n gerid^tet fein." Äleift
iel in bemfelben Sal^r bei Äuneröborf unb ftarb
en ißelbentob, wie er es gewünfd^t l^atte, benn er
onnte fid^ nic^t tapfer genug fein. „@r wollte
;erben," fagte Seffing, t)on ©d^merj erfd^üttert, wie
r ben 2:ob biefeö 9Jlanneö erful^r, ber ju feinen
iebften greunben gel^örte. 2llö Äleift in fieipjig
(
88
bic Sajaretl^e v^xroalten mußte, roäl^renb er fid^
m^ hex g^elbfd^lad^t fel^nte, l^at xf)n Seffing oft mit
bem Sffiorte Xenopl^onö getröftet: „S)ie tapferfien
aWänner finb aud^ bie mitleibigften." SBenn
i^ mir Äleiftö ®emütl^§art Dergegenmärtige, in ber
fid^ ber 5poet mit bem gelben |t)ereimgte, feine
2^apferfeit, fein 9Jlitleib, feine g^reigebigfeit, bie fid^
aud^ gegen Seffing beroieö, fo jmeifle id^ nid^t, baß
bem leftteren ba§ Silb biefe§ g^reunbeö oorfd^webte,
ate er ben ßl^arafter S^eül^eimö bid^tetc.
IIL
§ntfit^nn% het ^inna von ^axn^etn.
3n bem berüfimteften jener Siteraturbriefe, bem
fiebjel^nten, l^atte Seffing ba§ nationale, oon aller
fremblänbif(^en SRenaiffance freie, ed^t beutfd^e
©rama geforbert unb auf ben ^auft l^ingeroiefen.
2lber bie ©id^tung, loeld^e biefe 3lufgabe löfen fotttc,
mußte fein wie bie f(^idffal§t)olIe ^eit felbft unb
gegenmärtig wie ber ^ag. 5Ulitten unter ben ©in^^
brüdfen be§ fiebenjäl^rigen Krieges, beffen lefete Saläre
Seffing in 33re§lau an ber ©eite beö ®eneral§
S^auenfeien jubrac^te, entflanb „3Kinna oon 33 am-
I
89
|elm"; er bid^tete ben ©ntrourf unmittelbar na(ä^
bem ^rieben t)on ^ubertöburg (15. ^ebruar 1763)
ön einem l^eiteren grül^lingämorgen in einem ^te^^
lauer ©arten, er l^at ba§ ©tüdf in SBerlin unter
ben Slugen feines greunbeö SRamler ausgefül^rt unb
erftim Sa^re 1767 üeröffentlid^t. SIBoaen'roir bie
«ngel^eure Umroanblung, bie ber fiebenjäl^rige Ärieg
in unferer ßiteratur unb SJid^tung l^eroorgtbrad^t
N, an Seffings eigenen 3Berfen erf ennen, fo ift
J^^t§ fpred^enber unb bemerfenöroertl^er, atö biefe
hkt feiner bramatifd^en SJid^tungen : t)or bem
älusbrud^e beö Äriegeö bie empfinbfame ©ara
Sampfon, roäl^renb beffelben ber friegerifd^e 5pi^i=
Iotas, na^ bem 2luSgange 9Jlinna von a3arn=
i^elm!
Jliemanb l^at ben ©influfe jener gemaltigen 3^^
auf unfere ©id^tung rid^tiger unb treffenber gemür=
bigt als ©oetl^e im fiebenten 33u(^e feiner SebenS-
erinnerungen. „SDer erfte malere unb eigentlid^e
SebenSgel^alt fam burd^ g^riebrid^ ben ©roßen unb
bie ^aten bes fiebenjäl^rigen ÄriegeS in bxeb<?utfd^e
5ßoefie. gebe 5lationalbid^tung mu§ fd^alfein obet
fd^al werben, bie nid^t auf bem 9Jlenf(^lid^ften
rul^t, auf ben ©reigrtiffen ber aSölfer unb il^rer
Ritten, toenn bcibe für einen aWann ftel^en."
„®ie ftriegölteber , t)on ®Ieim angefttmmt, it-
l^aupten beäroegen einen fo l^ol^en Siang unter ben
beutfd^en ©ebid^ten, weil fie mit unb in ber ^ai
entfprungen finb unb nod^ überbieö, weil an il^nen
bie gliidtid^e gomt, afe ^ätte fie ein SWitftreitenber
in ben l^öd^ften Slugenblicf en l^eröorgebrad^t, unö bie
t)ott!ommenfte SBirffamfeit empfinben läfet." „6ine«
2BerfeS aber, ber wal^rften Sluögeburt bc3
fiebenjäl^rigen Äriegeö, von t)ott!ommen norb-
beutfd^em SRationalgel^alt, mufe id^ üor attem eJ^ren-
t)ott erroäl^nen: es ift bie erfte aus bem bebeu-
tenben Seben gegriffene S^l^eaterprobuction
t)on fpecififd^ temporärem S^^^tt, bie beö-
wegen aud^ eine nie ju bered^nenbe SSir-
fung tl^at, SDiinna t)on Sarnl^elm." „2)iefe
iprobuction war es, bie ben Slid in eine l^öl^ere,
bebeutenbere SBelt aus ber literarifd^en unb bürget-
lid^en, in weld^er fid^ bie 35i(j^t!unft tnöl^er bewegt
l^atte, glütftid^ eröffnete."
Se.ffing felbft fül^lte, bafe biefe ©id^tung feine,
^^ntfd^eibenbe 2^l^at fei. „3d^ brenne vor Segierbe,"
fd^rieb er ben 20. Stuguft 1764 an SRamler, „bie
lefete ^anb an meine SWinna von 33arnl^elm ju
91
legen. 3d^ l^abe S^nen t)on btefem Suftfpiel nid^tö
jagen fönnen, weil eö nrirfttd^ eins von meinen
legten ^rojecten ift. Söenn es nid^t beffer ate atte
meine Holperigen bramatifd^en ©tüde wirb, fo bin
i^ feft entfd^loffen, mid^ mit bem S^l^eater gar nid^t
tne^r abjngeben." — 3u 1^^^^ Äriegöliebern unb
biefem Suftfpiel, bie ans ber 3^it bes fiebenjäl^rigen
Ärieges unmittelbar ]^ert)orgegangen finb, möd^te id^
ttod^ ein ©ebid^t fügen, eine unferer beften Sattaben,
beten tragifd^e ®rjäl^Iung fid^ von bem ^intergrunbe
beö ooHenbeten Ärieges ftimmungSt)ott abliebt: „@r
loar mit Äönig griebrid^s SWad^t gejogen in bie
$rager ©d^lad^t unb l^atte nid^t gefd^rieben, ob er
gefunb geblieben."
S)ie ©d^idffalswed^fel ber Äriege bewegen nid^t
Bios bie Soofe ber dürften, Staaten nnb SBölfer,
fonbern erfd^üttern auc^ bas ©afein ber ©injelnen
bis in bie fleinften t)erborgenften unb fpurlofen
SBerl^ältniffe, bie ber l^iftorifd^en g^orfd^ung nid^t
mel^r bemerf enswertl^ f d^einen ; aber gerabe in bem
©enrebilb ber ^ßrioatgefd^idfe, bie mitten unter ben
grojsen SBetoeränberungen erlebt werben, erfd^einen
bie 3üge ber 3^^ in einer fo greifbaren unb ein-
bringlid^en gorm, bajs ber ©id^ter, ber biefe ©egen-
roart bramatifd^ foffcn mH, l^ier eine ^Rcngc bcr
frud^tborficn aRotioe ftnbct. ®er fiebcnjal^rtgc Äticg,
ber bic bcutfd^en 33ölfcr}ufiänbe in einen fo gcroot
tigen Stufrul^r brad^te, griff auf mannid^faltigjle
Srt umgeftaltenb in baö 3)Qfein ber gamißen unb
Snbimbuen, unb e§ gingen jäl^e Sebendroanblungcn
QUO il^m l^eroor, beren Äunbe von SRunb ju aJhinb
lief unb fid^ fagenl^aft Derbreitete. 3Ran l^örte Don
einer 3Renge ploftlid^ emporgejHegener, pIöfeHd^ jer^
fiorter ©yifienjen. 3" ben preufeifd&en greibatoil-
Ionen, bie na(S) bem ^rieben entlaffen würben,
TDaren tapfere, burd^ ^riegdtl^aten audgejeid^nete
Dffxjiere, beren fid^ mand&e auö nieberem Stanbe
aufgefd^roungen l^atten unb nun burd^ il^re SJerab- *
fd&iebung lieber in ©unfell^eit unb ©lenb t)erfanfcn.
@in fold^er Dffijier war, wie man fid^ erjal^lte, Dor
ben gelbjügen SRül^lfnappe geroefen unb l^atte fi^
auf bem ©d^lad^tfelbe ben Crben pour le merite
Derbient; er mu^te nad^ feiner 6ntlaffung ben alten
3)ienji roieber auffud^en unb fd^idfte bem Äönige
ben Drben jurüdf, bamit baö gläijjenbe ^ing ni(i&t
befiaubt loerben möge, ©n anberer war jum
©d^miebel^anbroerf jurüdfgefel^rt unb Derleugnete
pd^ bem ©eneral, ber ü^n ^ferbe befd^Iagen fa^
\
93
unb einen tapferen SRittmeifier in il^m wiebcr^
ertttnnte. (Sineö ber merfroürbigjien ©d^idfalc l^atte
ein ungarifcj^er ^ufar erlebt, ber einft in ber ©(ä^lad&t
Sei 3Kottn)ife im Segriff ftanb, ben König gefangen
ju nel^nten; griebrid^ rief il^m ju: „3d^ bin ber
Äönig, gel^' mit mir!" SDer ^ufar gel^orcj^te, trat
in bie ©ienfte beö Äönigö unb brad^te eö in ber
g^olge burd^ feine Xüd^tigfeit biö jum SReiteroberft
unb ©eneral. ©ein SRame l^eifet 5paul Söerner.
3Bir feigen einen ©agenfreiö vor unö, in bem einige
ber 3Slotivt entl^alten finb, bie Seffing in feiner
S)i(3^tung benü|t l^at. ^ S^ettl^eim, ber Selb feined
@tü(Je§, ift ber uerabfd^iebete SRajor eines g^rei^
bataiffonö, fein treuefter greunb unb Äriegöfamerab
ber aSBacJ^tmeifter ^ßaul Söerner. SDie 3Kutter beö
^l^ilofopl^en ©arue wollte von Seffing felbft gel^ört
l^aben, bafe fid^ etwa^ Slel^nlid^eö alö bie ©efd^id^te
feineö ©tüdö in bem S3reölauer ©aftl^aufe jur got=
benen ®anö wirfUd^ jugetragen l^abe.
3Sergegenn)ärtigen mir uns ben ®ang ber S3es
gebenl^eiten ober bie gabel, bie Seffing feinem
Stüd ju ©runbe gelegt; galt il^m bod^ bie ©r-
finbung ber bramatifd^en grabet l^ier, mie über^
l^aupt, für bie mefentlid^fte 3lufgabe bes ©id^terö.
94
IV.
Xz\ß)dm, ein junger reid^er ©beimann für-
Idnbtfd^en ©efd^led^tö, tritt unter bie ^Jal^nen gricb^
rid^ö nid^t auö Siebe jum ftriegöl^anbroer!, beffen
Unmenfd^lid^feiten er t)erabfd^eut, fonbem aus Se^
geifterung für bie 5perfon unb ©ad^e be§ großen
Äönigs, au§ Steigung jur ©efal^r, aus l^od^l^erjiger,
tapfearer ©efinnung. ®r jeid^net fid^ a\x^ unb wirb
3Waior. 3n ben fäd^ftfd^^tl^üringifd^en SBinterquat^
tieren erl^ätt er ben Sefel^l, von ben ©täuben mit
aller Strenge eine l^ol^e ftriegöfteuer einjutreibciv
bie auf feine Sitte im äujserften SKotl^fatt auf ein
geringeres 3Wafe, beffen 3Winimum il^m üorgefi^rie::
ben wirb, fott l^erabgefefet werben bürfen. ®a bie
Stäube unt)ermögenb finb, eine größere ©teuerlaft
ju tragen, gewäl^rt il^nen S^effi^eim bie niebrigfte
gorberung; ba fie aud^ biefe nid^t oottftänbig leifien
fönnen, bedft er aus eigenen SWitteln burd^ einen
SSorfd^ujs t)on 2000 pftolen bie fel^tenbe Summe.
Sei 3eic^nung bes griebens will er feine nod^ auS^
ftel^enbe gorbenmg unter bie ÄriegSfd^ulb auf=
95
nehmen taffen. aRan anerfennt bie Söed^fel, aber
öerbäd^tigt ben Sni^aber, ate ob biefcr jte nicä^t
jegen baaren 33orfd^ufe empfangen, fonbem ate Se^
i)§imn9 ^^fö^ genommen l^abc, bafe er bie Äriegö=
leuer auf baö niebrigfie 3Wafe l^erabgefe|t. ®r ift
er Seftej&ung üerbäd^tig. 3)ie ©eneralfriegöfaffe
)tt bie ©ad^e genau unterfud^en, unb beuor fie im
leinen ift, barf S^ettl^eim, burd^ fd^riftlid^eö ©l^ren^
ort gebunben, bie ^auptftabt nid^t t)erlaffen. ®r
prt unter bie t)ielen Offeriere, bie nad^ bem
neben entbel^rlid^ geworben unb t)erabfd^iebet finb.
ne ©d^u^munbe l^at il^m ben redeten 2lrm getäl^mt;
n SBermögen ifi verlöten, feine ®l^re gefränft,
j ©ienerfd^aar t)erf d^wunben , bie ben reid^en
ann frül^er umgeben: Äammerbiener , Säger,
itfd^er unb Säufer; ber erfte l^at fid^ mit ber
jrberobe be§ ^exxn au§ bem ©taube gemad^t,
c jweite ift mit bem leiten Sieitpferbe auf unb
Don geritten, ber Säger farrt in ©panbau, weil
(golbaten jur ©efertion vexieitet I)at, unb ber
ufer ift ate 5Erommelfd^läger in ein ©arnifon-
jiment geftedEt worben, weil er ben SJJiajor betrogen
b bie nid^töTOürbigften ©treidle begangen. 5Rur
ler, fein SReitfned^t 3uft, ift il^m treu geblieben.
t
3)er tapfere SBad^ttnetfter ^ßaul SB er n er, ber im
Äriege il^m jroeimal baö Seben gerettet, lebt jey
im 33efi6 eines börflicj^en greigutö in feiner SRö^e. Ij
SRad^ fo bitteren ©rfal^rungen erwartet S^eHl^eim in "^
ber aSerborgenl^eit eined berliner ©aftl^aufeö ben
^uögang feiner ©ad^e, um fo ftoljer, je größer fein
@Ienb ift; er f)at [i6) auf feine 9lrt l^eroifd^ gefafet
unb ol^tie ein SBort ber Älage , ol^ne ein 3^^^^"
feiner ©eetenfämpfe bem l^öd^ften ©lüdfe entfagt:
be_m 33efi6 feiner a3raut.
3ene l^od^l^erjige 2:i^at in S^l^üringen l^atte baö
^erj eines jungen Wäbd^enö, einer ber reiben
©rbinnen beö Sanbes t)on ebler 9lb!unft, für %d'
l^eim gewonnen, nod^ beoor fie il^n fannte. Um
ben aJiann ju feigen, ber fo grojsmütl^ig l^anbeln
fonnte, gel^t 3Rinna t)onS3arnl^eIm uneingetaben
in eine ©efellfd^aft, wo fie il^n finbet. ©d^ncll
erfennen fid^ bie beiben, burd^ il^re ®enfart Der-
manbten, burd^ il^re ©emütl^Sart jur fd^önften med^fet
fettigen ©rgänjung beftimmten 5Raturen. ©d^idfjalö-
ooHe Reiten fteigern bie ©efül^le unb befd^teunigen
bie ©ntfd^lüffe. ^eßl^eim ift SUlinnaö S3räutigam,
^ ate er bie tl^üringif d^en Quartiere üerläjst ; ba§
Seid^en il^rer SSerlobung finb jwei einanber üöllig
97
iü^i Sriffantringe. ©cl^nfäd^tig erwarten beibe
btt§ ©nbc be§ Äriegeö, um fid^ Qarii gel^ören ju
fönnen ; enblid^ fd^reibt S^eHl^eim : „®ö. ift grtebe,
unb i($ naivere mid^ ber ©rfüttung metner SBünfd^e."
^löfclid^ t)erfiummen feine 33riefe. SDlonate lang
l^arrt 3Jlinna t)ergebenö auf 5Rad^rid^ten, bann fafet
fte ben f d^netten unb fül^nen ®ntf d^lujs , f elbft i^yt
}u fud^en. Segleitet von il^rem Äammermäbd^en
granjiöfa, ü^rer ©efpielin unb g^reunbin, unb unter
bem ©d^u^e il^reö Dl^eimö, be§ ©rafen S3rud^fatt,
eines fäd^fifd^en, preufeenfeinblid^en ®be(manne§, ber
tt)äl^renb beä Äriegeö in Statien gelebt l^at unb erft
nad^ bem grieben jurüdf gefeiert ift, reift fie nad&
Serlin, wo fie nod^ t)or bem ©rafen eintrifft, ben
ein Keiner SReifeunfatt auf ber legten Station ju-
rüdfgel^alten. $ier fül^rt fie ber S^faH in baffelbe
®aftl^au§, n)o SCeHl^eim mit feinem SDiener Suft in
ärmlii^er Sw^ü^gejogenl^eit lebt. 35er SBirtl^ jum^
„Äönig t)on Spanien" fd^äfct feine ©äfte nur nad^ (
bem ©elbe, unb bie vovm\)mt ®ame mit Kammer-
mäbd^en unb jwei SDienern ift il^m natürli($ mel)r\
toertl^ , ate ber aWajor , ber feit einiger 3^it bie
SRed^nung nid^t me^r bejal^lt ^at. ©eine SEBo^nung
wirb fofort ber SDame eingeräumt unb er felbft,
Äuno gfl|(^er, ®. 6. Sejftng. I. 7
— N
J
98
abroefenb unb ungefragt, in fd^led^tcren SRäutntn
unterge6ra(j^t. 3la^ einer fold^en Sel^artblung vM
S^ettl^eim nid^t einen 3lugenbli(J länger in bem ®ajt
l^aufe bleiben unb läfet, um feine ©li^ulb b^al^lcn
ju f önnen , bur<j^ Swft f ^in lefeteö unb ti^euerfteä
®ut, ben S8erlobungSrinft,_t)erpfdnben, ber nun in
bie fiänbe beö SBirtl^ö gelangt unb Dem gräulein
gezeigt wirb, bie in ber Hoffnung, etwas t)on %t^
l^eim ju erfal^en, [vi) na<ä^ bem Dffijier erfunbigt,
ber (frein)ittig, wie fie glaubt) il^r fein Bi"^'"^
überlaffen. Sei bem Slnblid be§ 3lingeä erfenttt
flinna, bafe jener Dffijier S^eHl^eim felbft. ®ct
Bräutigam ift toiebergefunben, baS erfte^i^l glft^äf-
lid^ erreid^t, aber bei meitem ni(|t ba§ lefete.
Sefet gilt eö, ben ®ntfd^lufe Stettl^eimä ju be^
fiegen, ber bereit ift, jebeö ©lud il^r ju opfern,
jebes Unglüd mit il^r ju tl^eilen, nur nid^t baö
feinige: ein SBettter, ein Ärüppet, ein bef(|ol!ttner,
an feiner @l^re gefränfter SDiann, wie er fei, bürfe
nid^t baran beulen, ber ©emal^l einer Slinna t)on
33arnl^elm ju werben ! Dpfer ju bringen foftet il^m
j^ar nid^tö, Dpfer anjunel^men ift il^m unmöglid^:
Wju ifi er ju ftolj unb ju jartfül^lenb. aSergebens
bietet SWinna atte Ueberrebungöfunft il^rer innigen
99
Siebe, il^rer Haren unb l^citeren ©emütl^öart auf,
um feinen ©inn ju änbern, feine ©d^roermutl^ ju
t)erfd^eu(i^en , il^n ju überjeugen, bajs il^r ganjeäi
©lütf barin beftel^e, fein Unglücf ju tl^eilen, ha^^
feine ftolje ©tttfagung il^r Dualen bereite, bafe au«
gefränitem ©l^rgefül^l er nid^t blo§ il^r ©lüdf jer^
rtöre, fonbern aud^ il^re @l^re t)erle|e. Sebeö il^rer
iBorte rül^rt il^n tief unb läfet il^n feinen SSorfafe
)is jur SBerjweiflung f(j^mer}li($ empfinben, aber
lid^tö t)ermag ben gefaxten ®ntfd^lu§ ju erfd^üttern.
Rur eine günftige SBenbung feines ©d^idfafe fönnte
jelfen: nid^t bie Uo^ SRieberfd^lagung ber @ad^e>
onbern bie el^rent)oIIfte SBieberl^erftettung.
aber beDor biefe SBenbung wirHid^ eintritt, fiegt
DKnna burd^ Sift über S^ettl^eimö ftolje, fd^roer^
nüti^ige unb vette^tte ©ntfagung; fie fennt il^n
jenau unb weijs il^n ju lenfen. SBäre fie nid^t bie
ceid^e, üornel^me, beneibenöroertl^ ©rbin, fonbern
xtm unb t)erlaffen, fo würbe feine 3Jla^t ber SBelt
)iefen 3Wann l^inbem, il^r ©d^idffal ju tl^eilen unb
il^ren Sefife afä l^öd^fteö ®ut }u forbern; er würbe
an ber SBal^rl^eit il^rer Siebe irre werben, xoenn fie
im UnglüdE feine ^anb ablel^nen wottte, wät fie t^
nid^t über fid^ bringen fönne, ein fo grofemütl^igeä
100
Dpfer anjunel^men. Unb boä) würbe bie ©eliebt
nid^tö anbercö tl^un, afe er foeben getl^an ^at
fie mürbe gegen il^n nur biefelbe t)ermeintti(ä^e Sn:
fagungöpPtd^t ju üben fd^einen, bie fein SBer^alte
il^r gegenüber beftimmt. ©ine fold^e 3lrt ber 3Sei
geltung wirb jugleid^ bie J^eilfawfte ftur fein. %t\
f)tm fann über feine ebet gebadete, aber falf
empfunbene ^anblungöweife nid^t fd^netter ur
grünblid^er aufgeflärt werben, ate wenn SWinr
ben weiblid^en S^elll^eim fpielt. Sie ift ni(
mel^r bie gute ^Partie, fonbern ein armes, von il^re
preufeenfeinbüd^en Dl^eim um il^rer Siebe will
enterbtes aWäbd^en, ein t)erlaufeneö fäd^fifd^es grä
lein, ba§ ju il^rem Bräutigam Piel^t, um in fein
Slrmen ©d^ufe unb ^eimatl^ ju fud^en. Unb di
bief em Sräutigam mufe fie l^ören : es fei nid^l
TOürbig, wenn ein SDknn, ben bas Unglüdf t)erfol(
fid^ nid^t fd^äme, fein ganjes ©tüdf ber blinb
3ärtlid^feit einer grau ju t)erbanfen. ®amit
il^r Urtl^eil gefprod^en: fie müfete ja eine nid^l
ttjürbige ßreatur fein, wenn fie in il^rem ©len
il^r ganzes &lüd t)on ber blinben Särtlid^feit Xe
l^eims annel^men wollte. Sefet fpielt fie bie t
gefränfte, in il^rer SEBürbe beleibigte g^au, fie gic
ü^m bcn SBerlobungöring jurüd unb forbert bei
feinigen. Sn SEßal^rl^eit ift e§ ber von il^m t)er=
pfanbete, t)on il^r eingelöfte 9Hng, bcn fic il^m
töicbcrgicbt, inbem jte \f)n jurücf forbert : fie erneuert
ben ßiebeöbunb, wäl^renb fie tl^ut, ate ob fie ii)n
ouflöfe. ©eine Sitten unb Setl^euerungen bleiben
frud^tloö. ©in fönigli($eö ^anbfd^reiben bringt il^m
bie el^renoottfte SBieberl^erftellung. S)er gereifte
fiönig gewdl^rt il^m eine ©enugtl^uung , bie nid^t
größer fein fann, er roünfd^t au^ feine S)ienfte
lüieber: „S<ä& möd^te nicj^t gern einen SWann ©urer
Sraüour unb ®enfung§art entbel^ren." SDlit greu=
ben roitt er bie glänjenbe militärifi^e Saufbal^n, bie
pd^ t)or il^m eröffnet, für bie ©eliebte aufgeben,
aber fie barf, feinem SBorbilbe gemäfe, fein f öliges
Dpfer annel^men unb befielet auf ber SRüdfgabe
feines SKngeö. ^effl^eim ift fo benommen unb fo
gerabfinnig, ba§ er ba§ Spiel mit bem SHnge nid^t
merft unb feinen ber SEBinfe t)erfiel^t, bie il^n auf
bie ©pur bringen motten. 9Bie er erfäl^rt, ba§
ber Derpfänbete unb jurtidfgeforberte SRing bereits
burd^ 5IRinna eingelöft fei, glaubt er, fie l^abe ein.
graufames unb argliftigeö ©piel mit il^m getrieben/,
ben Sru($ gemofft unb barum ben SRing an fid^^
102
gebrad^t. ®a melbet man bie Slnfunft beö
tid^en Dl^eitns, ben 2^ettl^cim nocS) immer für 91!
\aScrfoIger l^ält. ©eine empörten ©mpfinl^
fd^meigen unb ber ritterli<j^e 9Jlann ift fogleid^ 1
bie t)erlaffene ^rau ju befi^üfeen. „Saffen ©ie il^
lommen! gürd^ten ©ie nid^tö ! 6r foH ©ie mit !
S3lidfe beleibigen bürfen ! ®r l^at e§ mit mir ju t
®ö ifl "beö ©pieleö genug, ©d^nett Höi
affeö auf mit wenigen SBorten. ®ie Sieb
l^aben fid^ jum jmeiten 3Jlale unb für imm(
^funben: ber preufeifd^e SJiajor unb baö fäc
'^ebelfräulein. „D boöl^after ©ngeU" ruft 2:el
„mid^ fo ju quälen!" SWinnaö l^eitere 3lr
erWärt bie l^eilfame SRotte, bie pe gefpielt,
warnt ben geliebten 9Jlann vox einer fold^en 3S
l^olung: „®iefeö jur 5ßrobe, mein lieber ®e
bafe ©ie mir nie einen ©treid^ fpielen fotten,
ba^ id^ Sinnen nid^t gleid^ barauf- roieber
,|piele. ©enfen ©ie, bafe ©ie mid^ nid^t au
quält l^atten?" Unb xüenn S^eHl^eim entgi
„D Äomöbiantinnen , id^ l^ätte eud^ bod^ I
fotten!" fo wirb mit biefem Söort eines ber
tiDe bejeid^net, bie baö ©tüdf ju einem „Suft
gemad^t ^aben.
103
V.
Sn^ nnli lier Ptti^tnui|ler.
SBir l^ben ben ©ang bcr Segebenl^citett er-
jöl^lenb bargefiettt, bamit im tlnterfd^iebc bat)on ber
©ang bcr ^anblung in ber bramatifc^en ßorn^
pofition um fo beffcr cinleud^te. ®afe toiber bctt
33unb ber Siebenben ftd^ in ben ©d^idfalen unb
bem (Sl^arafter Xeffl^eims öinbemiffe erl^oben l^aben,
bie er nid^t überroinben fann unb roeld^e burd^ fie
beftegt werben muffen: barin liegt ber ftnoten
unfereS ®ramaö. ®r ifi gefd^ürjt, fobalb 9Jiinna
il^ren Sräutigam wieber gefunben unb bie Seroeg«
grünbe entberft l^at, bie il^n jur füllen ®ntfagung
genötl^igt. 3)amit ift baö ^Problem entroidelt, weld^eö
bie weitere ^anblung ju löfen l^at. ^n ber Sluö^
einanberfefeung biefeö ^Problems befielet bie ©5-
pofition unfereö 3>rama§, fie bitbet baö S^l^ema
ber beiben erften 9lcte, om ®nbe be§ jroeiten liegt
bie ©ad^ie, um bie es fid^ l^anbelt, bie bramatifd^e
Slufgabe, offen am 2^age, il^re Söfung wirb im
britten vorbereitet, im mexten begonnen unb im
104
fünften t)ottcnbet. ®ic ®inl^ctt ber ^anblung tfl
iinterftü|t burd^ bie bcö Drtö unb ber 3^^^: ber
Drt, n)0 fie t)or ftd^ gel^t, ift baö ^Berliner @aft
l^au§ jum „Äönig von Spanien", bie 3^it ber
22. Sttuguft 1763.
Sefanntlid^ l^at ©oetl^e in ben bciben erfien
Steten unfereö ©tticfeö bie unerreid^te Ännfl be§
5IWotiöirenö bewunbert unb barum bie ©jpofition
ber 3Jlinna von Sarnl^elm, bie er an 3)leifterfd^aft
nur mit ber be§ S^artuffe ju t)ergleid^en raupte, fid^
jum aSorbilbe bienen laffen. SBir wollen biefe
meifterl^afte ©jpofltion ju erleud^ten fud^en, inbem
wir jeigen, weld^e Slufgabe l^ier ju löfen war, unb
wie Seffing biefelbe gelöft l^at.
5IRinna von 33arnl)elm fud^t it)ren Sräutigam,
von bem pe feit SUlonaten nid^tö ntel^r gel^ört, unb
finbet il^n in einem berliner ©aftl^aufe mieber:
bie§ ift bie erfte ju motioirenbe ^anblung. ®a fie
il^n fidler ju finben miffen wirb, wo er aud^ ift, fo
Ijat ber S^^f^tt/ ^^^ f^^ ^^ baffelbe ©aftl^auö fül^rt,
feine weitere bramatifd^e S3ebeutung. 9lber e§ ift
eine fel^r gewagte Situation, bie an fid^ ben 6l^a:=
rafter be§ ßomifd^en trägt, wenn eine ^amt if)xem
abl^anben gefommenen Sräutigam nad^läuft. glitte
105
uns Sefftng eine fold^e läd^erlid^e Segebent)eit vox^
füllten Tooffen, fo fonnte er fein fiuftfpiel bamit
eröffnen; er 'f)at eö nid^t getl^an, fonbern SKinna
vtnt^axn^elm erfi im jtoeiten 2lct auftreten laffen,
nad^bem toir auö bem ©ange beö erften ben 3Kann
il^rer Siebe fennen unb baburd^ oerftel^en gelernt,
bafe fie biö anö ®nbe ber SBelt reifen würbe, um
il^n roieberjufinben. 3ebe 2lrt ber Untreue unb bed-
g^tattergeifteö ifl t)on bem ßl^arafter ^effl^eimö auö=
gefd^Ioffen, eö fonnte nur Unglüdf fein, baö il^n
t)erftummen lie^, ©d^idfateftürme, bie il^n betroffen
l^aben, unb beren Ungemad^ er allein tragen will.
3ene gro§l^erjige ©efinnung, bie ifin t)ermod^t l^at,
in ben Ärieg ju jiel^en im ^ienfte beö erfien ißetben?
f önigö ber 3rit, ift auö ben Äämpfen nod^ geftärfter
unb geftät)Iter t)en)orgegangen. 3n jeber 9lrt ber
©elbftoerleugnung eifern, in jebem SKitgefül^l für
bie fieiben anberer l^ingebenb unb jart, t)ereinigt
S^eHl^eim bie menfd^lid^ fd^önften ©mpfinbungen unb
bie fotbatifd^ tüd^tigfien ®igenf d^aften , ba§ toeid^e
menfd^enfreunbtid^e ^erj unb bie friegerifd^e ^n(f'^r^*'
fo ungefud^t unb einbrudföüoll , ba^ er auf ■', füi^tt
Untergebenen, wenn fie nid^t ganj oerborb t)ornel^me
turen finb , einen untoilHürlid^en 3<Jii6^"^^^^^ '^^t/
106
ber fie mit fd^wärtnerifd^er änJ^ttglid^feit, mit um
bebingter Streue unb Eingebung an feine ^erfon
feffelt.
2)iefen ÜRann fd^ilbem l^eifet aWimiaä ^avi^
lungömcife motimren. @r foH uns bramatifd^ ge?
fd^itbert werben : nid^t fo, ba§ wir il^n etma nur
von anberen rttl^men unb toben l^ören, fonbem fo,
bafe wir aU SÄugenjeugen erfal^ren, wie er ifi unb
l^nbelt. Unb benor mir il^n felbft feigen, Iä§t uns
ber ^id^ter ben einfad^en, gleid^f am elementaren 6in=
brudf feiner ?ßerf on in ber ©eele feines legten Wieners,
einer rollen unoerborbenen SRatur, erleben, ©iefer
©inbrudf foH 3:^elll^eimö bramatifd^er SSorbote fein
unb iugleid^ bem 3ufd^auer bie ©ituation entl^üKen,
momit bie ö^^ttblung beginnt. ®er 9Raj|or ift beö
Slbenbö oorl^er t)on einem 2luögange jurüdfgefel^rt
unb mäl^renb feiner Slbmefenl^eit Don bem l^ab^
gierigen SBirtt) ausquartiert morben; fofort Toexl&^t
er baß ^auö unb campirt bie SWad^t, als ob er
nod^ im g^elbe märe, im g^reien. 3uft märtet im
j|^rtf)öl^au§faale bie ganje SWad^t auf feinen §erm
eine fdU^öd^te am liebfien aud^ nid^t fd^Iafen, er ift
rafter beö*^ ^^^ Empörung unb SRitleib: „SReinen
ab^anben get<^^"^ ^^"^^ ^^^^^^^ ^"f ^^^ ^^^^^
107
H)erfen! 9Kcinen ^errn! fo einen 3Jlann, fo einen
Dffijier! ©inen Dfftiier, wie meinen ißerrn!" 3Bie
xf)n ber ©d^laf übermannt, träumt er ; fein einjiger
©ebanfe ift SRad^e an bem nieberträd^tigen SBirt)^.
583enn er il^n nur prügeln lönnte! 2Bie er träumt,
prügelt er il^n, er fnurrt förmlid^ im ©d^Iaf. 9Jfit
biefem Straum beö Dienerö eröffnet ber 2)id^ter
fein ©tü(f, mit biefen SBorten beö fd^Iafenben ^n\t:
„©d^urfe t)on einem SBirt)^! 2)u, unö? 3^rifd^,
Sruber! ©daläge ju, Sruber!" 2Bie er aufroad^t,
tl^ut eö il^m leib, ba^ ber S^raum nid^t SBirflid^feit
mar. „^^ mad^e fein 2luge ju, fo fd^lage id^ mid^
mit il^m t)erum. ^ätte er nur erft bie ^ätfte von
aßen ben ©dalägen!" 2)er SBirtl^ fann il^n mit
nid^tö begütigen, er l^afet il^n meit mel^r, afe er
fetbft mit nüd^ternem 3Kagen ben beften ©anjiger
liebt; bei jebem ©tafe, baß il^m jener einfd^enft,
benft Suft nur an feinen ißerrn, ber ©d^napö ift
gut: „SBenn id^ l^eud^eln fönnte, mürbe id^ für fo
ma§ l)eud^eln, aber id^ fann nid^t, eö mufe rauö —
©r ift bod^ ein ©robian, ^err SBirtl^!" ©iefer
treue 50lenfd^, rol^ unb plump, mie er ifi, fül^lt
nur für feinen ^erm; er l^afet aud^ bie oornel^me
S)ame, bie bem aJlajor baö 3^^"^^ genommen l^at.
108
er t)erl^ält fid^ ju ^eHI^cim, wie bcr 5ßubct, bem er
baö Seben gerettet, ju it)m: er tann ol^ne feinen
^errn nid^t leben. 2)rafHfd^er unb für bie ^Sor-
fteHimg, bie wir t)on ^eHl^eim geroinnen foHen,
roirffamer fonnte ba§ ©tüd nid^t beginnen.
SBäl^renb fid^ 3uft mit bem 2Birtt)e l^erumjanft,
fommt ber SJfajor. 2Bir flnb auf feine ®rfd^einung
vorbereitet unb finben fie unfrer ©rmartung gemä^:
ein fotd^er ißerr, xok 3uft gefagt l^at, ein fotd^er
Dffijier! ®r gebietet bem Wiener ©d^roeigen, furj
unb ol^ne jebe ©rregung erflärt er bem SBirtl^, ba§
er bejal^lt werben foH unb ba^ er felbft fud^en merbe,
mo anberö unterjufommen. ®ie 500 ^T^ater, bie
il^m ber SBad^tmeifter gebrad^t mit bem SBunfd^,
ba^ er fie {jraud^e, rül^rt er nid^t an; er ift fo
arm, ba^ er aud^ ben legten einjigen 5Diener nid^t
mel^r bejal^len fann unb il^m befiel^tt, feine SRed^^
nung ju fd^reiben.
^a erfd^eint bie SBittroe eineö feiner Äameraben,
beö SRittmeifterö aWarloff, bem ^ett^eim 400 St^ater
getiel^en, unb ber fterbenb feiner g^rau jur ^ßflid^t
gemad^t l^at, biefe ©d^utb ju tilgen. 5Die SBittroe
l^at alleö t)erfauft unb bringt baö ®,elb, um bie
^anbfd^rift einjulöfen. 2'eIIt)eim, felbft im S^^ftönbe
\
109
ber größten 3lf>ii), erläfet nid^t nur bic Sd^ulb,
fonbcm t)erleugnet fie, benn er n)iff bcr %xa\i ben
2)anf fparen unb töeife, ba^ 3KarIoff einen ©ol^n
l^interlaffen l^at. „SBoHen ©ie, ba§ id^ bie uner^
jogene SBaife meines greunbeö beftel^len foff?" ®ie
SBittioc t)erfte]^t feine 2lbfid^t; in ben SBorten, bie
fte enoibert, reben bie er greif enben ©d^idfate bed
Äriegeö: „aSerjeil^en ©ie nur, n)enn id^ nod^ nid^t
ted^t toeife, rou man 2Bol|ttl^aten annefimen mufe."
6ie fann bem ebten 3Kanne, ber baö aSatergefül^l
tiid^t fennt unb in ber ©eele einer 3Kutter empfin^
bet, nid^t rül^renber banf en : „SBol^er roiffen eö benn
aber aud^ ©ie, ba^ eine 3Rutter me^r für ifiren
6ol^n tl)ut, ate fie für if)r eigenes &eben tl^un
würbe ?" — 2Bie fie il^n oertaff en l^at, nimmt S^eff-
l^eim ben ©d^utbfd^ein auö feiner Srufttafd^e, um
il^n ju oemid^ten. ®ieö aUeö gefd^iel^t auf bie
natürlid^fte 3lrt, ol^ne jebe grofemütl^ige SBaHung,
ol^ne jebeö Slufgebot einer ®mpfinbung, bie il^m fetbft
^bel erfd^iene; anberö ju l^anbetn ifl bei feiner 2lrt
unmöglid^. „9lrmeö braoes SBeib! ^ä) mufe nid^t
t)ergeffen, ben Settel ju oernid^teu!" ^iefe Keine
©cene mad^te auf baö ^publicum, bem bie ©d^idf-
fale ber ©otbatenn)ittn)en taufenbfad^ t)or 3lugen
110
ftanben, einen erfd^ütternben ©inbrud. 2Kö 3Rtnna
von Saml^elm jum erften 3Jlat in Serlin aufge-
filiert würbe*), bxaä) in bem t)oIlen ^aufe ein
©turnt beö öeifaHö aus, wie S^eHl^eim bie SBorte
fagte: „Wernes braoeö SEBeib!"
®urd^ bie ©cene mit ber 9Kartoff n>eid^er ge-
ftimntt, empfängt S^elll^eim bie geforberte SRed^nting,
bie 3uft unter 2:i^ränen gefd^rieben. „Qaben ©ie
Sarml^erjigleit mit mir, mein ^err; id^ meife lool^l,
ba§ bie aRenfd^en mit Sinnen feine fiaben, aber id^
l^ätte mir el^er ben Xob, als meinen Sttbfd^ieb oer-
mutl^et." 6r foH ben SRajor oerlaffen, ber il^m
lauter SEBol^lti^aten erliefen, alle Soften feiner
Sranfl^eit bejafilt, feinem abgebrannten unb ge^
plünberten aSater (Selb geliel^en unb pei SSeute^
pferbe gefd^enft l^at; er foH ®elb von ü)m nel^men,
TOäl^renb, alleö gered^net, er melmei^r feinem ^erm
nod^ 91 S^l^aler 16 ©rofd^en 3 ^Pfennige fd^ulbet
®er ^err möge il^n nur in feiner SRäl^e bulben,
loie er ben ^ubel, ben er an^ bem SBaffer gejogen
unb ber il^m nid^t mel^r t)om ßeibe ge^t. „6r fpringt
*) 2)cn 21. 3Jl&r3 1768; fie inu^tc acl^ninal naä^ cin-
anbct toicberl^olt toerbcn.
111
Dor mit l^er unb mad^t mir feine Äünfte unbefol^len
oor. 6ö ifi ein l^äfelid^er ^ubel, aber ein gar ju
guter ^unb." S)iefeö SBort rül^rt SCettl^eimö ißerj,
biefer 2lnöbru(f ber Streue. „SRein, eö giebt feine
oöHigen Unmenfd^en!" fagt er ju fi(^ unb ju bem
Wiener: „3uft, mir bleiben beifammen." ®r be=
fiel^lt il^m ben 3Wng ju oetpfänben, bie SRed^nung
ju jal^len unb feine ©ad^en in baö mol^tfeilfie Ooft^
l^auö, gtwd^mel meld^eö, ju f d^aff en ; J^eHl^eim felbft
benft nur an jmei 2)inge, bie nid^t oergeffen roer^
ben foHen: feine ^iftolen unb „nod^ einö, — nimm
mir aud^ beinen ?ßubel mit, l^örft bu, ^uft!" 2)er
grofee ©d^aufpieler ©d^röber erjäl^lt r>on ®dfl^of:
„®ß lag eine Sffielt t)on 9luöbrudf in feiner Siebe,
roenn er ate 2!ellf)eim bie SEBorte fprad^: ,3limm
mir aud^ beinen ^ubel mit, l|örft bu, Suft!*"
@ö fel|lt in bem Silbe 2!ellf)eimß, baö mir in
bramatifd^er Ausprägung empfangen foHen, btvot
SDlinna oon Sarnl^etm erfd^eint, nod^ ein 3^9-
3Bir glauben bem treuen Suft, bafe eä in ber SEBelt
feinen befferen ^errn giebt; mir emppnben mit ber
SBittme 3Jlarloff, bafe niemanb grofemüt^iger unb
jarter l^anbeln fann, ate S^eH^eim; bem SBirt^
gegenüber ift er ftolj unb furj gebunben; aud^
112
i)aben toir nebenbei bemerfen fönnen, ba§ er für
baö geu)öl^nlid^e ßeben fel^r unpraftifd^ ift: er lägt
feine ^abfeligfeiten in einen anberen ©aftl^of
fd^affen unb fümmert fid^ n)eber um baö ^au^
nod^ bie ©ad^en ; er benft nur an jToei ©inge, bie
il^m nad^träglid^ einfallen unb für feine gegen-
wärtige ßage bie unnüfeeften Jinb: feine 5ßiftoIen
unb Suflö ^ubel! 2Bir rooHen mit biefer Semer-
lung bie ©orgen befd^roid^tigen, bie fi(^ wegen ber
?ßiftoIen einige ®rKärer gemad^t l^aben: ba§ fid^
ber aWann nur nid^t erfd^ie^t! ©orgen, bie eben
fo unnüfe finb, ate für S^eHl^eim felbft in biefem
2lugenblidf bie ^iftolen.
SJamit unö nid^tö t)on ber Äunft beö motim^
renben ©id^terö entgelte, möge an^ baä fleine
©elbftgefpräd^ Suftö, nad^bem i^n S^eHl^eim t)er-
laffen, tooI^I bead^tet werben. SBie f)at eß Seffing
oerftanben, f)ier mit ein paar SBorten baö öaupt=
motit), weli^eö ben Änoten beö S)ramaß bilben foll,
anjubeuten unb ^jugteid^ ben Fortgang ber ißanb-
lung t)orjubereiten. ^w^t ^at t)on feinem ^erm
ben f oftbaren 3iing erl^alten mit bem Sefel^l, i^\\
ju Derpfänben. ®ß mufe mit biefer ßoftbarleit eine
eigene Semanbtnife l^aben, benn S^eUl^eim fagt: „3d^
113
l^ötte nie geglaubt, einen fold^en ©ebraud^ von if)x
ju ntad^en." SWun rounbert fid^ Suft nid^t bloß,
ba§ ber ^err fold^ einen foftbaren SRing be-
fifet, fonbem nod^ über einen anbem Umftanb;
„Unb trug il^n in ber 2^afd^e anftatt am
ginger!" ®ö ift ber SSerlobungßring, ben %e\l^
f)evm nid^t mel^r ate 3^^^^^ ^^ SBerlobung trägt:
fo feft fielet fein ®ntfd^tu§ ber ®ntfagung! Unb
Toaö tl^ut 3uft mit bem Slinge, ben er t)etpfanben
foff? „Sei il^m, bei i^m felbfi miß id^ bid^ vex-
fefeen, fd^öneö 3Wngetd^en! 3d^ meife, er ärgert
ftd^, ba§ bu in feinem ^aufe nid^t ganj foUft t)er=
jel^rt werben !" Äann er ben ©d^urfen von SBirtf)
nid^t prügeln, fo roiH er il^n bod^ ärgern, ©o
f ommt ber 5Hng auf bie natürlid^fte 9lrt ju bem
©afiroirtl^ unb nimmt feinen 2Beg in bie ^anb beß
gräuteinö, bur(^ bie er in bie ^anb 2^eIIf)eimö ju^
rüdEfel^ren foff.
Slber ber 3wö ^^ 3:^eIII^eimö Cl^arafterfd^itbe:^
tung, ber unö nod^ fel^It! ©in fold^er ißerr, ein
fold^er 3Kann, fagt 3uft, ein fotd^er Dffijierl
3Son feiner friegerifd^en 2!üd^tigfeit, oon bem l^elben-
mütl^igen tapfern SKajor, bem SSorbitbe feiner ©ol^
baten in ber ©d^lad^t, werben wir au§ feinem
114
eigenen 3Kunbe feine ©itbe ^ören ; bief en 3w9 tetin
unö toeber fein 5Diener nod^ bie SEBithoe fcineö
Äameraben, fonbern nur ein ©olbat fd^ilbem, ber
unter if)m gebient, il^n gefeiten l^at unb für ben
gelben 2^effl^eim fd^roärmt: 5ßaul SBerner, ber
Iriegötuftige SBad^tmeifter! 3d^ glaube, ber SRann
TOeife, bafe fein SWamenöoetter Dberfi geworben ift;
er fönnte eö aud^ nod^ werben, wenn ber ^ubertö^
burger gerieben nid^t wäre ! Sefet fifet er auf feinem
Bauerngut unb benft nur an ben Ärieg unb ben
aKajor ^elll^eim ; am liebften erjäl^lt er bie 2lff aire
bei ben Äafeenl^äufern, bie Suft f(ä^on fo oft t)on
il^ttt gel^ört l^at, ba^ er bem SBad^tmeifier in bie
SRebe fädt: „©oH id^ bir bie erjäl^ten?" ©eit bem
oermünfd^ten gerieben finb bie Äriegöauöfid^ten in
ber 3läf)e gefd^wunben, aber unfer SBad^tmeifter l^at
bie 3^^tungen ftubirt, natürlid^ nur bie Älriegö^
berid^te, unb getefen, ba^ ber g^ürft t)on ©eorgien
gegen bie 3:^ürlen jiel^en wirb. „®ott fei 3)anf,
ba^ bod^ nod^ irgenbmo in ber 3BeIt Ärieg ifi!" Um
bie @injelnt)eiten fümmert er fid^ nid^t weiter. S)er
^rinj ^eraHiuö <Si^afli) war fd^on ^err t)on
©eorgien unb l^atte fid^ t)on ?ßerfien unabl^dngig
gemad^t; baö l^eifet bei unferem SBad^tmeifter : „er
115
l^at ^ßcrfien toeggenommcn!" Sefet toiH er bie
2^ürfen befrtegen, „bic ?ßforte," toie in ber 3^itwng
ftcl^. 35amit nimmt cö ^aul aSBerner etmaö ju
bu(j^ftäbU(^ unb ctroas ju eilig: „er wirb näd^fter
2^age bie ottomanifd^e Pforte einfprengen!" 3lu(^
über ben ©d^auplafe ift er nid^t genau orientirt;
genug, eö ift Ärieg in weiter JJerne, n)0 ©eograpl^ie
unb ©efd^id^tölunbe be§ 3Bad^tmeifterö aufl^ören.
Ärieg ift fein ®lement, bas er in ^JJerfien fud^t,
loenn er eö in ^preufeen unb ber Umgegenb nid^t
mel^r finbet. ©ein g^reigütd^en l^at er verlauft unb
I)ält fid^ marf d^f ertig ; baö ®etb bringt er feinem
3Ra\ov, ber bamit mad^en fott, xoa^ er miH; baö
SBefte märe, er ginge mit nad^ ^perfien. „Stife!
^er 5ßrinx ^erafliuö mu^ ja rüo^ üon bem SKajor
J^ettl^eim gel^ört l^aben, menn er aud^ fd^on feinen
gcmefenen SEBad^tmeifter ^aul SEBemer nid^t lennt."
35iefeö eine SBort fagt mef)r al§ äffe ßobpreifungen
ber Äriegötfiaten S^effl^eimö. ®ö ift ein feiner voo^U
t^uenber ^uq unfereö Stüdfö, ba^ eö gar nid^tö
t)on folbatifd^en ?ßrat|lereien na(^ 3lrt ber SKaölen-
fomöbie entl^dtt, nid^t einmal bie 3lffaire von ben
Äafeenl^äufern barf ber SBad^tmeifter erjdl^len. Unb
ba^ J^efflieim einer ber tapferften gelben in ber
116
©d^lad^t tüar, glauben loir bem broDen SBcmcr
auf biefcs eine fo nab empfunbene, fo überjeu-
0ungöt)olle SBort: „5Der ^prinj ^eralUuö mu^
ja n)0l^l von bem aRajjor S^elll^eim gefiört
l^aben!" 3i^fet wunbert eö mid^ gar ni6)t me^r,
unb id^ oerftel^e eö nod^ beffer ate juoor, ba§ %eh
l^eim, me er feine ©ad^en aufräumen lä^t, fetbft
an nid^ts benft als an bie Sffiaffen; mag 3uft liegen
laffen, maö er t)ergifet, aber bie 5Piftolen foH er
mitnefimen!
VI.
^er 9luftritt jtoifd^en 3uft unb SBerner ift bie
©d^lufefcene beö erften 9lctß. SBir finb burd^ bie
lebenbigfte bramatifd^e ©d^ilberung über bie Soge
unb ben ßl^arafter 2!elll)eimö oöHig im Älaren unb
TDünfd^en einen ©d^ufeengel l^erbei, ber bem guten,
l^od^l^erjigen, tapferen, unglüdElid^en, in ber ©orge
für fein eigenes SBol)l nad^läffigen unb tl^atlofen
^ann bie l)ülfreid^e ^anb reid^e. ^efet erft erfd^eint
SKinna von Sarnfielm.
S)aö ©efpräd^ jroifd^en il^r unb granjißfa, momit
ber jtoeite Slct beginnt, ift baö SRufter eines Seffing*
117
fd^en ©talogö. ^er 3)id^tcr roax feiner biatogifd^en
Äunft, tüte alleö beffen, toaö er tl^at, fid^ üoHfommen
betoufet; er mad^t einmal bie überrafd^enb wal^re
Semerlung, ba^ bie unmUfürüd^en Silber unb
3ßetapl^ern, bie ein Oefpräd^ lierüorruft, aud^ i^äufig
bie ungefud^ten aJlittel finb, bie eö leidet uitb jtoangloö
fortleiten*). SBerroeilen roir mit bem ^ntereffe
bief er SSeobad^tung einen äugenblidE bei ber ©om^
pofition beö ©efpräd^ö, baö im ®ange unfereö ßuft^
fpielö nn^ tien l)ier begegnet.
3Bie leidet unb natürlid^ fliegt in biefer votib^
lid^en ^lauberei eine SBenbung auö ber anberen,
biö pd^ ber ©ialog gleid^fam in baö ©lement er=
giefet, t)on bem bie ^erjen erfüllt finb ! 3JHnna ift
nad^ einer unrul)igen 9lad^t fel^r frül^ auf geftanben :
„55ie 3rft toirb unö lang werben, g^ranjiöfa!" ©o
beginnt ba§ Oefpräd^. 2Baö ü)x bie Stulpe geftört
^at, mar mol^l nid^t, mie ba§ Äammermäbd^en auö
eigener ©rfal^rung meint, ber näd^tlid^e Särm ber
großen ©tabt, benn baö g^räulein läfet aud^ baö
grül^ftüdE unberül^rt. Um bie Sangemeile ^n x>tx^
*) SBgl. oben bcn 3lbfd^nttt über ^ßcfftngS refortnatorifd^e
SBcbeutung'' : VII. 7. ©. 64.
118
treiben, bemerft nedenb g^ranjiöfa, „tüerben toir uns
pufeen muffen unb baö Äleib t)erfud^en, in roeld^ent
n)ir ben erften ©turnt geben wollen." SBeife fie
hoä), woran il^r g^räulein benft unb worüber jie
am liebften fpred^en möcj^te, ol^ne ben Slnfang ju
mad^en. „SBaö rebeft bu t)on ©türmen, ba iä)
bloö l^ier bin, bie Haltung ber ßapitulation ju
forbern." ißier ift baö 33itb, Iriegerifd^ unb mili-
tärifd^, wie bie 3^^- UnwiHfürtid^ erinnert e§ an
ben Dffijier, ber bem g^räutein fein S^^imer ge^
räumt unb bafür einen t)öflid^en 3)anf empfangen
f)at ^a^ er nid^t fo t)öfti(j^ war, feine Slufwartung
ju mad^en, finbet bie Äammerjjungfer ju tabeln.
2Bir finb fd^on an ber ©teUe, bie baö ©efpröd^
ungefud^t unb fd^neH erreid^en mufete, bad S3ilb
t)om ©türm unb ber ßapitulation t)at gel^olfen;
ber unl^öflid^e Dffijier erinnert an baö 3Rufter beS
@egentt)eife: „®ö finb nid^t ade Dffijiere ^ell^
l^eimö," erwibert 9Jfinna, frol^, ba§ fie t)on il^m
fpred^en fann. „3Kein ^erj fagt mir, ba§ id^ i^n
finben werbe." 9lber baö ißerj, entgegnet eJtanjiöfa,
rebet unö gewaltig gern nad^ bem aWunbe, wäl^renb
fid^ biefer fel^r in 3ld^t nel^men mu^, nad^ bem
^erjen ju reben unb unfere eigenen ©efül^le ober
1J9
flar SSorjüge ju offcnl^erjig barjutl^un. SBo ftnb
wir l^ingerotl^en ? Sßon ber ißoffnung 3JHnnaö
auf einen glüdlid^en äuögang il^rer Steife in eine
TOortfpielenbe ^ßlauberei über ^erj unb aWunb,
wobei bie gefd^eibte unb n)ifeige g^ranjiöfa eine Sleil^e
einfdtte l^at, bie mit ber öemerfung enben: „3Kan
fprid^t feiten t)on ber 2^ugenb, bie man ^at, aber
beflo öfter von ber, bie un^ fefjlt." 2lIIe ifire ®in-
fälle fliegen aus berfelben SBenbung, auö bemfelben
bilblid^en 2luöbru(f, ben aWinnaö frol^eö SEBort:
^.aWein ^erj fagt mir, ba§ id^ il^n finben werbe,"
l^ert)orrief. 2)ie S^ngfer entgegnete: „Das ^erj
rebet unö gewaltig gern nad^ bem 3Kunbe/' Dl^ne
Silb unb aRetapl^er: man glaubt, waö man
n)ttnf(^t. ^ätte fid^ g^anjiöla fo auögebrüdft, fo
waren äße jene ©infätte, bie nur aus bem Silbe
unb ber 3ßetap]^er entfprungen pnb, unmöglid^,
aud^ ber oon ber S^ugenb, bie man um fo weniger
l^at, je mel^r man oon il^r rebet. „©iel^ft bu,
granjisfa!" ruft bas gräulein, „ba l^aft bu eine
fel^r gute 2lnmerfung gemad^t." 3n ber 3lntwort,
bie bas Äammermäbd^en giebt, belel^rt uns ber
®id^ter jugleid^ über biefes fo natürlii^e unb eben
gebrau(^te 3Rittel feiner bialogifd^en Äunft, worauf
120
Toir unferc Scfer J^intoeifcn tooHten: „©emad^t?"
fagt ^raitjiöfa, „ma^t man baß, toaö einem fo
einfättt?"
®ie ganje flüd^tige 5ptauberei über ^ex^ unb
3Wunb war nur eine fd^einbare ©igreffion, womit
baö ©efpräd^ fd^nell unb fpielenb üon ber @r^
mdfinung S^eHfieimö jur ©d^itberung feines ßj^a-
rafterß gelangt ift. „Unb meifet bu," fäl^rt baö
gräulein fort, „marum id^ eigentlid^ biefe 2lnmerfung
f gut finbe ? ©ie l^at üiel Se jiefiung auf meinen
2^eIIfieim. ^reunb unb g^einb fagen, ba§ er ber
tapferfte Mann von ber SBett ift. Slber wer l^at
ifin t)on S^apf erfeit jemafe reben l^ören? 6r l^at
baö red^tfd^affenfte ^erj, aber SRed^tfd^affenl^eit unb
®belmutl^ finb SBorte, bie er nie auf bie S^^Q^
bringt." @r mufe alle S^ugenben befifeen, benn er
fprid^t t)on feiner, eine einjige ausgenommen, bie
SWinna von 33aml^elm felbft an ifirem Sräutigam
nie bemerft unb, mie mir f($eint, nid^t ungern vet^
mifet fiat: „@r fprid^t fefir oft von Defonomie.
3m aSertrauen, granjiöfa, id^ glaube ber 3Rann
ift ein aSerfd^toenber." 2)afe e§ fid^ aber bei J^eH-
l^eim mit ber 2^ reue dl^nlid^ t)erfialten fönnte mie
mit ber ©parfamfeit, ift nur ber nedenbe unb
121
fpicienbe ©inwurf beö Äammcrmäbd^cnß, her 3JUnua
trid^t irre mad^t. „3lo^ eins, gnöbigeö gräuicin.
3d& i^abe il^n an^ fcl^r oft ber Xvme unb Sc^
fianbigfcit gegen ©ie ertodfinen l^ören. 2Bie, xotnn
ber ^err aud^ ein glattergeift wäre?" ©erabe ein
fotd^er ©d^et^ ift ber fid^erfte Seroeiö, ba§ Xtü-
l^eim§ Streue unb Seftänbigfeit jeben 3^^if^' öuß^
f($tie§t. 3Kinna§ innere ©timme ^at wafir ge^^
fprod^en: „3Kein ißerj fagt eö mir, ba§ id^ il^n
finben werbe." ©d^on ber näd^fte Slugenbüdf erfüllt
itire ißoffnung. 3luß bem SDiunbe beö 9Birtl^§ er-
föl^rt fie, bafe ber aM feiner SBol^nung uerbrängte
Dffijier abgebanft unb t)em)unbet ift ; an bem vev^
pfänbeten 3Wng erfennt fie il^ren SBerlobten. ,,3Son
wem l^aben ©ie ben 3Kng?" „3Son einem fonfl
guten 9Rann," antwortet ber bebenÄi($ gemai^te
SBirtl^, bem nid^tö fo nafie liegt, afe ber SBerbad^t,
baö Älemob fönne im Äriege „gerettet" roorben
fein. „aSon bem beften 3Jlanne unter ber ©onne,
voenn ©ie iljn oon feinem ©igentl^ümer l^aben !"
35er Sräutigam ift wiebergefunben , fie fu($t ifin
in ber weiten SBelt unb wol^nt in feinem 3itn«tßr !
3^r erftes ®ef ül^I iji'unauöfpred^tid^eö ©lüdf . 2:runf en
üor greube, mö($te fie, ba^ bie ganje SBelt mit
122
il^r jubelt. „6ö ift f o traurig, fid^ allein ju freuen."
„®a, liebe g^ranjiöfa, taufe bir, waß bu gern l^ättcji.
gorbere tnel^r, toenn eö nid^t jutangt. 3lber freue
bid^ nur mit mir." „9limm — unb toenn bu ivij
bebanJeft ! SBarte, gut, baß id^ baran benfe. 2)aö
ftede bei ©eite für ben erften bleffirten armen ©ot
baten, ber nn^ anfprid^t." 3>l^re ©eele ift von ©an!
fo erfüllt, bag fie fein SBort be§ S)anfeö annel^meU;
nur felbft bauon burd^brungen fein rniH unb für
baö eigene ©efül^t feinen anberen 3lu§brud finbet,
ate baö Dpfer beö innigften ftummen ©ebetö. „3d^
l^abe il^n wieber! 33in id^ allein? 3d^ will nid^t
umfonft allein fein. 3lud^ bin id^ nid^t allein," fagt
fie mit gefalteten ^änben. „®in einjiger banfbarer
©ebanfe gen ^immel ift baö uoHfommenfte @ebet!
3>d^ l^ab' il^n, id^ l^ab' ifin! 3d^ bin glüdlid^ unb
fröl^tid^ ! 9Baß fann ber ©d^öpfer lieber feigen, afe
ein frö^lid^eö ©efd^öpf!"
®ö gibt Staturen, meldte bie föftlid^e ®abe be^
fifeen, t)on ®runb auö glüdlid^ ju fein unb ju
mad^en, bie burd^ il^re l^eitere ®emütf|§art mie ein
l^eHer warmer g^rül^lingötag in bie SBett leud^ten,
bas Seben pd^ unb anberen erlei($tem unb er-
quiden, ofine baß bie 2:iefe, 3>nnigfeit unb SJreue
123
ie§ ißcrjcnö, bic Äraft ber Eingebung unb auf^
opfernben Siehe ben minbefien 3lbbru($ leibet, ©old^c
©emütl^er l^aben nid^tö ^problematifd^eö, nid^tö mn '
bem Scid^tfinn, ber auf ber Dberfläd^e beö Sebenö
l^infCattert, bem ©d^metterlinge gleid^, ber bod^ nur
Don ber SHaupe fierfommt unb ni($t l^öl^er fliegt atö
ber ©taub. 6§ ift pd^ft feiten, baß fid^ bie 2^iefe
unb ber ©rnfl ber ©mpfinbung ol^ne alle ©mpfinb^
famfeit mit bem „l^olben Seid^tfinn ber 9latur" ol^ne
atte ^latterl^aftigfeit in bemfelben ©emütl^ t)ereimgt.
©ine fold^e feltene, in ifirer Ätarl^eit gegen aUeö
uned^te &IM gefid^erte, in ifirer ^eiterfeit über
atteö eingebilbete Unglüdf erl^abene SRatur ift äJlinna
von Samfielm ; id^ roüfete unter ben grauengeftatten
unferer ©id^tung feine, bie id^ barin mit ifir vex^
gleid^en mö($te. ©ie l^at, mie ©oetl^e fagt, ßeffing^
fd^en SSerftanb; unb biefer SBerftanb t)erträgt fid^
auf bas Sefte mit mal^rer ®emütf|§tiefe. 3lfe ÄIop*
jiod in einer feiner Dben @ott mit erfiabenen
SSJorten aufteilte, il^m bie ©eliebte ju geben, mad^te
Seffing bie treffenbe unb ergöfcli($e Semerfung:
„SBeld^e SBermegenl^eit , ®ott fo ernfttid^ um eine
g^rau ju bitten !" ©agegen ift eö mafir unb natürlid^,
Toenn in Seffingä eigener ®id^tung eine grau, bie
124
bcn 3Wann if|rc§ ^crjenö roiebcrgefunbcn fiat, cii
fo frcubigcö ©cbet toortlofcn ®anfe§ cmporfenbel
©obalb fic ber 3lä^e Xe\ä)em^ gcmfe ift, et
fd^eint il^r aUcö gut; jcfet fül^tt fic fein ©d^iifffl
in il^rer öanb, unb biefe toirb bcn Änotcn ju löfe
mffen. 3l\iv ein Sluöbrud^ von 3orn unb 3Ritlci
trifft ben SBirtl^: „^äfelid^cr 3Rann, wie fonntc
©ie gegen il^n fo unfreunbüd^, fo l^art, fo graufai
fein?" Unglüdlid^ ift S^eHl^eim nid^t mel^r, ben
er fiat ja auä) fie roiebergefunben. „@r jamme
bi($?" ruft fie g^ranjista ju, „mi^ jammert i
nid^t. Unglüd ift au($ gut. SBieHeid^t , bafe i|i
ber iQimmet alleö nal^m, um ifim in mir alli
wieber jugeben." Unb mie äJlinna il^n toieberjiel
unb von il^m felbft fiören mufe, ba§ er fi($ ein(
„ßlenben" nennt, fragt fie nid^t na^ feinem @len
fonbem nur na^ feiner Siebe, „©ie lieben mi
no(j^, genug für mid^." „^ören ©ie bod^, xüi
S^re aJlinna für ein eingebilbeteö, alberneö S)ir
toar, — ift. ©ie lie^, fie läßt fid^ träumen: 31
ganjes ®Iüdf fei f i e. ©efd^toinb, framen ©ie 31
Ungtürf auö." ©($on biefeö SBort: „framen ©
e§ aus" erleid^tert bie tragif($e ©ituation. ©eii
gurüdfl^attung: „mein g^mulein, id^ bin nid^t g
i
^o|nt ju f tagen," ift eine ©d^anje, bie einem fo
treffcnben ©inwurf , wie bem übrigen, nid^t ©tanb
Wt: „D mein SRed^tl^aber, fo l^ätten ©ie fid^ aud^
9ör ni(|t ungtüdftid^ nennen foHen. ©anj gefd^roiegen
ober ganj mit ber ©prad^e l^erauö." 3efct muß er
fein Ungtüd „auäframen", alle bie fd^timmen SBed^fet
feiner ©d^idfale: er ift nid^t mel^r ber glüdftid^e
^eH^eim, „ber btül^enbe 3Rann, voüex 3lnfprüd^e,
t)oIIer SRul^mbegierbe , ber feineö ganjen Äörperö,
feiner gangen ©eele mäd^tig war, vov bem bie
©d^ranJen ber ©l^re unb beö ©tüdfö eröffnet ftan-
ben." „3d^ bin 2^eIII^eim, ber t)erabfd^iebete, ber
an feiner ©l^re gefrdnfte, ber Ärüppet, ber Settier.
Senem, mein ^räulein, t)erfprad^en ©ie fid^ ; wollen
6ie biefem SBort l^atten?" 3n 3Jlinna§ ©rroiberung
liegt ifir ganjeö ^erj, il^re ganje ©emütl^äart: „35ad
flingt f el^r tragifd^ ! 2)od^, mein ^err, biö id^ jenen
roieberflnbe — in bie S^elll^eims bin id^ nun einmal
t)emarrt — biefer wirb mir fd^on anö ber ^oü)
l^elfen muffen, ©eine ^anb, lieber Settier!" 3lber
bie ©ad^e ift weit emftl^after, als fle im Subel beö
©lüdfeö meinte. SKit bem l^öd^ften 3lu§brude beö
©d^merjeö reifet fid^ 2^eIII^eim von if)X loö unb er-
Märt mit ber SBiUenöftärfe, bie pe fennt, baj
126
gel^c, um fie nie, nie wicbcr ju feigen; baß er feft
entfd^loffen fei, feine Jlieberträd^tigJeit ju begel^en,
fie feine Unbefonnenl^eit begel^en ju laffen.
35er Änoten ift gefd^ürjt unb bie ©ypofitton
unfereö ©ramaö t)ottenbet, fie fonnte 3^9 fü^ 3^9
nid^t natürtid^er motimrt, ni($t feiner unb meifter-
l^after ausgefül^rt fein. S)er tefcte 3Jlonient mad^t
ben erfd^üttemben ®inbrudE einer tragifd^en ^Peripetie,
eineö plöfclid^en unb fi^ümmen Umfd^roungö ber
S)inge. auf bem ©ipfet bes ©lüdö, i^reö 3ieleö
fidler, erfennt aJlinna mit einem 3Jlate ben furd^t^
baren ©ruft beö ©d^idfals. 3luö bem SBieberfel^en
iftS^rennung geworben, fioffnungölofe, rotl^ßä fd^eint.
3in biefem Slugenbürfe ift fie il^rer felbfl nid^t mäd^tig,
fie eilt ifim na($ unb xoiti il^n nid^t taffen, er reifet
fid^ von 9leuem to§ unb ftürjt fort; fie fielet ben
SBirtl^ nid^t, ber t)or il^r ftefit, unb glaubt mit
granjiöf a ju fpred^en. ^änberingenb, unter S^l^ränen,
ruft fie auö, wie uertoren im äbgrynb beö ®lenbö:
„33in id^ nun glüdftid^? granjiäfa, wer jammert
bid^ nun ?" S)iefe ©cene täfet ber 2)id^ter auö ben
triftigften ©rünben nid^t vox unferen äugen ge-
fd^el^en, fonbem bIo§ burd^ ben 3^"9^^ fd^ilbem.
©ie ift für ben ßl^arafter SWinnaö burd^auö be-
127
jeid^nenb unb barf in biefer il^rcr crgrcifcnbcn Scbcus
tung um feinen 5prei§ burd^ ben Slnbüd ber mit S^eH-
l^eim üergebüd^ ringenben grau unb be§ 2Birtf|ö,
ben fie in ber Setäubung für il^re Äammerjungfer
anfielet, gefd^roäd^t werben: SH^f We vor unferen
Slugen leidet in§ Äomif(j^e faden fönnen, aber bur(3^
bie ©rjöl^Iung in ©d^atten treten. 3n ber ©in-
bitbungöfraft feigen wir nur bie t)on faffungslofem
©($merj überwältigte aiJinna, bie jene @aie, im
befien ©inne beö SBortcö glürflid^ ju fein unb ju
mad^en, ni($t befifcen würbe, l^ätte fie nid^t aud^
bie g^öl^igfeit, grenjentoä ungtürfli($ ju werben.
VII.
SBir wiffen fd^on, wie 3Rinna bie Sage bemeifiert
unb S^eHfieimö ®ntf($tüffe, bie ju fd^merjlid^ finb,
um für immer unerfd^üttertid^ ju fein, burd^ eine
glüdüd^e, auf feinen ßl^arafter berei^nete Sift be-
fiegt. ©oH ber knoten nid^t tragifd^ jerreifeen, fo
muß er auf l^eitere 3lrt getöfl werben. 3n ber
©emütl^öart 2:eIIfieim§ fel^It eine befreienbe Äraft
gänjtid^, ol^ne weld^e baö menfd^lid^e ßeben in
128
feinen öemmungen fteden bleibt unb ben 3)ni(!
beö ©d^idfate nie loö wirb: er l^at feinen öumor,
er ift t)öllig t)erbüftert unb in bie ©adgaffe feines
Ungtüdö fo üerrannt, baß er bie freie ©egenb ni(i^t
mel^r fielet, bafe il^m fein gutes ©ewiffen nid^t übet
bie gefränfte ®l^re, feine SBerad^tung beö ©etbed
nid^t über baö ©efül^l ber 3lrmutl^, baö SSeroufefc
fein, auf bem ©d^lad^tfetbe üerrounbet ju fein, nid^t
über ben ^,firüppel" l^inwegl^ilft; er ift mit feinem
Unglüd bergeftalt juf antmengeroad^f en , bafe biefet
l^öd^ft uneigennüfeige unb aufopferungßroillige SRann
tfiut, was er am menigften tl^un möd^te: er benft
eigentüd^ nur an fid^ unb roiH in jener ftoljen
Sfotirung beö Unglüdfö, morin jebe SBol^ttl^at ah
getel^nt mirb , feinem bie g^reube gönnen , il^m ju
l^elfen. Äönnte er feinen ©totj opfern, mie fein
@elb , fo märe allen gel^otfen. 3lber maö nü|t
nod^ feine ©rofemutl^ unb greigebigfeit ? SBenn [xi)
bie anberen, für bie er alle§ tl^un möd^te, ebenfo
fpröbe t)erl^alten, mie er, fo ift feine ganje Uneigen-
nüfeigfeit umfonft. ®ö l&eifet nid^t mol^Itl^ätig fein,
roenn man e§ bem (Smpfänger t)erfagt, feine 35anfc
barfeit burd^ bie S^l^at ju bemeifen; bann erfd^eint
ber tefetere nid^t als ber g^reunb, fonbern ate bie
€reatur bcö Söol^ltpterö , toas tein tüi^tigcö unb
banfbareö ©etnütl^ erträgt. SDicfe notl^tüenbigen
folgen feiner öanblungöToeife ^ai ^^eH^eim nid^t
bebad^t, .er muß bie SRlidEtoirfung berfelben er*
fal^ren : bieö ift „bie Section", bereu er bebarf unb
bie fi(ä^er bei il^m anfd^Iägt. 3uft ift gegen beu
^ubel beffer getoefeu, afe fein iQerr gegen il^n fein
lüoHte, er l^at baö treue S^l^ier bel^alten, unb S^eH^
i^eim ^at fid^ bie Heine ©efd^id^te ju ^erjen ge*
nommen.
3lber bie erfte ernftlid^e Section, bie il^n er^
fd^üttert unb für baö ©piel ber lefcteren vorbereitet,
foH er burd^ ben SBad^tmeifter empfangen, ber
t)ergeben§ fein (Selb l^ingeben möd^te, um feinem
Dergötterten äJlajor auö ber Jlotl^ ju fietfen. „®ö
jiemt fi($ nid^t, bafe id^ bein @($ulbner bin".
„3i^ntt fid^ nid^t ?" antwortet SBerner. „SBenn an
einem I)eifeen ^tage, ben un§ bie ©onne unb ber
geinb l^eijs mad^te, ©ie ju mir f amen unb fagten :
SBerner, l^aft bu nid^tö ju trinfen ? unb id^ Sfinen
meine g^elbflafd^e reid^te, nid^t mal^r, ©ie nal^men
unb tranfen? 3^^^*^ ^^^ t^ö§? Sei meiner armen
©eele, roenn ein ^trunf fauleö SBaffer bamate
nid^t oft mel^r merti) mar, afö all ber Duarf!
Äuno gftfd^er, ®. (g. Stfflng. I. ^
130
Slel^men ©ie, lieber aJlajor, bilben ©ie fid^
ein, eö ift SBaffer. ^uä) ba§ f)at ©ott für
alle gefd^affen". S^etttieini fann nur entgegnen :
„®u ntarterft nti(j^, bu l^örft eö ja, id^ will bein
©($ulbner nid^t fein»?" „3^/ baö ift roaö anbereö",
erroibert ber SBad^tmeifter, „©ie rooHen mein ©d^ulb^
ner nid^t fein ? SBenn ©ie eö benn aber f d^on wären,
^err 3Rajor? Ober Rnb ©ie bem aiJanne nid^W
f($ulbig, ber einmal ben öieb auffing, ber Sinnen
ben Äopf fpalten foHte, unb ein anber mal ben
Sttrm nom Stumpfe l^ieb, ber eben loöbrüden unb
3^nen bie Äugel burd^ bie 33ruft jagen wollte?
SBa§ fönnen ©ie biefem 3Jlanne mel^r fd^ulbig roer^^
ben? Dber l^at e§ mit meinem ißalfe weniger p
fagen, al§ mit meinem 33eutel? SBenn baö t)or5
nel^m gebadet ift, bei meiner armen ©eele,
fo ift es aud^ fel^r abgefd^madt gebadet". — •
^a^ bleibt bem aRajor nod^ übrig ju fagen? 5Da6
itim nur bie ©elegentieit gefel^lt l^abe, für SBemer
baffelbe ju tl^un! 6ö ift wal^r; l)at il^n biefer bod^
l^unbertmal für ben gemeinften ©olbaten, wenn er
inö ©ebränge gefommen mar, fein Seben wagen
jel)en. Slber SBemer l^at für ben SWajor, ber auf
feiner Steigerung bel^arrt, nod^ ein SBörtd^en auf
131
im ^erjcn. „SBcnn td^ mand^mal badete, toic
lirb eö mit bir auf's Slltcr toerben? SBcrm bu
i ©d^anbcn gcl^auen bift ? SBenn bu nid^tä ntelir
üben wirft? SBcnn bu wirft betteln gefien tnüffen?
)0 badete id^ toieber: nein, bu toirft nid^t bettefei
t^en, bu wirft jum SKajor S^ettJ^eim gelten, ber
lirb feinen lefcten ^Pfennig mit bir tl^eiten, ber
»irb bid^ ju S^obe füttern, bei bem wirft bu ate
;n el^rlid^er Äert fterben fönnen". „®a§ ben! id^
id^t mel^r. SB er von mir nid^ts annel^men
)xU, wenn er's bebarf unb id^'ö fiabe, ber
)in mir aud^ nid^tö geben, wenn er'ä Ijat
nb id^'ä bebarf. ©d^on gut", ©iefeö SBort
at getroffen. S^eHl^eim ift befiegt. „9Kenfd^, mad^e
%iä) nid^t rafenb! 3d^ t)erfpred^e bir auf meine
pl^re, wenn id^ fein @elb mel^r l^abe, bu foBft ber
jrfte unb ©injige fein, bei bem id^ mir etwa«
lorgen will".
2)iefe unübertrefflid^e ©cene, eine ber fd^önfien
leö. ganjen ©tüdfö, bilbet glei(^fam bie S8orf($uIe
l^ettfieimö, bie ungefüllte, ju ber Section, bie il^m
Ulinna ert^eilen wirb. SBenn man bem britten
Slcte unfereö ®rama§ mit ©oetl^e ben SBorwurf
nad^t, bafe l^ier bie ^anblung ftitt ju (teilen \^t^^
\
132
unb retarbirt werbe, fo ()at man biefe eben er-
toäl^nte .©cene nid^t genug unb rid^tig geraürbigt:
fie entpit ein f ortberoegenbeö , bie unbeugfatne
©pröbigfeit ^eIII)eim§ bred^enbeS 3Kottt). @r f)ttt
an 3Kinna gefd^rieben unb il^r bie Seroeggtünbe
feines entfd^Iuffeö gef d^ilbert ; fie will il^n felbft
fpred^en unb fenbet ben 33rief jurüd, als ob fie
i()n nid^t gelefen; bajroifd^en fäHt fein @efprä(|
mit beut SBad^tmeifter , eö t)at geroirft, ber 3KQJor
ift f($on nad^giebiger geworben, jefct wirb er auf
bie ®inlabung beö gräuleinö fommen, fogar etwas
gepufeter, wie g^ranjiöfa wünfd^t/ in ©d^utien unb
frifirt. „©o fel)en ©ie mir gar ju brao, gar ju
preuj3if($ an^l ©ie feigen auö, alö ob ©ie bie
vorige SRad^t campirt l^ätten". „®u fannft eS
errat()en l^aben", antwortet ber SKajor.
©eitbem aJlinna ben Srief gelefen, raei^ 1%
ba^ STeü^eimS (Sntfagung jmar in feiner äbfi^t
ben ebelften, aber in SBal^rI)eit einen t)erf ehrten
©runb ^at, ba^ fie nid)t axi^ ber Äraft, fonbem
auö einer ©d^mäi^e ober einem gef)Ier feiner JDenf-
art |)ert)orge()t. „®in wenig ju t)iel ©tolj fd^eint
mir in feiner 3luffül^rung ju fein, ^enn anif
feiner ©eliebten fein &IM nid^t motten ju banfen
133
l^aben, ift ©tolj, unt)crjei^Ud^cr ©totj!" liefen
%ef)Ux, ber auö Ueberjartl^cit baö roal^re Söttgefül^l
abftumpft unb t)erl^ärtct, il^m felbft ju erleud^ten,
ift if)xe aCufgabe. ,,3^ ^^«^^ ^^i^ ßection nad^, bic
id^ il^m geben mll. 2)u wirft fe^en, bafe id^ ifin
t)on ©runb auö fenne. 2)er 3Rann, ber tni($ jefct
mit allen Sleid^tl^üniern t)ern)eigert , wirb mid^ ber
ganjen SBett jireitig mad^en, fobalb er l^ört, ba^
id^ unglüdlid^ unb t)erlafl'en bin", ©ie befifet afe
natürtid^e 3Jlitgift, n)a§ il^m fel^lt: id^ meine nid^t
baö ®etb, fonbem ben iQumor, ber frei um fid^
btidt, ^tettfieimö Hemmungen burd^fd^aut unb bie
Sanbe berfetben töft.
S)er ftuge 5pian gelingt ooHfommen. Äaum
l^at SCelll^eim erfahren, baß fie enterbt, ffüd^ttg, üer-
folgt ift, fo t)at er fein Unglüd üergeffen unb
fül^tt fid^ frei unb toie gerettet. „aUeine ganje ©eele
l^at neue S^riebfebern befommen. 3Jlein eigene^ Un-
glüdf fd^lug mid^ barnieber, mad^te mid^ ärgerlid^,
furjfid^tig, fd^üd^tem, läffig; il^r Unglüd l^ebt mid^
empor. 3^ fß^c mieber frei um mid^ unb ftil)le
mid^ miHig unb frei, alleö für fie ju unternel)men".
5!Hit einem SWale mirb eö Cid^t in feiner ©eete,
unb er erfennt, mie t)erfefirt unb tl^örid^t ber Siebe
134
gegenüber fein Ungtüdöftotj war. SBBie 3Rinna mit
feinen ©rünben feine ^ütfe, Begleitung unb jebe
SBerbinbung mit il^r jurürf roeift : „SBo benfen ©ie
l^in, ^err aWaior ? 3d^ meinte, ©ie l^ätten an Sl^retn
eigenen Unglüd genug; ©ie muffen l^ier bleiben,
©ie muffen fid^ bie aUetDoIIftänbigfte ©enugt^uung
ertrofeen" — befennt il^r S^eHl^eim feinen ^tttl^um:
,,©0 bad^t* i($, fo fprad^ id^, afe id^ nid^t tonnte, toad
id^ Vad^te unb fprad^. 2lergernife unb uerbiffene
SButl^. fiatten meine ganje ©eete umnebelt;
bie Siebe felbft in bem uoUften ©lanje beß ©lüdfcs
fonnte fid^ barin nid^t 2^ag fd^affen. 2lber fie fen-
bet il^re .S^iod^ter , baö 3R i 1 1 e i b , bie , mit bem
ftnftern ©d^merje t)ertrauter, bie SRebel jerftreut unb
äße Si^öänge meiner ©eele ben ©inbrüden ber
3ärtlid^feit roieberum öffnet. SDer 2^rieb ber ©elbft^
er()altung erroad^t, ba id^ etroaö Äoftbarereö ju
erl^alten l^abe/ alö mid^, unb eö burd^ mid^ ju er^
l^alten l^abe".
3n biefer Umroanblung S^eBl^eims, in biefer
SBieberl^erfteHung feineö wafiren 6()ara!ter§ unb
feiner Äraft liegt bie eigentlid^e Cöfung beö Änotenö.
S)afe fie burd^ eine SCäufd^ung lierbeigefül^rt wirb,
minbert nid^ts an il^rer Sebeutung unb il^rem Se^
135
fianbe. @§ war, roenn id^ ben 2lu§brudE braud^ert
barf, eine l^omöopatl^ifd^e iQeitung. ®r mu^te fo,
roie 3Winna eö erbad^t unb au^gefül^rt l)at, getäufd^t
loerben, um feine ©elbfttäufd^ung unb 5ßerblenbung
}u erfennen, feinen UnglüdEöftolj unb UngtüdEäs
e g i ä m u § , benn anberö f ann man eö f aum nennen^
tDenn jemanb fein UuglüdE nur für fi(^ bel^atten
unb fetbft ber Siebe nid^t gönnen wiH, eä ju er*
leidstem unb ju tl^eilen.
®od^ würben wir ^elll)eim§ Seroeggrünbe, bie
3Rinna uon 33arnl)elm ju übenoinben f)at unb über-
loinbet, nid^t uöttig burd^fd^auen unb würbigen,
TDenn wir affeö barin nur feinem ©tolf^ttnb über?
jarten ©l^rgefül^l jufi^rieben. ®r t)ergißt jebe ^M-
fid^t auf bie i^m ganj ergebenen Söienfd^en, btoä
loeit er fid^ felbft t)ergifet 3n ber 2lrt, wie er
fein UngtüdE empfinbet unb trägt, in biefer worts
lofen ©ntfagung, in biefer ftummen Raffung liegt
eine ©d^tii^ti^eit unb ©elaffenl^eit, bie von ben ©d^idf-
falen besÄriegeö unb öonber ®(^ute ber ©d^lad^=
Un l^erfommt. S)ie Unfälle, bie i^n betroffen l^aben,
gel^ören nod^ ju ben Ärieg§ftürmen ; er ftel)t wie
unter bem ©ommanbo beö ©d^idffafe unb lä^t,
was eß t)erl)ängt, über fid^ ergel^en, wie ber ©olbat
136
im gelbe, ber ftanblialtert mufe, me eö bcr S)ienit
forbert; er fielet, me ber tapfere ©olbat, ber bie
©efal^r für \xä) aUeih l)aben roill. SE^eHl^eim fte|t
feine @l)re gefäf)rbet in golge einer S^^at, bie
er im Äriege uerübt l^at: biefe ®efaf)r muf
überftanben fein, bet)or in feinem Seben griebe
wirb. S)arum barf aud^ bie föniglid^e ©l^ren-
erflärung ni(3^t ausbleiben. 2Ber ben ßl^arafter
S^ettl)eimö barfteffen n)ill, mufe nn^ in jebem 3^9^
ben ©olbaten erfennen laffen, ben ber Ärieg
gefd^ult l^at.
Unfer BtM ift ein Oenrebilb, baä nid^t blo§
in ben Segebenl^eiten, fonbern in ben ßl^arafteren
unb ©mpflnbungäroeifen, bie eö fd^ilbert, xmmittet
bar auf bemjgranbiofen ^intergrunbe beö fiebern
iäl^rigen Äriegeö rul^t. Sn einer güUe uon 3ügen,
bie beöl)alb fo einbringlid^ finb, weil fie einfad^
unb anfprud^Sloö, oline 5ßufe unb anefbotifd^e gdr-
bung, au§ ber ^anblung Iieroorgel^en , erfd^einen
un§ bie 2öirfungen jener l^eroifd^en, bie menfd^-
lid^en ©d^idffateloofe ftürmifd^ burd^einanber rütteln^
ben Qdt Seid^ter alö fonft werben ungemölinlid^
ftarte, gro^l^erjige ©ntfd^lüffe gefaxt unb eine ©nergie
be§ öerjens an ben ^ag gelegt, ol^ne meldte im
137
33ilbc unferer ©id^tung aJiinna von SBamlielm unb
3;eIII^ettn fid^ nie gcfunbcn unb roiebcrgcfunbcn
l^ätten. @ö gel^ört ju bcr crl^abcncn S^ä)t be§
Äriegeö, ba^ tüd^tige unb fraftüoffe 3laturcn allen
©igennufe vexUxmn unb äße SBeid^Ud^feit be§
©mpfinbens [id^ abgen)öl)nen. Um fo reiner jeigt
jid^ baö 9KitIeib, um fo einfad^er unb natürlid^er
bie ©ro^mutl^. 3Son fol(3^en ©inbrüdfen finb tt)ir
ergriffen, wenn ^eHi^eim ben ©d^ulbfd^ein aJiarloffö
t)emid^tet unb üoff tiefen 3Kitgefül)lä ber 2öittit)e
nad^ruft: „Strmeä brat)eö SBeib!" SBenn aJHnna
bem Äammermäbd^en ®elb mit üoffen ^änben giebt:
„gür ben erften bleffirten, armen ©olbaten!"
SBenn ber SBad^tmeifter bem aJiajor ben 33eutel
mit feinen ©rfpamiffen Iiinplt, ate ob es bie g^elbs
ftafd^e märe: „3lef)men Sie, lieber Söiajor, bilben ©ie
fid^ ein, e§ ift SBaffer!" — 2Ba§ in ber menfd^::
lid^en 5Ratur ber Ärieg nid^t beffer mad^t, ba§
mad^t er fd^led^ter. 2lud^ 6t)araftere ber nieberen
unb tferborbenen Strt burften in unfrem brama=
tifd^cn 3^itWlbe nid^t fef)len, mie ber liabgierige
SBirtl^ unb ber falfd^e ©pieler, ber fraujöfifd^e 3n-
buftrieritter, ber in ber nid^tämürbigften SBeife bie
Äunft t)erftef)t unb üii, bie 5Celll&eim felbft in ber
138
beftcn unb el)rti(3^ftcn g^orm ocrfd^mäl^t: corriger
la fortune! ®ö giebt Scutc bie SKenge, bic t)om
Kriege nid^tö lernen, aber eines gleid^ na^ bem
^rieben uergeffen : wie fel^r fte nod^ eben im Kriege
für §au« unb §abe gegittert unb jeben ©olbaten
alö erl^abenen Sefd^üfter uerel^rt unb ate ißelb be^
rounbert l^aben. Unfer SBirtl^ ift bat)on ein fo ein-
leud^tenber 2^ppuö, bafe Suft an feinem Seifpiel
biefe @rfa£)rung beftätigt: „SBarum mart if)x benn
im Kriege fo gefi^meibig, il^r Ferren SBirtl^e?
SBarum roax benn ba*. jeber Dffijier ein mürbiger
aJiann unb jeber ©otbat ein el^rlid^er btavex Äerl?
aWad^t eud^ baö Siöd^en griebe fd^on fo über-
müt^ig r
2öenn bie SBelt il^rer Kämpfe fatt unb mübe
ift, mad^t fie il^r „SBiöd^en g^riebe". Slber bie
malire 2luögeburt be§ Krieges foH ber DoHe unb
ganje triebe fein, ber in ben ®emütl)ern ber SJlen^
fd^en gefd^loffen wirb unb bie ©runblagen aUed
e^ten aJlenfd^englüös n)ieberl^erftellt. aJHt*biefer
Söfung TOoHte Seffing feine S)i(3^tung üoffenben.
3n SE^eHlieimö Seben mar nod^ Krieg, tro^ beS
^ubertöburger griebens ; l^at er bod^ mitten in ber
^auptftabt nod^ fo ehm bie lefete 3la^t burd^ cam^^
139
piren tnüffcn! S^fet ift gricbc geworben, nai^bem
xi)n feine 3Winna beftegt unb fein Äönig i^m bie
t)olIfte ©enugtl^uung getoäl^rt f)at; je^t I)at er fid^
unb ba§ Sbeat feines Sebenö wiebergef unben : „3lun
ift mein ganjer ©l^rgeij roieberum einjig
unb allein, ein rul)iger, jufriebener SUienfi^
fein; ber werbe i^ mit 3£)nen, liebfte SKinna, un-
fel^Ibar werben, ber werbe i^ in S^rer (SefeHfd^aft
unoeränberlii^ bleiben." — 2BaS fann man Seffereö
fein wollen unb fein? S)ie S^^'fwnft ber Siebenben
geftaltet fi(^ ju bem lieblid^ften SbpH, baö felbft bie
^ßl^antafie eines 3louffeau nid^t fd^öner unb reijenber
träumen fönnte, afe eö in 2^ell^eim§ rülirenben
SBorten fid^ malt : „9Korgen oerbinbe unö ba§ l)ei^
ligfte 33anb unb fobann wollen wir um unä fel&en
unb wollen in ber ganjen weiten bewolinten SBelt
ben fünften, lieiterften, lad^enbften SBinfel fud^en,
bem jum 5ßarabiefe nid^tö fel^lt ate ein glüdflid^eö
5ßaar/' (^ier erfd^eint uns in Seffing ein wenig
bemerfter unb feiten auögefprod^ener S^Q U^^^^
©^mpatl^ie mit ben Qbealen SRouffeauä ; bie 5Ratur,
fern uon ber ©efellfd^aft, gilt a\x^ V)m aU bas
fid^erfte Slf^l ber Siebe unb rein geftimmter ©eelen::
l^armonie, ate bie waljre ^eimatt) beö menfd^lid^en
140
©lüdEs. ©0 bcnfcn Xt\S)dm, Dboarbo, 2lppian'
fie [inb von ber ©mpfinbungöttjeifc erfaßt, bic bur(
SRoujfeau ba§ B^talter tnfpirirt l^atte unb an b(
au(^ Seffing feinen S^l^eil nal^m.)
S)aB ein fold^eö 3iel t)onenbeten Olüds bi
preufeifd^e 3Sla\ox mit bem fäd^fifd^en ®be
fräutein gewinnt, barf in unfrem ©tüd nad^ ®oetf)(
SKuslegung aU ein poetifd^eö ©innbilb beä iQubert!
burger griebens erfd^einen. 3le^men xoxx eä i
feiner rein menfd^lid^en %oxm, rou un§ ber ©id^ti
feine ®ntftel)ung unb SSoHenbung gefd^ilbert i)a
biefes ®lüdE wirb in ben ©turnten beä Äriegi
gefäet, im ^rieben geemtet, burd^ jmei l^errttd!
folbatifd^e 5Cugenben, 2^apf erfeit unb 5!Kitleib, t)e:
bient — ,,benn bie tapferften 9Ränner finb aud^ b
mitleibigften" — burd^ bie roeiblid^e Siebe erl^alte
unb neu begrünbet. 35arum nannte Seffing fei
Suftfpiel: „aJiinna von 33arnl)elm ober ha
©olbatenglüdf."
ierrtn00 $a\i%
I.
2Ba§ roei^ man t)on ßeffingö g^auft? ®ö ift
^ötl^ig, biefc eJtagc fo ju beantworten, ba§ bie
^^treffenben 3^"S*^iff^ «i<^t, n)ie ju gefd^el^en pPegt,
'^^td^einanber gemengt, fonbern mit ber gel^örigen
Wtifd^cn SRüöfid^t gefid^tet unb georbnet toerben.
^ erfier SReif)e [teilen ßeffingö eigene äleufeerungen,
^ie öffentlii^en, brieflid^en unb n)aö fid^ im 3la^^
^^ flnbet; >bie S^^fi^iff^ j^eiter 9leif)e [inb in
^tiefen an Seffing ju fud^en, fofern biefelben feinen
fayft berül^ren; in britter SReil^e fommen bie fpä^
^ten Sendete.
3Son Seffing« öffentlid^en ©d^riften l^at nur
ine ben e?auft ium ©egenftanb unb entl^ält iu^
144
Qlexä) baö einjtge von i£)m t)eröffentHd^tc gragment
einer gauftbid^tung : ber berü£)mte [iebjef)nte Site-'
raturbrief t)om 16. ^ebruar 1759. @r 'bringt bie
£rieg§erHärung gegen ©ottfd^eb unb ben franjöfi-
f(3^en ©efd^madE alö g^üi^rer unfereä nationalen
®rama§, bie ipinroeifung auf ©liafefpeare unb bie
©ried^en ate unfere ed^ten unb geifteSüerraanbten
SBorbilber. „®a§ aber unfere alten ©tüdfe fe^t
t)iel ®nglifd^eö gel^abt l^aben, fönnte id^ 3l)nen mit
geringer 3Wüf)e roeitläuftig bereifen. 5Rur baö k-
fanntefte berfelben ju nennen, S)octor g^ au ft,- ^at
eine ^JJienge ©cenen, bie nur ein ©l^atefpeare*f(^e§
®enie ju beuten uermögenb geroefen. Unb wie
t)erliebt war S)eutfd^Ianb unb ift eö jum S^eil
nod^ in feinen ®octor g^auft! ©iner t)on meinen
greunben uerraalirt einen alten @ntn)urf biefe§
^rauerfpiete, unb er £)at mir einen Sluftritt barauä
mitgetl^eilt, in n)eld^em geroife ungemein t)iel @roBe§
liegt, ©inb ©ie begierig, il^n ju lefen? ^ier ifl
er. eJauft verlangt ben fd^neUften ®eift ber ißölle
ju feiner SBebienung. ®r mad^t feine Sefd^roö-
rungen; e§ erfd^einen berfelben fieben, unb nun
fängt bie britte ©cene beö jmeiten Slufjugö an. —
aBa§ fagen ©ie ju biefer ©eene? ©ie raünfd^en
145
ein beutf d^e§ Bind, baö lauter f old^e ©cenen f)ätte ?
^i) aud^!"
2)aö aJiotit) ber ©cene, bie 2öal)l beö gefd^tDim
beften ber ^öHengeifter, ift alt unb in ber SKaguä^
fage begrünbet, bie brantatifd^e äluöfäl^rung ftnbet
fid^ fd^on in bem beutfd^en aSolfefd^aufpiel ?Jauft,
unb man fann fie im 5ßuppenfpiel nad^lefen. ßef-
fing l^at feine ©cene bem aSolföfd^aufpiel nad^ge-
bilbet unb nennt fie einen „alten'CßntttJurf", war
e§ il^m bod^ um bie 3Bieberbelebung be§ t)olfö=
tl^ümlid^en S)ramaä ju tl^un. S)enno(^N^tl^met bie
©cene in ©ebanfe unb ©prad^e ben ulfiad^af)m=
lid^en Seffing'fd^ejt ©eift, unb eö ift unfeegreiflid^,
wie man lieutjutage biefe ©cene für entlel^nt
l^alten fann. Sluf bie grage: ,,Unb toeld^er üon
eud^ ift ber ©d^neHfte ?" antworten bie ©eifter atte :
„®er bin id^!" „@in Sffiunber!" ruft gauft, „bafe
unter fieben SE^eufeln nur fed^§ Sügner finb. 3d^
mufe eud^ näl^er tennen lernen." 3m aSolfefd^au^
fpiel ift ber gefd^n)inbefte Teufel fo fd^neU ate ber
©ebanfe beö SKeufd^en ; bem Seffing'fd^en gaüft ift
er äu langfam. ©d^neHer ift bie SRad^e beö Stadlers,
be§ ©emaltigen, ber fi(^ allein bie SRad^e voxU^ult
„2^eufel, bu läfterft — fd^neH n)äre feine SRa(i\e?
146
fd&nea? IXnb x^ lebe noc^? Unb x^ fünbige noc^?"
Unb roaö antwortet ber @eift? „S)a§ er bi(^
nod^ fünbigen lä^t, ift fd^on Siad^e!" S<^
foHte meinen, in biefem SBorte mü^te ein J^auber
Seffing reben I)ören, nur il^n. 35er jiebente
®eift ift fo fi^neU, alö ber Uebergang t)om (Suten
äum SBöfen. „^a! S)u bift mein 5£eufet! ©o
fd^neU ate ber Uebergang t)om ®uten jum SBöfen!
3a, ber ift f d^nefl ; f d^neffer ift nid^tö afe ber ! ^6)
l^abe eö erfal^ren, wie fd^neU er ift, x^' ijahe eö
erfal^ren!" 3d^ möd^te roiffen, wer unter Seffingä
greunben, au^er il^m felbft, ber 9Kann war, ber f o
ju beulen unb ju fd^reiben uerftanb?
2lu§ Seffingö 3laä)la^ fennen wir ben (SnU
n)urf be§ 5ßorfpiefe unb bie ©lijje ber mer erften
2luftritte. 3n einem alten 2)om, um 3Ritternad^t,
l^ält Seeljebub eine 5ßerfammlung l^öHifd^er ©elfter,
in ber uerberblid^e ^l^aten berid^tet unb geplant
werben. S)er fd^lauefte ber 5Ceufel l^at einen ^ei^
ligen t)erfül^rt unb rül^mt fid^, im Saufe eineö
5Cage§ aud^ ben g^auft in§ 5ßerberben ju ftüt^en,
von bem eö lieifet, er fei nid^t fo leidet ju t)erfü]^ren.
2)a§ Unma^ feiner SBifebegierbe foH il^n ftürjen.
3n ber erften ©cene erfd^eint g^auft in pl^ilofopl^ifd^e
147
Sioeifet üertieft, ju bcren Söfung er t)on 5Rcucm
ben @eift bcö Sttriftotcles bcfd^roört. SDic§mal
gelingt bie SBefd^roörung. 3n ber peitcn ©ccne
erfd^cint in ber ©cftalt bc§ 2lriftoteleö jener SCeufel,
^tx e§ unternommen I)at, ben g^auft ju üerfül^ren.
JJaci^bem er il^m bie fpi^igften g^ragen beantwortet
N, oerfd^minbet ber ®eift. ^n ber britten ©cene
folgt eine neue Sefd^mörung, auf bie in ber merten
ein neuer 35ämon erfd^eint.
2)ieö ift aUeö, maö mir au§ Seffingö gaufi
burd^ ben 35i(ä^ter felbft miffen.
2)aju fommt über ben ^auft eine feftr mert
üürbige ^lotij in ben nad^gelaffenen „ßoHectaneen
(Ur Siteratur". Unter ber Ueberfd^rift „Dr. g^auft.
3u meiner ^ragöbie über biefen ©toff" mirb eine
Stelle an^ 3)iogene§ von fiaerte, ein älusfprud^
)eö 2^amerlan unb eine ©cene aus einem englifd^en
BBerf über Unioerfalgefd^id^te angefül^rt. ^ier mirb
)a« aSerberben, baö burd^ einen faracenifd^en gürften
iber bie ©tabt 5ßergamu§ fommt, ate ein göttlid^eö
Strafgerid^t für beren grenel gefd^ilbert. älud^
Camerlan f)abe feine ©raufamleit bamit entfd^ulbigt^
148
bä^ er afe ©ei^el ©ottcö auf 6rben erfd^ienen.
Unb von bem ß^nifer 3Wenebcmuö ei^dl^lt ©iogeneS,
er fei in einer gurienmaöfe l^erumgejogen, mit bem
aSorgeben, er fomme au§ ber ^öHe, um auf bic
©ünber Sld^t ju l^aben unb ben ©eiftem bafelbft 3lai)'
xiä)t ju bringen, ^ierju bemerft Seffing: „3)iefe§
fann meHeid^t bienen, ben ß^arafter beö SSerfül^rerö
in meinem jmeiten ?Jauft roal^rfd^einlid^ ju mad^en.
©esgleid^en maä 2^amerlan jur ©ntfd^ulbigung feiner
©raufamfeit gefagt l^aben foH u. f. f."
3)iefe 5Rotij bezeugt, ba§ Seffing einen „jmeiten
g a u ft" im ©inn l^atte, morin ber 3Serfül^rer (ben
Flamen SKepi^iftopi^eles finben n)ir von Seffing nid^t
genannt) anbers gefaxt roax, aU im erften. Db
biefer jweite ^an% als bie obige Slotij gefd^rieben
tt)urbe, auögefül^rt n)ar ober nid^t, baruber geben
bie ©oHectaneen feine äluöfunft. 3(^ ^alte bafür,
ba§ er n i d^ t auögef äl)rt war, f onbern erft concipirt
ober entworfen, ^atte Seffing einen feiner Q^^a^
rattere auögefül^rt, fo glaube id^ nid^t, ba^ in
feinen 2lugen irgenb ein ©itat baju bienen fonnte,
biefen ßl^arafter „n)al)rfd^einlid^ ju mad^en". 2Bof)t
aber mod^ten fie jur 3luöfü]^rung einen fold^en
2)ienft leiften. 3luö ben obigen ©teilen leud^tet fo
149
vxd ein, baj5 ßeffing bcn aScrfül^rer im gauft afö ein
aßetfjeug ©otteö gefaxt l^aben wollte, in einer
SRoHe, n)ie fie ber tl^eatralifd^e 5!Kenebemuö [id^ an=
tita^t, unb ber bämonifd^e Xamexlan fie ausführt.
6r ftreift fd^on an bie aSorfteHung, bie baöS)iabO'
lifd^e umfe^t in bie jerftörenbe ©eroalt einer bämo::
nifi^en 5!Kenf(j^ennatur ; aud^ bie 5!Kad^t ber SSer^
fül^rung ift jerftörenb : „3d^ bin ein 2:f)eil von jener
Äraft, bie ftet§ baä Söfe roiß unb ftetö ba§ &xite
fd^afft." ®iefe Raffung ift nid^t mel^r im ®eift ber
alten ©age. SBenn fie nad^ Seffing§ SBorten feinen
„jroeiten eJ^uft" (^arafterifiren foffte, fo fd^liefeen
roir, bafe eben barin ber jroeite g^auft fid^ uom
erften unterfd^ieb, unb biefer alfo ber ©age naiver
ftanb alö jener. SKerfroürbig genug, baj5 aud^ in
ber ©oeti^e'fd^en ©id^tung unterfd^ieben werben muß
jroifd^en einem erften unb jroeiten gauft, bie nid^t
gleid^jufefeen finb bem erften unb jroeiten ^l^eil*).
35ie GoUectaneen fd^rieb Seffing in ben Saferen üom
@nbe ber SBreölauer biö in bie SKnfänge ber SBolfen-
büttler 3ßit, fie fallen xf)xem größten Umfange na^
in bie ißamburger 5ßeriobe.
*) f8Ql meine ©d^rift über ,®oct^e8 gfauft" (6otta
1878) ßa^j. III. @. 112-114.
150
II.
3n ben Sriefen beö 2)i(i^terö finben ^iä) ätoei,
bie fef)r bemerfenöwertlie Sleu^erungen über bcn
fjauft entf)alten : ber erfte, auö ber glücf lid^ften unb
frud^tbarften 3eit feineö berliner 3lufentl^alte§, fällt
bid^t üor bie ßiteratiirbriefe, ber sroeite bid^t vox
bie Hamburger 2)ramatur9ie.
ßeffing fd^reibt ben 8. ^uli 1758 an ©leim:
„Sie Iiaben eö erratf)en, ^ert Stamler unb i(i^
ntad^en ^projecte über ^Projecte. SBarten ©ie nur
nod^ ein aSierteIjaf)rl)unbert, unb Sie follen erftaunen,
raaö TOir alleö werben gefd^rieben f)aben ! 33ef onberö
id^ ! ^ä) f d^reibe ^ag unb Jlad^t, unb mein f leinftcr
3Sorfa^ ift je^t, wenigftenö nod^ breimal fo mel
Sd^aufpiele ju maä)en, afe fiope be Sßega. ©I^eftenö
werbe id^ meinen S)octor ^auft l^ier fpielen
laffen. Äommen ©ie bod^ gefd^roinb raieber nad^
SBerlin, bamit Sie if)n fel)en fönnen !" SBir finben
in biefen S^ikn ben Sluöbrudf einer freubig probuc-
timn Stimmung , worin bie 3luöfüf)rung geroiffer
SBerfe bem 2)id^ter näl)er erf(^eint, alö fie ift.
151
&ani ä^nliä) ftanb eö fünfjelin Saläre fpätcr mit
bem ©oetl^e'fd^en ^auft. 3d^ fürd^te, ©leim wäre
bamafe umfonft nad^ Serlin gefommen. 3lu(^ ift
bcr ganje 2^on in Seffingö Sd^reiben mel^r fd^erjenb
ate ernftl^aft.
3n ber Sßad^fd^rift eine§ Sriefeö an feinen
Sruber, batirt ißamburg, ben 21. September 1767,
l^eifet eö : „^d^ bin SBittenö, meinen Dr. gauft nod^
biefen SBinter l)ier fpielen ju.laffen. aBenigftenö
arbeite id^ an^ allen Gräften baran. S)a
id^ aber ju biefer 3lrbeit bie clavicula Salomonis
braud^e, bie id^ mid^ erinnere ^errn g^l. gegeben
JU l^aben, um fie gelegentlid^ ju t)erfaufen, fo mad^e
il^m mein ßompliment, mit bem ©rfud^en, fie bei
bem erften ^JJadfet, baö er an einen Iiiefigen Sud^-
l^änbler fenbet, mitjufd^idfen." 6ö ift nid^t anju^
nehmen, bajs er neun^ctlire t)orl)er t)ottenbet l^atte,
woran er jefet auö aüen Gräften arbeitet. Unb
wäre einer ber beiben Raufte fertig geroefen, warum
l^ätte er biefen nid^t im SBinter 1767/68 in ^am::
bürg fotten auffül)ren laffen? 3d^ fd^liefee, bafe in
bem 3^ttraum von 1758—1767 jroei gaufte pro=
jectirt waren, aber feiner t)oIIenbet.
©iefer 3^^traum unfertiger ^auftbid^tung bel^nt
152
fid^ noä) weiter aus, wie aM geroiffen Sriefen an
fieffing erliettt: id^ nenne einen 33rief von SKofeS
3Kenbe(öfof)n aus bem Saläre 1755 unb einige Sriefc
©bertö in Sraunfd^weig aud ben Salären 1768
6iö 1770.
aJlenbetefol^n fd^reibt ben 19. 3lovembex 1755
(nid^t ben 19. SKärj, ein ©d^reib^ ober ©rudff eitler
bei ®anjel, ber an^ feinem ffier! ju ben Jlad^^
f d^reibern übergegangen ift) : „SBo finb ©ie, liebfter
ßeffing, mit 3l)rem bürgerlid^en 2^rauerfpiel? ^ä^
möd^te eö nid^t gern bei bem Sßamen nennen, benn
id^ jroeifle, ob ©ie il)m ben Sßamen e?auft laffen
werben. ®ine einjige ©Eclamation: D gaufiuö!
gauftuö ! tonnte baö ganje ^parterre (ad^en mad^en.
aSieber ein SRatl^geber, werben ©ie fagen, ber gar
feinen 33eruf baju l^at! Sßun wol^l! ©o laffen
©ie eö nur babei. 3d^ will atebann baö aSer^
gnügen l^aben, felbft mit bem fieipjiger ^ßarterre ju
(ad^en unb ©ie bei jebem ©eläd^ter fid^ entflammen
ju feigen. 2)enn lad^en muß man gewiß, wenn
Sl^re 2^l^eorie oom fiad^en anberä rid^tig ift."
3m 3al)re 1755 entfianb aWife ©ara ®amp^^
fon, unfer erfteö bürgerlid^eä 2^rauerfpiel , baö
ßeffing fd^uf. SBal^rfd^einlid^ wollte er bamalä ben
153
ijauft in eine J^ragöbie biefer 3lrt t)em)anbeln, um
iatt ber englifd^en g^amilicngefd^id^te einen national
)eutf(j^en ©toff, einen ber beliebteren, in bie nene
Jorm einjufül^ren. 35aö ®i, auö bent bie ©ara
jefd^lüpft war, fiiHoö Kaufmann t)on fionbon unb
Rid^atbfon§ ©lariffa, l^atte ber ©dualen ju t)iel in
)em beutf(^en ^rauerfpiel jurüdgelaffen. 6ine
jürgerlid^e 2^ragöbie von beutfd^em ©d^rot unb
Rom war ja bie Slufgabe, t)on ber fieffing in jenem
iebjel^nten fiiteraturbriefe fprad^ unb l^inroieö auf
)en e?auft. ©tatt beö J^rauerfpielö fam bie ed^t
)eutf d^e 30? i n n a , ein ©tüdf, baö fieffing f elbft ein
,fiuftfpier' nannte, ©nblid^ erf(^ien baö beutfd^
jmpfunbene, bürgerlid^e 2^rauerfpiel, aber in italie-
tifd^er aWaöfe: ©milia ©alotti! 35er g^aufi
!am nid^t. 35ie Slufgabe einer rein beutfd^en, auö
mferem aSolfeleben gegriffenen 2^ragöbie l^at Sef=
ing im gaufi t)or9lugen gel^abt, aber nid^t gelöft,
üenigftenö nid^t t)or unferen Slugen.
SBarum lad^t aRenbelöfolin? SBeil er baö SSolfe^
d^aufpiel ^auft, ba§ er t)ietteid^t gemeinf am mit
ßeffing in Berlin fal^, — eö würbe bort auf ber
Sd^ud^'fd^en Sü^ne ben 14. Suni 1753 aufgeführt
— nur läd^erlid^ fanb. 3Bad ift bem weifen SJlenbefes
\
154
fol)n mit feiner SlufHärung unb feinen bünncn,
reinlid^en Segriffen bie SRagie unb ber SRaguö bcr
aSolfefage mit feinen S^eufetebefd^roörungen unb
bem 9rauent)oIIen ®nbe, baö if)m baö &exxä)t be§
^immete t)er!ünbet : „gauftuö, g^auftuö, bereite ixii
jum ^obe! S)u bift angeflagt! 35u bift geri(ä^tct!
fjauftuö, gauftuö, bu bift auf ewig tjerbammt!'
^ä) l)öre förmlid^, wie ber gute aJlenbefefol^n, bei
fanfte SEBeife, nad^bem er baö ©tücf gefeiten, in bi
SBorte auöbrid^t : „SBeld^er Unfinn !" Unb nun roil
fein greunb Seffing einen tragifd^en g^auft bid^ten
aBeld^e ^^orl^eit! „Siebfter fieffing! ©ine einjig
©jdamation: D ^auftu§! g^auftuö! fönnte baö ganj
^Parterre lad^en mad^en."
®6ert gibt ben 4. Dctober 1768 feinem greunt
©fd^enburg, ber nad^ Hamburg reift unb fid^ ßeffing
perfönlid^e Sefanntfd^aft wünfd^t, ein ©mpfel^Iung^
f(^reiben, worin er unferem 2)id^ter feine literarifd^e
©d^ulben aufjäl^It. 6r l^abe im Flamen fieffing
vielen 3lnbern ben Dr. g^auft t)erfprod^en, er mert
fd^on lange von biefen aSielen um ben gauft gt
mal^nt unb muffe ü)n notfiraenbig l^aben, wenn e
nid^t ßeffingö wegen jum ©d^elm werben foHc
„2Bo bleibt Dr. gauft?" l^ei^t eö in einem jweite;
155
»riefe t)om 26. Januar 1769. (Sin Sa^r fpätet,
nad^bem Seffing in 33raunf(^n)ei9 geroefen, berülirt
6bert in einigen ©tetten feineö Sriefeö t)om 7.
Sanuar 1770 roieber ben ^aiift. Offenbar ift von
biefem 9Ber! bei fieffingö 3lufentl^alt bie SWebe ge=
roefen. ©elbfl einige ^ofbamen laffen if)n grüßen
unb bitten, balb meberjufommen unb ja nid^t ben
Dr. g^auft ju t)ergeffen. 3m ©ingang beö Sriefeö
l^eißt eö: „©ie muffen jaubern unb mid^ citiren
fönnen, roie S'^r Dr. g^aufi bie ©eifter citirte."
SBenn ®bert nid^tö weiter von fieffing§ ^auft raupte,
fo xoax er genau fo flug afe wir, benn baö ftanb
feit elf Salären in* jenem Fragment ju lefen, baö
ber fiebjel)nte fiiteraturbrief entl)ielt. Unb wenn er
in einer folgenben ©teile fieffing mit feiner be=
fannten ©pielfud^t auf jiel^t : ,,©ie müßten eö benn
aud^ burd^ 3<^"6ß^^i^n baf)in bringen, baß id^ mid^
ben ^Teufel reiten ließe unb einmal fpielte; bod^
mid^ bünft, baö traurige ®jempel meineö SBer^
fül^rerö felbft ift allein fd^on Iiinreid^enb, mir eine
ewige Sßarnung ju fein" — fo ift l^ier fd^erjenb
von Seffing bie Siebe unb nid^t t)om g^auft. 3Ruß
benn überall, wo einen ber S^eufel reitet, ber ^auft
babei fein? Unbegreiflid^ , wie ©anjel in biefen
156
3Borten eine 3lnfpielung auf ficffings jroeiten gauft
t)crmutf)en fonnte!
aSir fcnnen fieffingö 3lntmorten auf bie eben
exw&i)ntm Sriefe. 3luf 3Renbetefol^n§ g^rage in
Setreff beö ^auft antwortet er nid^tö; in ber
©rroieberung auf ©bertö erften 33rief, ben i^m
©fd^enburg gebrad^t, fd^reibt Seffing ben 18. Dctober
1768: „©ie feigen, bafe id^ mid^ jefet eben nid^t im
©d^riftftetterentl^ufiasmuö befinben mag. aJleine Slnt-
voott alfo auf Sl^re freunbfd^aftlid^e ß^equirungen
fönnen ©ie erratl^en. 3wwt genfer mit atte bem
SetteU"
9luö ben obigen 3^W9"iff^i^ inögefammt erließt,
ba^ fieffing in bem 3^^^^^^^"^ ^^^ 1755—1770
jroei entwürfe beö gauft gemad^t unb feinen
tJoHenbet l^at, ba^ er in beiben eine national^beutfd^e
^ragöbie bejwedfte, bie im erften bem SBolföfd^aufpiet
naiver ftanb als im jroeiten, worin bie SRotte be§
aSerfül)rerö weniger biabolifd^ alö bämonifd^^meufd^j:
lid^, weniger a(ö 3Biberf a(^er , benn alö SBerfjeug
©otteö gebad&t war.
Sßad^ ber in ben ©ottectaneen gemad^ten ^e^
merfung ift anjunel^men, ba^ fieffing wäf)renb feines
Sreölauer Slufentl^altö mit einer neuen Bearbeitung
157
be§ gauft befd^äftigt war. 2Bir finb begierig, von
bem beften ®emäf)röTnann, ber über jene 3^tt be-
rid^tet l^at, 3läl^ereö ju erfal)ren; inbeffen weijs
SRector Älofe nid^t mel^r ju fagen, alö ba^ ßeffing
aud^ tiötoeiten an feinen Dr. gauft gebadet unb
auö einem alten ©tüdf, Sßoete ßucifer, einige Scenen
l^abe benüfeen wollen. Slud^ ba^ einer ber ^reunbe
fieffing§ in Sreölau jwölf Sogen t)Ottt gauft gelefen
l^aben roitt, beftätigt, romn eö fid^ fo t)erl^ätt, nur
iinfere obige aSermutl^ung, filiert unö aber in ber
©ad^e nid^t weiter.
III.
3m Satire 1775 mad^te ßeffing bie impropifirte
IReife nad^ ^tcilien, bie il^n jroeimal nad^ SBien
fül^rte, wo unter feinen aSerel^rern fid^ befonberö
ber ©taatöratl^ t)on ©ebler f)ert)ortl^at. 2)iefer
erfunbigte fid^ bei ßeffing felbft nad^ bem g^auft
unb fd^rieb barüber ben 9. 35ecember 1775 an
5Rico(ai: ,,^6) tüünfd^e, ba^ 3l)re Hoffnung wegen
ber ®rfd^einung beö ßeffing'fd^en ^auft jutreffen
möge. SUlir l)at unfer großer, aber ju wenig gegen
158
baö ^ubticutn freigebiger greunb auf mein Sefragcn
tnünbtid^ anvertraut, bafe er baö ©ujet jtüeimal
bearbeitet l^abe, einmal nad^ ber gemeinen
grabet, bann mieberum ol^ne alle S^eufelei,
mo ein ©rjböfemid^t gegen einen Unfd^ulbigen W
Flotte beö fd^marjen 3Serfül)rerö vertritt. 33eib(
3luöarbeitungen ermarten nur bie lefete ^anb/'
2)iefe Sleu^erung ftimmt mit ben ßottectaneen unt
unferen ©(^lüffen; eö ift nid^t ju jmeifeln, ba{
fieffing eine fold^e ©rflärung gegeben/ jugleid^ wirl
ber unfertige B^^P^^i^ '^^^ 3lrbeiten beftätigt. 35em
„bie le^te ^anb" fann nod^ viel ju tliun l)aben
ßeiber blieb H)x nid^tö mel)r ju tl)un übrig
Site ßeffing bem SBiener greunbe anvertraute, m
eö mit feinen g^auftbid^tungen ftanb, geliörten biefi
bereits, mie bie ©age gel)t, ju ben verlorener
ißanbfd^riften. Seffing reifte ben 9. gebruar 177f
von SBolfenbüttel über ßeipjig nad^ Berlin, unt
ging im folgenben 9Jionat von bort über 2)reöber
•
unb 5prag nad^ SBien. Um leid^tereö ©epädf ji
l^aben, fenbete er von 2)reöben eine Äifte vott bet
verfd^iebenartigften 35inge nad^ ßeipjig, von mo bei
Sraunfd^meigifd^e 33u(^l)änbler ©ebler, ber fid^ eben
jur Dftermeffe bort aufl)ielt, fie nad^ Sraunfd^roeig
159
^men unb bann weiter nad^ 3BoIfenbüttet
ren follte. 35iefe Äifle fott l^eute nod^ an^
m, fie ging fpiirloö verloren unb mit if)r
:lid^e g^auftmanufcripte. SBarum fieffing biefe
)en ^anbfd^riften von 2Bolf enbüttel über fieipjig
ertin nad^ 2)reöben fd^Ieppte, um fie von f)ier
Botfenbüttel jurüdmanbern ju laffen, ift eine
ifjuwerfenbe grage, bie unbeantwortet bleibt,
lad^forfd^ungen beö Sruberö, ber in ber aSor-
II fieffingö t)ermif(^ten ©d^riften (1784) fogar
öffentlid^en Slufruf an ben g^inber ber Mfte
finb t)ergeblid^ gewefen. 6ö galt für auö=
)t, ba^ auf biefe SBeife Seffingö ^auft vex^
gegangen. 33lan!enburg erjäl)lt bie ©efd^id^te,
er babei gewefen, wie Seffing in ©reöben feine
tanufcripte einpadfte, bod^ weife er nid^tö ©e^
§, benn er irrt fid^ im 3lbreffaten, ber nad^
n Kaufmann fieffing in fieipjig gewefen fei:
roürbige SWann, ein SBerwanbter beö 35id^terö,
fid^ felir forgfältig nad^ ber Äifte erhinbigt,
[fing gefd^rieben u. f. w. 9lu(^ ber Sruber
d^ in ber aSorrebe ju ben t)ermif(^ten Sd^riften
genau unterrid^tet , er glaubt, bie Äifte fei
on aBien nad^ ßeipjig gefenbet worben unb
i
160
auf bctn aSege abl^anbcn gefommen. ©o ml fte^t
f eft unb ivoax burd^ ßcffing fclbft, bafe bie Äifte Don
2)rcöben nad^ Seipjig an ben Sud^l^änbler ©ebler
auö Sraunfd^toeig gefd^icft würbe. 3lber bie grage
ift: ob bie ^anbfd^riften beä gauft roirfUii^
barin waren?
3tn SRad^Iafe Seffingö l^at fid^ tjomg^auft m(i^t§
weiter gefunben afe ber ©ntwurf beö SSorfpiete unb
bie uier erften Sluftritte, bie ber 33ruber im jweitcn
»anbe beö „JC^eatralifd^en Sßad^laffeö" oeröffentUd^t
f)at (1786). @r fommt in ber Sßonebe wieber auf
bie uerlorene Äifte ju fpred^en unb fügt l^inju:
„SWir ift eö nid^t anberö, ate bafe mein 33ruber mir
felbft gefagt, mit bem SBertufte biefer Äifte fei mä^
atteö, waö er über ben gauft gearbeitet, oerloren
gegangen." 35ie SBenbung: „mir ift, als ob"
ad^te id^ für fein 3^^9^^fe / ^^ f ^ weniger, afe id^
allen ®runb l^abe ju glauben, ba^ ber Sruber fid^
irrt. 3lad^ feiner diüäUl)x von Stauen l^at Seffing
gegen feinen S3ruber in einem Briefe auö SBraun-
fd^weig uom 16. 3uni 1776 auöfül^rlid^ ber un^
glüdfUd^en Äifte ®rwäl^nung getl)an; er l^at feitbem,
fo uiel id^ fel^e, feinen 33ruber nid^t mef)r gefprod^en,
unmöglid^ fann er il^m etwaö anbereä gefagt
161
i^aben, ate et iJ^tn bamalö gefd^rieben. Offenbar
f)at betn lefeteren, a(ö er jel)ti Satire fpäter bie
SSorrebe jum „5Cl^eatra(ifd^en SfJad^lafe" fd^rteb, jener
Srtef in unbeutlid^er ©rinnerung t)or9ef(^n)ebt, unb
il^m war, alö ob Seffing if)m etroaö gefagt ^abt,
roas er nid^t gefagt l)at. Sffiaö nämlid^ ftanb in
bem SBriefe? „®ie traurige ®efd^i(^te mit meiner
Äifte aii^ 2)reöben f)atte id^ fd^on von bem Ijiefigen
33ud^l^anb(er ©ebler t)ernommen. 2lIIem Slnfd^ein
nad^ ift fie t)er(oren, imb mit il)r jugleid^ eine
aJlenge ®inge, bie mir unerfe^Ud^ finb. 3"9f^i^
bie ©tüde t)on beiner 3Bäfd^e, bie bu mir auf allen
gatt mitgabft. — 3Baö mad^t aSofe ber Sßater? ^ä)
bin fel)r befümmert um il^n, unb ber aSer(uft ber
Äifte ift mir um feinetwiHen t)oräüg(id^ unangenel^m.
@ö maren an bie t)ierjig neue gabeln barin, t)on
benen id^ feine einjige n)ieberl)erftetten fann. 3lud^
mar meine faft t)öllig fertige 3lbl^anblung t)on ©in-
rid^tung eineö beutfd^en 2Börterbu(^eö barin. 5Rid^t
ju gebenfen eines 3Kanufcriptö auö ber f)iefigen
Sibliotl^ef, baö iä) in Bresben cottationiren motten.
2)enn menn id^ an baö benfe, möd^te id^ üottenbö
au§ ber ^aut fal^ren."
3d^ müfete nid^t, ba^ Seffing t)on biefer Äifte,
162
mit beten ©d^icffal bie ©age baö feines gauft un=
auftöötid^ Derfnüpft l^at, fonft xoo getebet. ®r
fpecificirt in bem obigen ©riefe beten 3nf)a(t, er
nennt bie gabeln, bie 2lbf)anbtung, ben ßobe^, er
fagt feine ©Übe von feinem g^auft. Sieber no(i^
im 3lbgrunb ber ^ötte t)erf(ä^n)inben , afe in bem
einer Äifte ! SBenn fieffingö gauft wirHid^ in jener
Äifte begraben rourbe, fo roax bem 2)id^ter, wie e§
fd^eint, an biefem aSertufte gar nid^tö gelegen. 2)a
er fein S33örtd^en baüon fagt, fo glaube id^, bajj
bie gauftmanufcripte nid^t in jener Äifte maren,
bie auf bem SBege oon ©reäben nad^ Seipjig ober
in ßeipjig für immer t)erloren ging.
S)od^ finb fle t)erloren, benn in fieffingö 3laä)la^
i)ai fid^ feine ©pur, au^er ben oben erroäl^nten
©ntroürfen, gefunben. 3d^ bin fef)r geneigt, anju=
nel^men, ba^ Seffing feine unoottenbeten Slrbeiten
über ben gauft felbft oernid^tet f)at, ba er fall,
baf( il)m bie Söfung feiner 3lufgabe nid^t gelingen
Toottte ; er war auf unüberroinblid^e ©d^roierigfeiten
geftofien (Ooeti^e l)at ganj biefelbe ©rfal^rung ge^
mad^t), baö alte aSolföfd^aufpiel mit feinem ^ötten^
apparat roottte fid^ ni(^t in bie gorm eines bürger-
lid^en S^rauerfpielö auflöfen laffen, unb roieberum
pafete bie ttagifd^e anläge beö Stades, bie Seffing
feftl^alten mufete, nid^t ju ber l^öl)eten 3bee, bie er
ol^ne 3tt)eifel bet 3Solfefage gab unb alö @d^luj3
im ©inn l^atte. ®r lie^ bie 2lr6eit liegen, er war
barin fteden geblieben unb fie war il)m t)erleibet,
benn ba§ ©tedenbleiben war nid^t feine ©ad^e.
®r. fefet ben anfragen na(^ bem gauft ein un=
l^eintlicä^eö ©d^weigen entgegen, baö mir unmillfürlidj
ben (ginbrnd mad^t: ber gauft lebt nid^t melir.
3lud^ jene 3Borte an @bert: „3Jleine Slntmort auf
3l)re freunbfd^aftlid^en ©gequirungen tonnen ©ie
erratl^en; jum genfer mit alte bem SetteU"
fUngen wie eine aSerurtlieitung.
einige ber Slbfid^ten, bie Seffing bei feinem
jroeiten gauft geliabt, finb einer anberen 35id^tung
ju gute gekommen; baö bürgerlid^e 2^rauerfpiel
TOurbe in ber ®milia ©alotti in einer g^orm
oottenbet, bie Seffing nid^t überbieten fonnte. Unb
ber ^lan ju biefer 2^ragöbie mar fo alt al§ ber
beö ^auft. ®in Hauptproblem in ber jmeiten Se^
arbeitung be§ ^auft mar bie menfd^lid^e ffialirlieit
in bem ßliarafter beö aSerfülirerö, ber 2^eufet alö
menfd^lid^er 35ämon. 3n ber ®mitia ©atotti mürbe
biefe Aufgabe gelöft. ©tatt beö 3Kep^iftop^eleö
/
164
erfd^ien SKarinelH. 2)eö ^ßrinjen lefetcö 5!ßort
^ei^t : „©Ott ! (Sott ! 3ft eö jum Unglüd fo mand)tx
nid^t ö^i^"9/ ^^fe 3^ürften 3Kenfd^cn ftnb, muffen
fid^ ani) nod^ S^eufel in if)ren greunb t)erftellcn ?"
5Ra(^bem Seffing ben aKarinelli gefd^affen, tt)ar bie
3bee auögefülirt, bie if)n in feinem j^weiten g^auft
befonberö gereijt l^atte. ®amm möd^te id^ glauben,
ba^ naä) ber ©milia ©alotti ber g^auft unter ben
^Projecten Seffingö für immer t)erftummte. S)ie
©timmung bafür war fd^on t)orüber, alö er bie
emilia (Salotti ergriff unb bem g^auft oorjog. 2Bir
werben fpäter auf biefen ^pimft jurüdtommen.
3nnerli(^ ber ©id^tung abgeroenbet, wie eö ber
33rief an @bert vexxätf), mag Seffing ben Dielen
münblid^en Slnfragen na(^ feinem g^auft mitunter
auöroeid^enb geantwortet l)a6en: eö fd^wirren jefet
ber gauftbid^tungen t)iele in ber Suft, er wolle mit
ber feinigen warten, biä fie erfd^ienen feien, ©arauß
ift bann wieber ein ©tüdf Sagengefd^id^te über
fieffingö g^auft entftanben, ate ob er ben anberen
etwaö l)ätte abguden ober gar ber SWann fein wollen,
ber nad^ bem Sprüd^wort julefet lad^t. SBoju warten
unb worauf unb auf wen? Slanfenburg berid^tet:
Seffingö gauft war meines SBiffenö fertig." @r
//
165
fagt nid^t, tool^er er eö lüeife. SBir iDiffen, ba§ er
nid^t fertig tüar. ®r fügt fiinju: „er roartete bloä
auf bie @rfd^einung ber übrigen g^aufte, man ^at
eö mir mit @en)i§l^eit erjäf)lt." 2llfo tüeife er eö
nur t)om ^örenfagen. Unb in bemfelben Serid^te
l^eifet eö: „Seffing unternalim bie Umarbeitung, vieU
leidet aud^ nur bie 3SoIIenbung feiner 2lrbeit ju
einer 3^^, too auö allen 3ipf^l^ 2)eutfd^lanbö gaufte
angefünbigt maren." 2Kfo tüufete Slanfenburg
feineöTüegö, bag Seffingö SBerf fertig tüar, aber
er fagt e§. ®ie Umarbeitung fällt in bie Sreä-
tauer unb Hamburger S^t SBeld^e g^aufte waren
bamafö angefünbigt? 3Wan nennt Senj, ber nie
einen ^auft gebid^tet ober angefünbigt, benn baö
„gragment an^ einer garce, bie ^ßönen-
rid^ter genannt", tüorin g^auft in ber Unterroelt
erfd^eint unb von Sacd^uö in erfel^nte SSergeffenlieit
gefenft wirb, ift ein Stättd^en auö feinem Jiad^lafe,
ba§ für feinen g^auft gelten fann*), ben 3Jlaler
aWüller, beffen e?auft ein S^firjel^nt fpäter fällt
*) ßefflng ertoä^nt ßenj in einem Srtef an feinen
©ruber t)om 8. Januar 1777: „Senj ift immer nodft ein
gana anbetet JJopf aU Älinget, beffen le^teS ©türf iä) un=
möglid^ ^aBe auSlefen fönnen."
166
at§ bie ©rantaturgie, ©oetl^e, ber bantate nod^
nii^t an ben gauft badete, von beffen 2lbfici^t einer
g^auftbid^tung bie näd^ften g^reunbe vor 1772 faum
eine Äunbe l^atten, t)on beffen 2)ici^tung felbft roeitere
Äreife erft meistere Salire fpäter ettüaö erful^ren.
Unb biefelben Seute, bie an bie Äifte glauben, mit
ber im "^a^ve 1775 Seffingö g^auft für immer oer^
loren ging, erjäl^len guten 3Wut{)e§, Seffing l^abe
auf bie ©rf^einung beö ©oetl^e'fd^en gauft gewartet,
t)on beffen ®^ften} er vor 1775 fidler nid^tö ge=
n)uj3t l^at. ®r foll gefagt l^aben: „3Jteinen g^auft
t)olt ber 5Ceufel, id^ mitt ©oetl^eö feinen Idolen !"
2)iefeö geflügelte 3Bort l^at ©ngel in SBerlin bem
SBiener igoffd^aufpieler 9KüIIer erjäl^lt, ber eö in
feiner Siograpl^ie mieberliolt, unb 91. ^oberftein
l^at eö in einem 3luffafe über „Seffingö ^auft" (im
SBeimarifd^en Sal^rbud^ von 1855) von 9Jeuem er-
mäl^nt. ßngel gab e§ alö eine 33efräftigung, bafe
Seffing feinen ^auft fidler l^erauögeben mürbe, fo=
balb ber ©oetl^e'fd^e ^auft erfd^ienen fei. 3<§ ^^^
nid^t, ob ©ngel ju ben Siftengläubigen geliörte.
9lber er mufete ja, benn bie 2Belt l^at eö von
Slanfenburg unb if)m erfaliren, ba§ ben Seffing-
fd^en gauft ber ^Teufel nid^t l^olt. 9Bie alfo fonnte
167
er jene Steufeerung, iDenn fic Seffing lüirftid^ ge^
ti)an l^at, ernftl^aft nelimen? ®r l^ätte in bem
SBorte: „meinen gauft fiott ber SCeufel!" einen
ganj anbeten ©inn roittern foHen. Unb roaö ^at
Seffing ber Äritifer nid^t alles gel^olt! 3d^ l^ör^
in bem SBorte: „id^ roitt ®oetl^e§ feinen Idolen !'^
nid^t ben Sid^ter brol^en, fonbern ben Äritifer.
IV.
SBir l^aben über Seffingö gauft no(^ jroei Se-
ndete, beibe nad^ bem 5Cobe beö ®id^ter§ erfd^ienen.
®er erfte ift ein ©d^reiben beö Sßauptmannö
Don SBIanfenburg in Seipjig t)om 17. 3Jtai 1784
„über Seffingö oerloren gegangenen ^auft",
in 2lrd^enl^olj' „Siteratur unb SBöH erf unbe" ; ber
jTüeite, ein ©rief beö ^profefforö ®ngel in SBerlin
an Seffingö 33ruber, von biefem t)eröffentHd^t im
„5Cl^eatralifd^en SRad^lafe" jugleid^ mit £effing§ ®nt=
Tüurf (1786). Seibe fd^ilbern ben ^rolog.
33(anfenburg erjöl^lt, bafe in jener näd^tli(^en
SSerfammlung ber ißöllengeifter, bie SBerberben brü=
ten, einer ber (enteren bem ©atan berid^tet, er
168
i)aie einen 3Slann auf ®rben gefnnben, bem nii^t
beijufommen fei, er l^abe feine Seibenfd^aft, feine
®ä)\mä)^t\t, nur einen 5Crieb unb eine DIeigung:
einen unau§(öfd^li%n Surft nad^ 3Baf)rl^eit unb
©rfenntnife. ,,^ann ift er mein!" ruft ber Dberfte
ber S^eufel, „unb auf immer mein unb fidlerer
mein, afe bei jeber anberen Seibenfd^aft!" SRun
erhält 3Jlepf)iftopf)ete§ Sluftrag unb änroeifung,
mie er eö anjufangen ^dbt, um ben g^auft ju fangen,
^n ben folgenben Steten beginnt unb ooHenbet er
bem ©d)eine nad^ fein SBerf. ^ier fann id^ feinen
beftimmten 5ßunft an^ebm, ®enug, bie J^öHifd^en
^eerfd^aaren glauben i^re Slrbeit t)ottbrad^t ju
^aien] fie ftimmen im fünften 2lct Xriumpf) lieber
an. ®a unterbrid^t fie eine Iiimmlifd^e ©rfd^einung.
„^riumpl^irt nid^t!" ruft il^nen ber ©ngel ju,
„i^r f)abt nid^t über 9Jfenfd^f)eit unb SBiffenfd^aft
gefiegt, bie ©ott^eit l^at bem 9Jfenfd^en nid^t ben
ebelften ber S^riebe gegeben, um il^n eroig unglüdf^
lid^ ju mad^en; xoa^ ü)x fallet unb jefet ju befifeen
glaubt, wax nid^tö al§ ein ^l^antom." ©o tüeit
33lanfenburg, beffen eingeftreute fd^ale SBemerfungen
id^ Tüeglaffe. SBir l^ören nid^t bie Stnatpfe eineö
©tüdfeö, fonbern nur bie eine§ 5ßlane§. 6r felbft
169
fagt von hm fotgenben 9lcten: „^ier tann xä)
feinen beftimmten ^unft angeben."
©efd^idter tft ®ngefe Sendet. „SBon Seffingö
^auft, um ben ©ie mid^ tjorjüglid^ ftagen, iDeife id^
nod^ biefeö unb jeneö; roenigftenö erinnere id^
mid^ im SlUgemeinen ber Slnlage ber erften
©cene unb ber testen ^aupttüenbung ber-
fetben." ®r fprid^t alfo nur von bem ^rolog^.
beffen ©d^auplafe ^ier nid^t bloö „ein alter ®om",
fonbem „eine jerftörte gotf)ifd^e Rird^e" ift. „3^^=
ftörung ber SBerfe ©otteö ift ©atanö aBottuft."
3)ie ©cene fetbft f(^itbert @nget in bramatif(^er
f^orm. ®er erfte 2^eufe( l^at bie ^ütte eineö 2lrmen
gerftört, ber jroeite eine g^fotte mit 3Bu(^erern oer=
nid^tet, ber britte bie Unf(^ulb eine§ 9Käb(^en§ mit
TooIIüftigen 5Craumbilbern vergiftet, ber vierte l^at
ni(^tö getf)an, nur einen ©ebanfen gef)abt, feufs
lif(^er ate bie ^Tliaten ber anberen, er tüitt (Sott
feinen Siebling rauben: einen benfenben eins
famen- Jüngling, ganj ber SBeiöl^eit ergeben, nur
für fie atf)menb, jeber Seibenfd^aft abfagenb, aufeer
ber einjigen für bie SBafirl^eit ; ber aSerfül^rer ^abe
ü)n umfd^lid^en, aber nirgenbö eine ©d^roäd^e ge=
funben, wobei er il&n faffen fönnte. „^at er ni(^t
170
SBifebegierbe?" ruft ber ©atan, unb toie bcr 2^euf(
antwortet: „mel^r ate ein ©tcrbtid^cr!" ift er feine
©ad&e getoife. „Ueberla^ il^n mir, baö ift genu
jum aSerberben." äße S^eufel foffen ilim l^elfei
biefeö 3Keifterftü(f fatanifd^er ma^t unb Sift au
jufül^ren. S)a ruft eine ©timme auö ber ^ö^
„S^^ foUt nid^t fiegen." „©o fonberbar, tr
ber ©ntiDurf biefer erften ©cene/' fäl^rt @nget foi
„ift ber ©ntwurf beö ganjen ©tüdeö. 3;
SBerfül^rung gef($ie^t an einem ?ßI)antom, baö b
fd^lafenbe mirttid^e gauft afe S^raumgefid^t fd^m
3)ie 2^eufel finb getäuf(^t, ber ertüad^te g^auft c
warnt unb belelirt." Unfer S3erid^terftatter fd^Ue
mit ben 2Borten: „aSon ber Slrt, mie bie 2:^eu|
ben ^lan ber SBerfül^rung anfpinnen unb fortfül^re
muffen ©ie feine 9iad^rid^t von mir ertüarten; i
weife nid^t, ob mid^ t)ier mel^r bie ©rjäl^lung Ql^r
33ruber§ ober mel^r mein (Sebäd^tnife üerläfet, ab
n)irflid& liegt aHeö, maö mir bat)on üorfd^roebt, •
tief im S)unfetn, ate bafe id^. I^offen bürfte,
mieber an^^ £id&t ju jiel^en."
9iad^ alle bem fd^eint ßngel ba§ Seffing'fc
SÖBerf nid^t auö ber ^anbfd^rift, fonbern nur ai
münbUd^en ©d^ilberungen beö S)id^terö gefannt ;
/
171
^9abcn. S)ic ©rinnerung ift oerbtafet. 3Son ber
Stusfül^rung tocife toeber er no(^ 33lan!enburg cttüaö
SefHmmteö. Sl^re Sendete befd^ränfen fid^ im
SBefentlid^en auf ba§ 3Sorfpict unb ftimmen in ben
^auptjügen mit bem t)on Seffingö ^anb leintet::
faffcnen ©ntrourf fo fid^tbar überein, bafe fie für
glaubtüürbig gelten bürfen. ^n jroei fünften geben
fie mel^r ate ber autl^entifd^e ®ntn)urf Derrätl^: ba§
in biefer gaufttragöbie bie ^öUe nid^t fiegt,
m'elmel^r burd^ ein ^l^antom getäufd^t tüirb. 3ladi)
Slanfenburg fällt bie ©ntfd^eibung an baö ®nbe
beö ©tüdEeö, nad^ ßnget wirb fie f(^on am ©d^tu§
beö 5Borfpiel§ t)erfünbet. 3n biefer Sbee liegt bie
@r^öl)ung unb Umbid^tung be§ g^auftmptl^uö, bie
©oetlie aufnal^m unb jum 2^f)ema feiner jweiten
gauftbid^tung . mad^te ; eö tüar elf Saläre nad^ ber
Verausgabe oon Seffingö ©nttüurf unb ©ngelö Se=
rid^t. 3(^ jmeifle nid^t, ba§ ©oetl^e feinen großen
33orgänger aud^ an biefer ©teile gefannt unb vor
SKugen gel^abt l^at, obgleid^ fein B^^S^iB barüber
üorliegt, ba§ Seffingö ^rolog auf ben ©oetl^e'fd^en
eingemirft *).
*) S^ ^qI- iii ntcinet ©d^tift üBer ©oet^cS xian^i bie
enitoidflunfl ber gauftfagc: 6a:p. IL @. 68—78.
172
V.
®ie 3bec ber SRcttung 3^auft§ ift ol^nc ^mx
eä)t leffingifd^, aud^ roenn [ie nid^t mit feinen eigc
nen SBorten bejcugt ift. ©ie liegt in feinem 6nj
n)urf. gauft foH burd^ feine ju gro§e SBife
b e g i e r b e geftürjt werben, nur burd^ bief e, baroi
allein grünbet ber 2^eufe( feinen ^tan. ®ie§ tdc
fd^on eine 2lbn)eid^ung von ber 3SoIföfage, eil
fotd^e Slbroeid^ung , mie fie Seffing mad^en mufet
®r ergriff ben e?auft ber SBolfefage an bemSug
ber it)m ber geifteötjerroanbtefte war. ©d^on in be
Sßorfpiel erfennen tüir einen Seffing'fd^en 3^au
2)iefer ^auft befd^tüört juerft ben 2lriftotete
roie Seffing felbft in feiner 2)ramaturgie ! 2)ief
g^auft xoixf)lt }u feinem 2)iener ben ^öllengeift, b
fo fd^nell ift, roie ber Uebergang t)om ©uten ju
Söfen, gleid^fam ben 2)ämon beö ©ünbenfalls. 333
f)ören an^ feinen SBorten, tüie tief er bie 9Kac
beö 93öfen fennt, er l^at fie erfafiren, tüaö braud
er fie nod^ ju erfal^ren! ®a§ er an^ eigener SBal
173
i»nb firaft bem 33afiUö!en in'ö Slugc f($aut, ift feine
3»Q(i^t über ben • »afUtöfen. 2) er ©eift ber
^i^begierbe, gegenübergeftellt betn3)ä=
Won ber ©ünbe: fo offenbar badete fi($ Seffing
kn ©egenfa^, an^ bem nimmerntel^r ber 2^riumpf)
be§ ©atonö werben foHte.
igier aber entftanb bie ßoHifion üwifd^en ber
Sfniage unb bem 3^^^ ber ^aufttragöbie, l^ier mujste
fid^ ber ßeffing'fd^e gauft t)on bem ber Sßolfefage
fd^eiben imb biefer fierabfinfen ju einem ?ßf)antom:
ber %au% ben bie 5Ceufel t)erfül^ren unb erbeuten,
ift nid^t ber wal^re, ed^te, nad^ 9Bal^rl^eit rittgenbe
gauft, fonbern beffen ©d^atten unb ©d^einbilb.
2)ie ganje biabolif(^e 5E:ragöbie wirb jur ?ßl^antaös
utagorie, bie ber roal^re ^auft wie in einer Se^
täubung, in einem 2^raume erlebt, tiefer aben=
teuerlid^e, ben SBeltbegierben f)ingegebene unb in
ben 2lbgrunb getriebene Sebenögang ift „baö
Seben ein S^raum", angewenbet auf ben
Söuft! 3(^ glaube gern, ba^ Seffing eine fol(^e
Sbee l^atte unb finbe fie feiner gang würbig. Unfere
33erid^terftatter waren nid^t bie Seute, einer fold^en
Sbee auf ben ©runb ju feigen. 3lber barauö liefe
[xä) weber ein bürgerlid^eö 5Crauerfpiel, nod^ über^^
174
l^aupt ein bramatif($eö Äunftiüert löfcn, b
roirfUd^c gauft l^anbclt l^icr fo.gut wie q(
Sine fold^c Einlage l^attc ber crftc ^a«
Scffing oertiefe; er untemal^tn einen jr
ber eine lebenbige unb actioe gaufttragöbie
follte, worin bie üerfül^rerifd^en SKäd&te irb
menfd^lid^ gefaxt waren. SBie biefer jtüeii
auöfal^ unb wie weit er gebiel^en, bat)on i
nid^tä unb fenne feinen, ber etroaö havon
®ö ift eine l^öd^ft intereffante unb bebe
oolle S^l^atfad^e, bafe aud^ @oetI)e§ g^auft
oerfd^iebene Sid^tungen jerfäHt, bereu et
bemfelben ©runbgebanfen entfpringt, ben
bei feiner jweiten l^atte, unb beren jroeite bi
@runbgeban!en ergreift, von bem Seffing ii
erften auöging.
ClBmtltfl (^ üiifiil
I.
S)ie Slufgttbe, bie Seffing in feiner 5!J?inna t)on
»arn^erm auf baö ©tücHid&fte gelöft ^atte, beftanb
in einer nationalen S)i(ä^tung, einem brantatifd^en
äbbilbe beutfd^er unb gegenwärtiger ©d^icffale,
einem Suflfpiete neuer, erweiterter, von ben trabi^
tioneffen ©d^ran!en üöHig befreiter Slrt. S)aö Suft^
fpiel ift nid^t mel^r in baö abgefonberte ©ebiet beiS
bürgerlid^en 2tben^ eingefperrt; ergreif enbe unb
rül^renbe (grlebniffe finb fo menig oon if)m auöge-
f d^loffen, ate fieroif d^e ©efinnungen unb ^anblungen :
in bemfetben bramatifd^en ©emälbe erfd^einen bie
ßontrafte unb 5!J?if(^ungen von 2:ugenb unb 2^l^or=
l^eit, l^ol^er unb nieberer ®emütl^§art, ©ruft unb
ftuno grifd^er/®. g. fiejilnö. I. VI
1
178
©($erj; fie treten um fo einfad^ unb ungeftinftett
entgegen, wie in bem roirflid^en 3Renfd^enteben fetbft.
S)ie ©tanbesunterfd^iebe in ber bramatifd^en ^ßoejie
finb gefallen, S^l^ema unb S^i^att finb rein menfd^-
Ud^ unb nur beöl^alb beutfd^ im fpecififd^en ©inn,
weil fold^e Sliaraftere unb ©d^idffale mitten im
beutfd^en 3SoIf unb feiner ©egenwart erlebt maren.
®enn nad^ ©oetl^eö treffenbem 3Bort mu^ atte
SRationalbid^tung fd^al fein ober fd^al werben, bie
nid^t auf bem 3)ienfd^lid^ften rul^t.
3lud^ bie tragifd^en ©d^idffale finb rein menfd^-
lid^ unb werben nur burd^ il^re befonbere, von
3eit unb ©ittenjuftänben abt)ängige ärt national.
S)aö S^rauerfpiet ift fo wenig ein ?ßrimtegium beö
t)ornef)men Stanbeö afe ber ©egenftanb gteid^fam
einer äftf)etifd^en 9ied^t§forberung von ©eiten beö
bürgerlid^en. ®ie gelben ber l^ol^en S^ragöbie wie
bie ©l^araftere ber biirgerH(^en fönnen unfere
©mpfinbungen nur bann geioaltig unb fpntpatl^ifd^
ergreifen, wenn il^re ^anbtungen unb ©d^idEfale
aus ber ®rl^abenf)eit unb Äraft il^rer perfönlid^en
SRatur l^en)orgel^en , bie in jebem ^alle mäd^tiger
fein mu§ afe il^re SRangftufe. 2)ie Sffial^rl^eit beö
menfd^lid^en 2:f)emaö entliält unb verbürgt jugteic^
179
bie nationalen SSJirfungen ber bramatifd^cn Äunft.
3n biefcm ®eift bcbarf ba§ fogcnannte „bürgere
lxä)e 2^rauerfpiel" unb „rül^rcnbe Suftfpiel" einer
Umgeftaüung, toeld^e nid^t btoö bie alten ausgelebten
formen, fonbern anä) biefe neuerbingö entftanbenen
fraftlofen 3tt>ittergeftalten oerlä^t unb bie m ober ne
S^ragöbie, baö ntoberne Suftfpiel grünbet. 9iie=
manb l^at bie SRotl^toenbigfeit biefer fo einfallen
unb einleud^tenben 9ieform frül^er begriffen alö
9)iberot, niemanb bemfelben lebliafter beigeftimmt
unb bie aufgäbe beffer ju löfen t)erftanben aU
Seffing. S)ie SReform beö Sujifpiefe erf(^ien in ber
9Rinna von SBaml^etnt; bie beö 2^rauerfpielö toar
nid^t ©ara ©ampfon, fonbern würbe ©milia
©alotti. @rft nad^ biefen Umtoanblungen barf
oon ber beutfd^en 33ül^ne baö ©d^iHer'fd&e 3Bort
gelten :
©ttocitcrt je^t ift beä 5tl^catet8 ßngc,
3n fciTtcm Flaume btöngt fid^ eine Söclt,
^^lid^t incl^r bct SQßotte tebnctifd^ &tpxänqt,
^nx bet 3^1 a tut getreues SBilb geföHt;
SSetBannet ift ber ©ittcn folfd^e ©trengc,
Hub menfd^lid^ tebet, utenfd^lid^ fü^It ber ^elb.
S)tc Seibenfd^aft erl^ebt hit freien Zbm
Unb in ber SBal^tl^eit finbet man ba^ B^'öntl
180
n.
Seffing l^attc f autn fein crfteö bürgcrlid^eö S^raucr^
fpicl auögcfül^rt, alö er fül^Icn ntujstc, baJ3 e§ auf
Soften ber 3Ba{)r$ett ju rül^ren fud^e unb barum
in ber ißauptfad^e ©erfel^It fei. Unmotimrte SRül^s
rangen finb nid^t tragifd^, fonbern fentimental.
SJid^tö lag weniger in Seffingö 6l^arafter unb* ©e^
ntütl^öart, ate eine fold^e ^pflege ber ©mpfinbfamfeit.
SBie fremb ifim biefer ganje ©entütl^öjuftanb war,
jeigte fid^ in feiner 3l6neigung roiber ©oetfieö SBertl^r.
®a^ er ©terne berounbert l^at unb ju ber beutfd^en
Ueberfefeimg feineö Siomanö baö 3Bort ,,empfinb'
fam" erft geliefert l^aben foH, ift fein S^^Ö^ife ba^
gegen; bie ©ad^e war nid^t fein Clement, unb eö
ift t)on einem ber grünbüd^ften Äenner Sefflngö
nid^t unrid^tig bemerft roorben, ba§ er in feiner
(Sara baö erfte unb einjige aJlal in feinem 2eitn
langweilig geworben fei. 3iod^ in bemfelben Saläre,
worin biefeö ©tüdE oottenbet imb aufgefül^rt würbe,
befd^äftigte il^n ber ©ebanfe eineö neuen bürger-
lid^en ^rauerfpiete (1755).
181
äte 9licoIai 6alb nad^l^er feine erfte 3^ttfd^rift
eröffnete, bie nid^t bloö ben fd^önen SBiffenfd^aften,
fonbcm aud^ ben freien fünften, inöbefonbere bem
beutfd^en 21^eater geroibmet fein follte, üerfünbete
er einen öffentUd^en ^ßreis für baö befte beutfd^e
S^rauerfpiel. Seffing toar mit bem ©tüdE, meldte«
ben ^ßrei« erl^alten follte, bem „ßobruö" oon
ßronegf, nid^t jufrieben. „SEBenn id^ ein paar
rul^ige ©tunben finbe," fd^rieb er auö Seipjig ben
22. Dctober 1757 an äRenbetefofin , „fo roiH id^
einen 'Sßtan auffegen, nad& roeld^em id^ glaube, ba§
man einen befferen ßobruö mad^en fönnte." „®ö
arbeitet," fügt er l^inju, „{)ier nod^ ein junger
aRenfd^ an einem 2:rauerfpiel, meld^es meQeid^t
unter allen ba§ befte werben bürfte, menn er nod^
ein paar 3Ronate 3^W barauf ©erraenben fönnte."
®ief er junge 9Kenf d^ mar er f elbft , ^ unb mir
erfal^ren aus einem etmaö fpäteren Sriefe an 5Ricolai
ben ©egenftanb feiner S)id^tung. Dbmofil ßronegf
geftorben, folle fein ©tüdE gefrönt unb ber boppette
^ßreiß für ein neues S^rauerfpiel auögefd^rieben
merben. S)abei rebet Seffing fd^erjenb in ber britten
5ßerfon von fid^ unb feiner Semerbung. „Unterbe§
mürbe mein junger 2^ragifu§ fertig, t)on bem id^
182
mir nad^ meiner ®itelf eit mel ® uteö oerfpreiä^e,
benn er arbeitet jiemüd^ wie id^. ®r mad^t aUe
fieben S^age fieben Briten; er erweitert unaufpr-
lid^ feinen 5ßlan ujtb ftreid^t unaufl^örlid^ etn)Q§
von bem fd^on aufgearbeiteten roieber an^, ©ein
jeligeö ©ujet ift eine bürgerlid^e SBirginia, ber
er ben Stitel @milia ©alotti gegeben. ®r l|at
nämlid^ bie ©efd^id^te ber römifd^en SSirginia Don
allem bem abgefonbert, roaö fle für ben ganjen
©taat intereffant mad^te, er fiat geglaubt, bafe baö
©d^idffal einer S^od^ter, bie von ifirem SSater um=
gebrad^t wirb, bem if)re S^ugenb mertl^er ift afe
il^r Seben, für fi(^ tragifd^ genug unb fällig genug
fei, bie ganje ©eele ju erfd^üttern, wenn aud^ gleid^
fein Umfturj ber ganjen ©taatöoerfaffung barauf
folgte, ©eine 3lnlage ift nur von brei äcten
unb er braucht ol^ne Sebenfen atte greil^eiten ber
englifd^en Sül^ne. 3We]^r wiH id^ Sinnen nid^t ba-
von f agen ; f o üiel ift aber gewife, id^ wünf d^te ben
®infall wegen beö ©ujetö felbft gel^abt ju liaben.
e^ bünft mid^ fo fd^ön, ba§ id^ e§ o^ne ^mVjtl
nimmermel^r burd^gearbeitet ptte, um eö nid^t ju
t)erberben. 3Baö meinen ^lan von einem ßobruö
anbelangt, fo muffen ©ie mir ad^t SCage 3^'*
183
laffen, um mid^ auf alles ju befinnen; man fd^icft
niiä^t 5ßlänc ju S^ragöbicn ober gar ^^ragöbien felbft
mit erjler ^oft." ©o fd^rieb Seffing ben 21. Januar
1758.
®a§ fein ©tücf in ber erften unb ätteften
^orm nur brei acte gefiabt, roieberl^olt Seffing
pierjel^n Satire fpäter in einem 33rief an feinen
Sruber (10. gebr. 1772); er fügt ^inju, bajg et
biefeö SBerf in Hamburg von 5Reuem bearbeitet,
aber in biefer jroeiten gorm nur für bie 33ü{)ne,
nid^t für ben S)ru(f beftimmt l^abe. 3iicolai be=
rid^tet, baj3 er ben 5ßlan ber ®milia in brei Steten
gefeiten, unb bafe nad^ bemfelben bie SRoHe ber
Drfina nid^t, n)enigftenö nid^t auf bie jefeige 3lrt
oorl^anben war. Seiber finb unö beibe 2lrbeiten,
ber erfte Seipjiger ©ntwurf wie ba§ Hamburger
Sül^nenmanufcript verloren.
35ie lefete Umbilbung, woburd^ bie ©id^tung
il^re gegenwärtige ©eftalt erhalten l^at, fättt in bie
erften Saläre ber SBoIfenbüttler 3ßit. 2!n einfamer
©titte rodd^ft bie neue S^ragöbie unb wirb ooQenbet,
ol^ne baj5 Seffing mit irgenb einem e?reunb in ber
3liä)e barüber reben unb an bem ®inbrudE unb
Urtl^eil, bie feine S)id^tung l^eroorruft, beren SBir^
184
fung erproben fann. „3d& ^)abe über feine 3^^
berfelben eine ©eele n)eber l^ier nod^ in ^mburg
fönnen •ju Statine jiefin.'' ^m S^nuar 1772 fenbet
er bie brei erften 3lcte feinem Sruber nad^ Serlin,
um fie brnden ju laffen ; ben 1. aWärj folgt ber
©d^lufe. 3lm ©eburtätage ber ißerjoginsaBitttoe,
ben 13. m&xi 1772, mirb baö SBerf juni erfien
•3Kal in Sraunfd^weig aufgefül^rt. ®ß war ein
feltfamer Einfall beö 2^l^eaterbirectorö C^bbbelin),
an einem fold^em 2^age ein fold^eö ©tüd auf bie
Sül^ne iu bringen, nod^ baju, ba man 3lnfpielungen
auf ben ^of unb bie ©eliebte be§ ^erjogö, bie
aWarquife Sranconi, barin mittern wollte. Seffing
empfanb bie SBafil beö S^ageö auf baö ^ßeinlid^fie
unb fud^te bie 3luffü{)rung baburd^ ju vtxf)xnbexn,
bafe er bem 2^l^eaterbirector ben ©(ä^lufe ber Xxa^
göbie oorentl^ielt, biö biefer il^m brofite, fetbfi einen
}u mad^en. ®r fenbete bem Serjog perfönlid^ bie
gebrudten Sogen bis jum 4. 3lct mit ber Sitte,
baö ©tüdE felbft lefen unb feine SBittenömeinung
über bie äuffül^rung funb geben ju motten, fattö
il^m an einem fo erfreulid^en S^age bie S)arftettung
eines 2^rauerfpiete überl^aupt nid^t fd^icElid^ erfd;iene.
3)aö ®anie fotte „weiter nid^t§ fein, aU bie
185
alte römifd^e ©efd^id^tc ber Sßirginia in
einer mobernen ©infleibung". S)et ^erjog
Hej5 bie aiuffül^rung gefd^el^en.
Seffingä g^reunb ®bert in Sraunfci^roeig, frül^et
Seigrer beö ©rbprinjen, bamafe einer ber beften
Äenner ber englifd^en Siteratur, roax jugegen unb
empfing ben erflen ®inbru(f be§ ©türfö burd^ bie
Sül^ne. 85iö in*ö S^nerfte erfd^üttert, fd^rieb er
gleid^ barauf bem ©id^ter: „3d^ beftnbe mid^ eien
jefet in bem Stalle, morin fid^ jener ©d^üler in
®nglanb befanb, ba i^m aufgegeben marb, eine
©rabfd^rift auf 85en Soi^nfon ju mad^en. 6r fonnte
nid^ö weiter l^ert)orbringen alö ,0 rare Ben John-
son!* 3<^ l^abe bie ©mpfinbung, bie id^ einmal
bei S)urd^lefung ber erften ©cenen Sl^rer SUiinna
^atte. D ©]^afefpeare=Seffing!" S)er Srief
fd^liefet mit ber SBieberl^olung biefeö begeifterten
Slusrufö: „D ©l^afefpeare-Seffing !"
3[fe Seffing feine ®milia ©alotti in ber legten
©eftalt auöfül^rte, bid^tete ©oetl^e feinen ®öfe in
ber erften ; ßeffingö ^ragöbie erfd^ien in bemfelben
Saläre, mo ©oetl^e in SBefelar jene Stimmungen
erlebte, auö benen fein SBerti^er l^eroorging. Sßierjig
Saläre nad^ ber erften Sluffül^rung ber ®milia ©alotti
186
äußerte ©octl^e in einem feiner Urtl^eile barüber
(bie nid^t immer biefelben waren) : „S5aö ©tüd ifl
t)otter aSerftanb, voller SBBelsl^eit, t)offer SBIide in
bie 3Belt unb fprid^t überl^aupt eine ungel^eure
©ultur au§, gegen bie mir jeftt fd^on mieber Bar-
baren finb. 3^ i^i^^^ 3^it mu§ eö neu erfd^einen."
3n einem feiner legten Sriefe, ein Sal^r vor feinem
2^obe, erinnert er feinen greunb S^ltex, ber Seffingö
S^ragöbie nid^t mel^r ju mürbigen mufete, an bie
6pod^e, morin fie entftanben : „Sm feiner 3^it ftieg
biefeö ©tüdE, mie bie Snfel ®eloö, aus ber ©ottfd^eb^-
®elIert=2Beiffe*fd^en SBafferflutf) , um eine freifenbe
©öttin barml^erjig aufjunel^men. SBir jungen Seute
ermut^igten uns baran unb mürben Seffing beöl^alb
t)iel fd^ulbig."
S)ie ©rfd^einung ber ®milia ©alotti mar bie
©eburt ber mobernen beutfd^en S^ragöbie.
SRad^ einer 3Witt]^eiIung ©oetl^eö foll fid^ ©dritter
mit Abneigung über Seffingö ©tüdEe, ja mit SBBiber-
mitten über ®milia ©atotti geäußert l^aben. SBir
fennen meber feine ©rünbe nod^ beren B^wgniffe;
menn e§ nid^t etma biefelbe ©timmung mar, bie
•
il^n in fpäterer 3^W miber feine eigenen Sugenbs
merfe einnal^m. 35iefe beurfunben, mie mäd^tig
187
ba§ SSorbitb Scffingö, inöbefonberc ®milia ©alottt,
auf ben größten unferer tragifd^cn ©id^tcr cinge^
toirft i)at. ®er einflujs biefcö ©tüdcd auf ©dritter
tft fo unt)crfennbar unb l^anbgrcifl^, ba§ er jebem
inö Sluge fpringt. S)cr SBcg unfercö bürgerlici^en
^Trauerfpiefe mufete t)on ber ©ara ©ampfon jur
ßmilia ©alotti emporgeftiegcn fein, um in ber
Souife 3JJiIIerin, biefem SWeifterftüd unter ©d^illerö
jugenblid^en 3)id^tungen , ju gipfeln. Dl^ne bie
©räfin Drfina gäbe eö feine Sabp aWilforb, bie
felbft TOieber eine SRenge oon SRad^bilbern l^erüor-
gerufen. <S^on im gieöfo jeigen fid^ bie Sefflng^
fd^en aSorbilber. ä^^f^^^i^ '^^^ 5ßrinjen ^ettore
©onjaga unb bem ©rafen Saoagna, jmifd^en Dboarbo
unb aSerrina, jwifd^en bem aWaler 6onti unb bem
5IRaIer SRomano, ja felbft jmifd^en bem Sanbiten
Sttngelo unb bem 3Wo]^ren 3JhiIei ^affan finben fid^
in ber 2lrt ber (Sl^araftere unb ber bramatifd^en
SluöbrudEömeife gemiffe 3^9^ ^^^ aSermanbtfd^aft,
bie mir unmillfürUd^ empfinben. 3lud^ baö Silb
ber aSirginia im e?ie§fo erinnert an ba§ Urmotit)
in ber ©milia ©alotti. 3lber ber ©inftufe biefer
5Cragöbie auf ©dritter erfd^eint in „Äabale unb
Siebe" fo gewaltig unb tiefeinbringenb, bajs er nid^t
(
188
6loä in bcr 5Rad^bilbung bcr ßl^araftere, fonbern
fogar in ber 3la(S)af)vxnnQ ber SBortc unb im ©tit
beö äuöbrudfö mit bcrSKad^t einer unroiQfürUd^en,
bem S)id^ter felbft faum beroufeten SReminiöcenj
fortn)ir!t. ©dritter l^örte feine eigenen ßl^araftere
mit SBorten reben, bie auö ber ®miHa ©alotti
fierfamen. „SBie er baftefit, ber ^err ^Rar^
d^efe!" fagt bie ©räfin Drjina von aWarinetti.
„SßJaS er für Singen mad^t! 933nnbert fid^ ba§
®el^irnd^en? unb vorüber benn?" (IV. 3). 3«
ber ©cene mit bem ^ofmarfd^all Äalb ruft g^erbi^
nanb: „2Bie er baftel^t, ber ©d^merjenöfol^n!
©d^abe nur, eroig ©d^abe für bie Unje ®e{)irn,
bie in biefem unbanfbaren ©d^äbel roud^ert !" (IV. 3).
Drpna ju aWarinelli: „Semen ©ie, nad^plauberm
beö igofmännd^en, lernen ©ie von einem SBeibe,
bafe ©teid^gültigfett ein leereö SBort ift" u. f. f.
Sabi) 3Wilforb ju Äalb: „S)a§ ift beine ©orge, bu
©olbmann ! Seiber weife id^ eö, bafe bu unb beineö^
gteid^en am 5Rad^beten beffen, n)a§ anbere getl^an
f)aben, erwürgen !" 3^/ ^^ 9^^t ©teQen, bei benen
jebe SBergleid^ung ber ß^araftere nid^t bloß auöge^
fd^loffen, fonbern üoQfommen unmöglid^ ift, unb
bennod^ biefelben SBorte nad^Hingen: ein Seroeiö,
189
baj3 ©dritter fid^ nid^t beroufet war, toeld^cö Driginal
ü^m bei feinen SBBorten üorfd^webte. ®er ®raf
Sppiani fagt ju feiner SBraut, wie er l^ört, bafe fie
ou§ ber aWeffe fommt: „©o red^t, meine ©inilia!
3d^ Tüerbe eine fromme grau an Sinnen
l^aben." Unb ber ©ecretär SBurm, me er l^ört,
baj3 Souife aWillerin in ber aReffe ift, fagt ju ber
3Rutter: „®aö freut mid^! freut mid^! 3d^
toerbe einmal eine fromme d^riftUd^e grau
an il^r l^aben!"
©eit jenen Xa^m in ßeipjig, afe ßeffing an
3Jlenbetefol^n fd^rieb: „6ö arbeitet l^ier nod^ ein
junger 3Wenfd^ an einem S^rauerfpiel, roeld^eö vitU
leidet unter allen ba§ befte werben bürfte, wenn er
nod^ ein paar SJionate 3rit barauf cerroenben f önnte"
— waren nal^eju fünfjel^n Saläre ©erfloffen. 3Bäl^=
renb biefer 3^t ^ötte ßeffing feine neue gäbet
bid^tung, bie Slbl^anblungen über bie gäbet, ben
?ßl^ilotaö, feine Seiträge ju ben Siteraturbriefen,
SJiinna von SBarnl^elm, Saofoon, bie Hamburger
Dramaturgie unb bie antiquarifd^en Sriefe erfd^einen
laffen. 3Ba§ bie neue bürgerlid^e S^ragöbie betraf,
toar ©milia ©alotti nid^t ber einjige, aud^ nid^t ber
erfte 5ßlan, womit er fid^ trug. ®r l^atte üorl^er
190
bie 3lbfid^t, bie römifd^e SSirginia felbfi jutn
2^l^ema einer ©{(ä^tung ju nel^men, von ber in
feinem tl^eatraüfd^en 3la^ia^ nur ein einjigeö Keines
gragment, bie erfte ©cene, übrig geblieben iji*),
SBal^rfd^einlid^ l^at Sefjing biefen ©egenfianb gleid^
nai) ben erften SBerfud^en fallen laffen, weil er eine
moberne S^ragöbie bid^ten rooHte unb baju in
bem römifd^en ©toff feine braud^bare ^abel fanb.
@r mad^te auö bem Dbject ein 3R o t i t) , ein blofeeö
SUiotio, baö er unabl^ängig von bem römifd^en SSor-
bilbe in feiner ®miüa ©alotti auöfül^rte. ®ö wäre
eine oberfläd^Iid^e unb üöHig falfd^e 3lnfid^t, auf
bie n)ir nod^ einmal jurücEfommen werben, wollte
man bie römifd^e SBirginia für bad SKobcII ober
für bie ©runblage ber Seffing^fd^en S^ragöbie l^alten.
S)ie Seibenfd^aften unb ©d^idEfale, bie nn^ biefe
35id^tung fd^ilbern foll, pulfiren in ber mobernen
SBelt unb fiaben mit römifd^en 3Serf)ättniffen unb
SRed^töjuftänben nid^tö ju tl^un. 5Rid^tö mit ben
SBirfungen ber 2:i^at beö aSirginiuö, nid^tö mit ifiren
*) ein futaeg (Sefrräd^ atoiWen ©laubiuS unb 9hifu8,
2)ienern beS 5l|jpiuS; bem fie hit SSirginia aufül^ten fotten.
2)er Plante „QXaubia" erinnert nod^ an eine $erfon hit]t^
S5rud^ftüd3.
191
Urfad^cn! ©rflärte bo^ ßcfjtng felbfi gletd^ int
Scginn fctneö SEBerfeö: bad Xf)tma ber ©milia
©alotti fei bie ©cfd^id^te ber römifd^en aSirginia,
abgefonbcrt von allem bem, roaö fie für
ben römifd^en ©taat intereffant tnad^te,
of)ne bie ?Jolgen, bie fie in SRom l^atte. SBenn
aber bie Urfad^en unb bie SBirfungen fel^len, toeld^e
bie 2:]^at beö aSirginiuö ju einem ©tüd römifd^er
©efd^id^te gemad^t liaben, fo bleibt von ber lefcteren
gar nid^tö alö baö rein menfd^lid^e unb f)od^tragifd^e
3Rotit) übrig: ein aSater, ber feine ^od^ter tobtet,
um fie ju retten ! ®ine fold^e X^at unb ein fpld^eö
Sd^idffal, meinte Seffing, fei für fid^ tragifd^ genug
unb fällig genug, bie ganje ©eele ju erfd^üttem.
Unb menn er megen ber Sluffül^rung be§ ©tüdEö
bem iget^oge fd^rieb, feine S)id^tung foHe nid^tö
weiter fein alö bie „alte römifd^e ©efd^id^te ber
aSirginia in mobemer ©infleibung", fo mufe mol^l
jebem einleud^ten, bajs Seffing l^ier nid^t fein SBerf
d^arafterifiren, fonbern auf bie fürjefte Slrt ben
falfd^en unb i^m peinlid^en aSerbad^t entfernen
TDoHte, ate ob er braunfd^meiger fiofoerliältniffe im
Sluge gel^abt l^abe. ©al^er mujs jebe Seurtl^eilung
unferer S^ragöbie t)erfel)rt auöf allen, bie von ber
192
vexU^xizn SBorauöfelung auögel^l, bcr ®id^cr l^be
eine ^ad^bilbung ber röniif(ä^en SBirginia bcabfu^^tigt.
2Bir TDiffen bereits, toie toenig eine fold^e Slnnal^mc
mit Seffingö eigenen unb erften 6rflärungen fUmmt.
3lber gleid^mel, n)aß er im Slnfange getoollt ober
nid^t gewollt l^aben mod^te, eß wirb barouf an^
lommen, maö er getl^an \)at 3tnx ba§ bei einem
Sefjing bie bid^terifd^e 21^at nid^t anbere SBege
nal^m, afe bie planmäjsig t)orgejeid^neten.
®er tragifd^e ©toff, ben unfer 35id^ter fd^on
t)or ber ©milia ©alotti ergriffen j^otte unb neben
ii^r ^a^xe lang unter feinen bramatifd^en 3lufgaben
unb Slrbeiten feftl^ielt, voax bie ©efd^id^te t)om
D'r. gauft. ®§ fd^eint, bafe Seffing unmittelbar
nad^ ber ©ara fid^ biefeö ©toffö bemäd^tigen wollte,
um eine neue unb mobeme S^ragöbie barauö ju
löfen. SBenigftenä erfunbigte fid^ 3Wenbel§fol^n fd^on
im SRooember 1755 nad^ bem bürgerlid^en J^rauer-
fpiel, toeld^eö gauft l^eijsen follte, unb mit feinem
Sauberer, ber t)om 2^eufel gel^olt mirb, bem aufge^
flärten ^pi^ilofopl^en alö ein 2^rauerfpiel jum £ad^en
erfd^ien. SBir miffen, ba§ ber S)id^ter oiele Saläre
fpäter TOieber mit atter Äraft an biefem SBerfc
arbeitete unb bie 2lbfid^t l^atte, feinen gauft mäJ^renb
193
bed SBinterö 1767 — 68 an bem neuen igamburger
3laüonaÜf)eatev aufführen ju laffen. 316er wenige
3eit nad^l^er roill er nid^t mel^r baran erinnert fein ;
ber g^auft t)erfd^n)inbet für immer aus Seffingö
bramatifd^en ^planen; bis auf ein paar bürftige
©fijjen ift baö SBerf aud^ an^ feinem 5Ra(ä^laJ5, bis
auf einige bunfle ©puren aud^ aus bem ®ebäd^tni§
berer oerfd^munben , bie es naiver gefannt l^aben
TOolIen. 3" berfelben 3^it, als ßefflng in Hamburg
bie @miüa ©atotti von 3?euem aufnafim unb für
bie Sül^ne umarbeitete, liefe er ben gauft fallen,
für immer, mie es fd^eint. ©iefes ©tüdE trat jurüdf
gegen @milia ©alotti. SeneS ^Problem, bas ßef-
fing in feinem jmeiten g^auft ergriffen l^atte, mürbe
in bem ßl^arafter SUiarinellis gelöft, ben man,
ol^ne ben tieferen 3wfö^^^"^ö"9 ä^ fennen, in
rid^tiger gül^lung oft eine 3lrt SlWepl^iftopi^eleS ge=
nannt l^at, unb ber fd^on in ber Slnlage bes alten
©türfö ganj baju angetl^an fein mufete, ber un^
nergteid^lid^e S^ppus eines menfd^lid^en 2^eufels ju
merben*).
*) Ucbct Seffingä 3fauft unb (SmiUa (Salotti t)gl. ben
tootiflcn Slbfd^nitt @. 163-64.
Äuno gftfd&er, 0. g. Sefflng. I. 1%
194
m.
tnx^U.
3(j^ glaube ben Orunb ju crfennen, ber Seffing
betoog, fid^ in bcr SBal^l beö auöjufüfirenben ©toffä
fo unb nid^t anberö ju entfd^eiben. ®ö galt bie
SRefotm ber S^ragöbte. ©leid^jeitig bef(ä^äftigten il^n
eine neue bül^nengered^te Bearbeitung ber (Smilia
©alotti unb be§ g^auft: biefe beiben SBBerfe, beren
iebeö ein ^robeftüd ber mobemen S^ragöbie werben
fottte, ftanben bamafe jufammen in ber t)orberften
SReif)e unter ben aufgaben be§ ©id^terö. ©leiii^'
jeitig f (abrieb ber Eritifer feine Hamburger ©ramo-
turgie, worin er bie ®efe|e begrünbete, bie eine
ed^te S^ragöbie ju erfüQen l^abe. ©ein näd^fteä
3Berf mufete eine ©id^tung fein, bie ben gorbe^
rungen feiner Dramaturgie auf ba§ ©enauefte ent^
fprad^. 6r fal^, bafe er eine fold^e 3lufgabe mit ber
grabet feineö g^auft meber in ber erften nqd^ in ber
jroeiten ©eftalt ju löfen im ©tajtbe fei ; barum gab
er baö ^project auf, benn bie SBelt burfte fein SBerf
feiner ^anb empfangen, baö ben g^orberungen feiner.
195
Sritif nxä)t üöllig gemäfe war. „3Kan nenne mir
baö ©tüd bed großen ßorneille, baö id^ nid^t beffer
mad^en wollte! SBa§ gilt bie SBette? 3d^ werbe
eö juoerläffig beffer mad^en !" 3Jlit biefer aSerfid^e=
tung l^atte er feine S)ramaturgie gefd^toffen. ©ein
SBort fottte in ber ©milia ©atotti erfüllt werben.
6ö giebt jum aSerftänbnife unferer S^ragöbie feine
SUd^tfd^nur, bie fidlerer füf)rt ats bie SRegeln, bie
Seffing in feiner S)ramaturgie ate bie 3?aturgefefte
ber 5Eragöbie entwidfelt l^at, unb bie if)m jugleid^
ate bie wafire, t)on ben g^ranjofen, insbefonbere
von ßorneitte falfd^ aufgefaßte £ef)re be§ 3lriftoteleö
galten. 5RamentIid^ waren eö brei neuere S)ramen,
beren gel^Ier Seffing in feiner Seurtl^eitung jum
ainlafe nal^m, um burd^ beren ©rfenntnife ba§
SBefen ber waf)ren S^ragöbie ju erteud^ten: 31 i=
d^arb IQ. t)on SBeifee, 3Werope t)on aSoItaire
unb bie Jlobogune, wetd^e ber grofee ßorneille
für fein 3Weifterwer! erflärt liatte. Unb e§ finb
brei ^auptpunfte, bie naä) Seffing bie 3iatur einer
tragifd^en 25id^tung auömai^en unb beren Siegeln
beftimmen: bie 3Birfung, bie g^abel unb bie
^anblung. Unter ber SBirfung ift bie ©rregung
unferer Slffecte, unter ber gäbet bie 2lrt beö Stoffes
1
196
ober bcr Segcbcnl^eit (a)l9tl^uö), unter ber ö^^nb^
lung bie STrt ber ßompofttton ju t)erftel^en.
1. fie tragifitfe ptrkiing.
®ie 2:ra98bie, l^atte Slriftoteleö geleiert, foH in
imö 9Jlittetb unb fjurd^t jugleid^ erregen unb Iduteni:
in biefen beiben t)erbunbenen unb geläuterten Slf^
fecten liegt bie tragifd^e SBirfung.^ ©egenftotib
unfereö aWitleibö ift bas unt)erbiente Seiben eine«
anbern, ® egenftanb ber g^urd^t finb tpir f elbfi ; voxx
bemitleiben an anberen, roaö wir für unö felbjl
fär(^ten. SBenn mr t)on bem Seiben eines anbern
fo tief ergriffen unb erfd^üttert werben, bafe wir
ganj in feiner ©eele etnpfinben, unö ganj in feine
Sage üerfefeen, fo tritt uns bas frembe Seiben fo
nal^, bafe voix es fürchten. Salier ift bas lebl^afte,
erfd^ütternbe SKitleib nie ol^ne gur(^t. SEBirb bad
3Kitleib ol^ne %vixä)t entpfunben, fo ifl es bie ge^
laffene, bequeme, gemütl^li(^e ©^mpatliie, eine
tnenf(^enfreunbli(3^e ©mpfinbung, wobei man felbfl
in l^eiler ^aut bleibt unb bie Sebensjuftonbe an^
berer ]^erjli(^, aber ruf)ig bebauert. ®in fold^eS
3Ritleib ift nid^t tragifd^, fonbem gemdd^lid^; bie
Dbjecte beffelben finb nid^t ©d^idffale, fonbem Un^
197
fäAC/ nid^t trogifd^c, in bcn menfd^Iid^en ßl^araftcrcn
bcgrüttbete SRotl^roenbigfcitcn, fonbcm SJlall^eur aller
Slrt, wie es bic menfd^Ud^en Sebcnöjuftänbe taufenb=
fad^ mit fid^ bringen. S^ragifd^ ift nur baö er^
fd^ütternbe BWitleib, ba§ 3Kitteib mit bem 3ngrebienö
ber fjurd^t. ®s ift baffelbe, ob wir fagen: „3Rit-
leib unb gurd^t" ober: „erfd^ütternbeö, überioältis
genbeö 3Kitleib", biefeö allein ift ber tragifd^e
SKffect: biejenige SBirfung, bie nur eine wal^re
2^ragöbie l^eroorjubringen vermag. 3Wan wirb oon
ber Sefd^affenl^eit ber SEBirfung auf bie ber Urfad^e
fd^Iiefeen bilrfen. ©otten n)ir bas 3DlitIeib auf baö
Sebl^aftefte empfinben, fo muffen mir baö frembe
Seiben ate ein gegenmärtigeö anfd^auen, es barf
unö nid^t bloö erjäl^It, fonbern mitt bramatifd^
bargeftellt merben. ©efeen mir, baö frembe £eiben
fei t)öttig oerbient. afe bie geredete ©träfe ber 33o§5
l^eit, fo ift nid^ts, wa^ mir bemitleiben, nod^ njeniger
fürd^ten fönnten: barum ift ber blofee SBöfemid^t
feine tragifd^e ^ßerfon. ©efeen mir, baö frembe
Seiben fei t)öttig grunbIo§, burd^ gar nid^ts vex^
fd^ulbet ober . von ©eiten ber leibenben ^ßerfon
t)erurfad^t, fo ift nid^tö, xoa^ mir als unfer eigenes
©d^idffal empfinben unb fürd^ten fönnten, fo ift
i
19.8
unfcr 3KitIeib 6loö Jammer unb boö fieiben tjor
unferen 2lugen nid^t tragifd^, fonbern 9rä§Ii<i^:
barutn mad^t bic üöttigc unb reine Unfd^ulb nie
einen 6l^ara!ter t)on tragif(3^er SSJirfung. Um bie
lefetere l^ert)ot^ubringen, wirb. bie Slufgabe bet
roal^ren ^ragöbie barin beftel^en muffen, bag fic
Ieibenöt)otte ©d^idfale barftettt, bie nid^t t)erbient,
mol^t aber üerfd^utbet finb. S)en ©inn biefer ^or-
berung ju erläutern, fagt Seffing in einem ber
roid^tigften Säfee feiner 25ramaturgie : „®in 5Wenfd^
fann fel^r gut fein unb bod^ nod^ mel^r aU eine
©d^n)ad^f)eit f)aben, mef)r ate einen ^el^Ier begel^en,
rooburd^ er fid^ in unabfel^Ud^eö Unglüdf ftüt^t, baß
uns mit 3Kitleib unb SEBel^mutf) erfüllt, ol^ne im
geringften gräfelid^ ju fein, weil eß bie natür-
üä)e e^olge feines g^el^lers ift."
3Son biefem ©efid^tspunft aus, ber t)on ber
tragifd^en Äunft bie SBirfung bes tragifd^en 3Wit^
leibs forbert, prüft ber SSerfaffer ber S)ramatur9ie
bie Sül^ne ber ©egenmart. „333ir S)eutfd^e be^
fennen es treul^erjig genug, bafe mir nod^ fein
S^l^eater f)aben. SBas oiele t)on unfern Äunftrid^teni,
bie in biefes Sefenntnife mit einftimmen unb gro^e
SSerel^rer bes franjöfifd^en S^l^eaterS finb, babei
199
benfen: baö fann i^ fo eigcntlid^ nid^t mffen.
Slber i^ n)ci§ tool^I, toaö id^ babci bcn!e. ^ä)
bcnfe nätnlid^ babei: bafe nid^t allein mr 25eutfd^e,
fonb cm ba§ aud^ bie, rocld^e fid^ feit l^unbcrt S^^i^en
ein S^l^eater ju l^aben rül^ttien, ja baö beftc Xi)eatex
von ganj ®uropa ju l^aben praf)teh, — ba^ au(^
bie gtanjofen nod^ fein S^l^eater f)aben. Äein tra=
gifd^eö geroi^ nid^t! 2)enn aud^ bie ©inbrüdfe,
roeld^e bie franjöfifi^e S^rogöbie mad^t, finb fo flad^,
fo falt !" „S(^ fenne üerfd^iebene franjöfif(^e ©tüde,
roeld^e bie unglüdflid^en eJotgen irgenb einer Seiben^
fd^oft red^t rool^I ins Sid^t fefeen, auö benen man
oiele gute Seigren, biefe Seibenfd^aft betreffenb,
jiel^en fann: aber id^ fenne feineö, n)el(^eö mein
3Witleib in bem ®rab erregte, in roeld^em bie
S^ragöbie e§ erregen fottte, in weti^em id^ aus oer*
fd^iebenen gried^ifd^en unb englif(^en ©tüden geraife
weife, bafe fie es erregen fann. SBerfd^iebene fran^
jöfifd^e S^ragöbien finb fel^r feine, fel^r unterrid^tenbe
SBerfe, — nur bafe es feine S^ragöbien finb. S)ie
SSerfaffer berfelben fonnten nid^t anbers als fef)r
gute Äöpfe fein, fie t)erbienen jum S^l^eil unter ben
©id^tern feinen geringen 9?ang, nur bafe fie feine
tragifd^e ^id^ter finb, nur bafe i^r ßomeitte unb
200
3lacine, i^r ßrebitton unb SSoltaire von bcm roemg
ober gar nid^tö \)aben, xoa& ben @opl^oHed )um
©opl^ofles, ben ©uripibeö jum ©uripibed, ben
©^afefpcore jum ©^afcfpcorc mad^t."
2. 5er trugtfJlre f t^ff*
SBoburd^ toirb baö tragifd^c 3Dlitleib erregt?
®§ fianbelt fid^ in ber SBeontroortung biefer ^xa^t
junäd^ft um ben ©toff ober Snl^alt ber tragifd^en
SBegebenl^eit : um bie gabel bes ©tüdö. Sefjing,
in Uebereinftimmung mit Slriftoteleö, legt auf biefen
5punft großes ©eroid^t. „Xtnn bie g^abel ift eö,
bie ben ^id^ter üornel^mlid^ jum 2)id&ter mad^t:
©itten, ©efinnungen, Sluöbrudf werben jel^nen ge^
ratfien gegen einen, ber in jener untabel^aft unb
t)ortreffltd^ ift."
SBenn ber g^einb burd^ ben g^einb leibet, feigen
mir eine 35egebenf)eit vor xm^^ bie fo fel^r im ge^
möl^ntid^en ®ange ber 25inge liegt, baß fie unfer
3WitIeib in meit geringerem @rabe l^eruorruft, afe
menn ber tragifd^e SSorgang smifd^en g^eunben,
©atten, SSermanbten ftattfinbet, menn baö ©d^idfal
ben 35ruber miber ben SBruber, bie ©attin roiber
ben ©atten, ben aSater roiber ben ©ol^n, ben ©ol^n
201
TDibcr bic BWutter, bic 3Dluttcr roibcr bie Äinbcr
treibt: Slgamemnon , bcr bic S^od^tcr opfert, Ät^s
tämneftro, bie ben (Satten erf dalägt, Drefteö, ber
bie 3D?utter tobtet, BWebea, bie il^re Äinber ertnorbet!
5lid^ts ift trogifd^er als ein ©toff biefer Slrt. ^oä)
finb in einem fold^en 2^ema nod^ geroiffe untere
fd^eibenbe 3Dlö9lid^!eiten enti^alten, bie 2lriftoteIes
in feiner ^ßoetif forgfältig auöeinanbergefefet unb in
ber ©attung ber tragifd^en eJabel gleid^fam afe bie
artbilbenben Unterfd^iebe betrad^tet l^at. ®ö ift für
\xn& von l^ol^em Sntereffe, in biefer Unterfud^ung
ben ©puren Seffingö ju folgen. Sene tragifd^e
^anblung, bie furd^terregenbeö 3WitIeib l^errorruft,
fann wiffentUd^ ober unroiffentlid^ gefd^el^en; fle
fann in beiben ^äüzn gefd^el^en fotten, aber burd^
eine günftige SEBenbung ber S)inge unterbleiben.
SEBiffentUd^ oottfü^rt Drefteö ben 3Dluttermorb, un=
roiffentlid^ fott Spl^igenie ben Drefteö tobten unb
erfennt nod^ ju red^ter S^it in bem gefangenen, jum
Dpfer beftimmten 3Kann il^ren SBruber. ißier wirb
ber Umfd^lag burd^ eine ®rfennung bewirft, bie
jugleid^ eine Ueberrafd^ung in fid^ fd^Ue^t. SSoItaire
l^atte in feiner 3Kerope eine äl^ntid^e Ueberrafd^ung
fo eingerid^tet, ba^ pe nid^t bloö ber ißelbin bes
<
202
©tüifö, fonbcrn oud^ bcm ^Publicum jugebad^t war.
3?un finben toir, bafe Scffing olö bie befte unb ein-
fad^ftc Slrt bcr trogifd^cn pöbeln eine fold^e tragifd^e
33egebenl^eit anfielet, bie jtoifd^en ^ßerfonen gefd^iel^t,
toeld^e einanber bie nod^ften auf ber 2Selt finb,
eine fotd^e 3Witleib unb gurd^t erregenbe ^at, bie
nid^t blos beabfid^tigt , fonbern oollenbet wirb,
roiffentlid^ unb ol^ne jebe fünftlid^e aSerroidftung,
womit ber Swfd^auer überrofd^t werben foll. „S)a§
armfelige SSergnügen einer Ueberrafd^ung !" ruft er
gegen aSoltaire ouö. „SBeit gefef)It, bo§ id^ mit
ben ttieiften , bie von ber bramatif d^en S5id^tfunfl
gefd^rieben l^aben, glauben fottte, man muffe bie
@ntn)idflung bem 3ufd^öuer t)erbergen. ^ä) badete
vxelmt^x, es foUte meine Gräfte nid^t über^
fteigen, wenn id^ mir ein SSJerf ju mad^en
oorfefete, mo bie ©ntmidflung gleid^ in ben
erften ©cenen vtxxat^tn würbe unb au§
biefem Umftanbe fetbft baö allerfiärffte 3m
tereffe entfpränge. gür ben3wfd^auer mu|
alles flar fein."
Seffing war mit ber tl^eatralifd^en Umgeftaltung
ber (Smilia ©alotti befd^äftigt, afe er biefe SQBorte
fd^rieb. ^ier ift bie befte unb einfad^fte 2lrt ber
203
ttogifd^en ^abel: ein aSater, bcr feine S^od^ter
tobtet, eine ^od^ter, bie ben Xob t)on ber ^anb
beö aSaterö ^rflel^t; bie SC^at gefd^iefit wiffentlid^, .
fie wirb t)om 33ater oottbrod^t, um bie S^od^ter ju
retten, fie wirb t)on biefer geforbert alö bie ®r=
füllung einer oöterlid^en ^Pflid^t; f)ier ift jebe 2lrt
erlünftelter Ueberraf(^ung auögefd^toffen unb adeö
gleid^ in ben erften ©cenen Kar, fo Hat, ba^ bie
ifotgenbe ®ntroi<flung t)orau§gefel^en unb jugleid^
mit ber größten Spannung erwartet wirb. 3Wan
nrtrb TOOl^I nid^t jroeifeln wollen, ba§ Seffing feine
@milia ©alotti im ©inn l^atte, aU er mit ben eben
angefül^rten SBorten in feiner Dramaturgie öffentlich
auöfprad^: er bürfe fid^ jutrauen, ein SBerf genau
biefer 2lrt ju fd^affen.
®ie ©ntroidflung fott bem 3wf(^auer t)ottfommen
flar fein, ötteö feinen natürlid^en unb notfiroenbigen
®ang gelten, um bie wal^rfiaft tragifd^e SBirfung
ju erreid^en. Damit ift gefagt, wie bie tragifd^e
^anblung verlaufen unb von bem Did^ter bar-
gefteHt werben fott. Daö ©efefe, weld^eö bie 6om=
pofition einer S^ragöbie ju erfütten l^at, lä^t fid^
204
nid^t einfädlet beftimmcn. ißörcn toir Scffingö eigene
©rflärung, bie gegen ßorneitte unb beffen vexmmU
Ud^e§ 3Weiftem)erf Slobogune gerid^tet .ift , benn in
biefent ©tü<f fanb fid^ in ber natunoibrigen unb
erfünftetten SSerroidflung ber Singe bos Sleufeerfle
geleiftet. ,,S)er natürtid^e ®ang reijet bo§ (Senie,
unb ben ©tümper fd^redft er ob. ®aö ®enie fönnen
nur Segebenl^eiten befd^äftigen, bie in einanber gc^
grünbet finb, nur Äetten von Urf ad^en unb SEBirfungen.
S)iefe ouf jene jurüdfjufül^ren, jene gegen
biefe abjuroägen, überall bad Ungefäl^r auö^
jufd^tie^en, atleö, was gefd^iel^t, fo gefd^el^en
ju laffen, bafe eö nid^t anberö gefd^el^en
fönnen: bas, baö ift feine ©od^e." „3)aÄ
®enie liebt ©infalt, ber SEBife SSerroidlung.''
ißier ift baö ©efefe ber S^ragöbie,* es ift baö
3?aturgefefe felbft: bie ©d^idffale foden bie notl^-
roenbigen fjolgen ber ^anbtungen fein, biefe bie
nqtjiroenbigen eJolgen ber Seibenfd^aften^ biefe bie
notf)n)enbigen folgen ber ßl^araftere. ©ne fold^e
eiserne unb einleud^tenbe SRotfiroenbigfeit gel^t burd^
ben ®ang einer tragifd^en ^anblung. „Xu ftrengftc
9?egelmäfeigfeit", fagt Seffing, „fann ben Heinflen
gef)Ier in ben ßl^arafteren nid^t aufwiegen."
205
2)ie großen unb dn^a^en Siegeln, bie Seffing
fo then fritifd^ erleud^tet l^at, fottten in ber ®milia
©alotti erfüllt toerben, in ber ftrengften eJortn, auf
ejemplorif d^e 9lrt ; fie mußten es, ober bie ©ratnas
turgie entf)ielt tl^atlofe SSJorte unb leere SBer*
fpred^ungen. $at Seffing biefe ©efefee ber S^ragöbie
in feinem eigenen SBerfe nid^t erfüllt, fo war er
fein ^Reformator unb fein 3Jleifter, fonbern ein
©tümper unb ^ßral^ler, ber nid^t ju leiften t)er=
mod^te, mag er ju leiften geforbert unb fid^ an=
l^eifd^ig gemacht l^atte. 3?un f)ören wir nod^ f)eute
mand^erlei Stimmen, bie Seffing als ben 3leformator
ber beutfd^en Siteratur jroar au^erorbentlid^ rül^men
tinb loben, baneben aber feine ©milia ©alotti fo
beurtfieilen, ba§ uns ber gepriefene 3Wann als ein
©tümper unb ^raf)Ier erfd^einen mü^te, roenn biefe
Äritifer ditä)t l^ätten. 3d^ mitt aber lieber glauben,
ba§ ein 2)ufeenb Äritifer nid^t miffen, was fie fagen,
als bafe Seffing in ber ®milia ©alotti nid^t raufete,
mas er tl^at, ober nid^t ausjufül^ren t)erftanb, was
^r in feiner Dramaturgie als ©efefe ber ^^ragöbie
auf bas Älarfte erfannt f)atte.
6r l^atte geforbert: bafe in ber tragifd^en SBer^
fettung ber SBegebenl^eiten überaß bex Qn^all ober
206
baö Hofee Ungcföl^r auögcfd^Ioff^n fein unb alle§
fo gcfd^el^cn fotte, ba^ cö nid^t anberö gefd^el^en
fönncn, ba§ bic ^anblungcn unb ©d^idffale üöttig
in ben Seibenfd^aftcn unb ßl^arafteren begrünbct
fein muffen. SSJäre nun bie ®milia ©alotti ein
3ntriguenftü<f, wie ml^aä) ju lefen fielet, fo
wäre fie baö ©egentl^eil t)on bem, was fie naä) Seffing
fein foin
®r l^atte geforbert, bafe adeö tragifd^e Seiben
burd^ bie ßl^aroftere motioirt fein muffe, barum
nid^t unüerfd^ulbet fein bürfe. 6s ifi unt)erbient:
baf)er baö 3WitIeib; aber nid^t unoerfd^ulbet:
bal^er baö furd^terregenbe 3Kitleib. SRad^brüdttid^
n)ieberf)oIt Seffing ben SluSfprud^ be§ 3lriftoteIeö :
„3Jlan mufe feinen ganj guten 3Wann ol^ne oH fein
aSerfd^uIben in ber S^ragöbie unglüdlid^ merben
laffen, benn fo waö fei gräfelid^." 'S&enn nun baö
®nbe ber ©milia ©alotti, wie t)ietfad^ ju lefen fielet,
t)öttig uncerfd^utbet wäre unb f)ier julefet mirflid^
baö pure Safter über bie pure Unfd^ulb triumpf)irte,
fo würbe Seffing in feiner 25id^tung ba§ ©räjslid^e
mit bem S^ragifd^en cermed^felt l^aben, mäfirenb er
beibeö in feiner Dramaturgie fo genau unb fd^arf
unterf(^ieben l^atte unb unterfd^ieben roiffen mottte.
207
Ober er mügtc fid^ bcn äuöfprud^ bcö 2lriftotcle§
fo ausgelegt l^aben, bafe in einer S^ragöbie jroar ein
ganj guter 3Wann nid^t unglüdlid^ werben bürfe,
VDof)l aber eine ganj gute g^rau!
IV.
^irgitiid titib §mUxa ^atotii.
S)ie römifd^e SSirginia fiirbt unf(^ulbig, fie wirb
geopfert, ein Sarnm auf bem 2tttare beö SJater^
lanbeö! ©in foI(|eö fd^ulblofeö 6nbe l^at Seffing
grunbfäfelid^ von ber S^ragöbie auögefd^Ioffen : fd^on
beö^alb fann baö aSorbitb ber ©milia ©alotti nid^t
bie römifd^e SBirginia unb il^r 2^l^ema nid^t bie
©efd^id^te ber lefeteren in mobemer ©infleibung fein.
aSBir werben beffer t^un, Seffing§ 2^ragöbie nad^
feiner Dramaturgie ju beurtl^eiten, ate nad^ feinem
Sriefe an ben ^erjog von Sraunfd^roeig.
®ie 2^f)at beö römifd^en 3Sirginiuö njurjelt in
altrömifd^en 3^^= unb Jled^tSoerl^ättniffen. . 25er
25ecemt)ir begefirt bie SSirginia unb befiel^lt einem
feiner ©Uenten, bas Jled^t ber £eibeigenf(^aft gegen
fie geltenb ju mad^en; fein Jlid^terfprud^ bekräftigt
ben falfd^en Jled^töanfprud^ , baö 3Wäbd^en tjerfättt
208
bcr rollen ©croalt unb fott ote Seute njeggcfül^rt
werben ; ba erbittet fid^ ber SBater eine lefete Unter-
rebung mit ber 2^od^ter unb burd^bol^rt fte, um ü^re
®l^re unb greil^eit ju retten, ouf offenem SWarft
mit einem ©d^Iad^tmeffer. S)as SHed^t beö ißerm
über bie ©clamn unb ber t)äterHd^en ©eroolt über
bie S^od^ter finb bie SBorauöfefeungen ju ber ^at
beö SBirginiuö; bie ganje ©runblage berfetben ijl
altrömifd^ unb lö^t fid^ nid^t mobemifiren.
25al^er mu§ baö 21^ema unb beroegenbe aWotto
von ®runb auß geänbert werben. SWd^t bie ©clat)erei
unb äufeere ©eroalt Iiaben bie 3Wenfd^en unferer
Slrt unb 3^it ju fürd^ten, fonbem bie SWad^t il^rer
Seibenfd^aften unb beren innere ©eroalt. tiefer
JU entgelten, roitt ©milia ©alotti fterben. 2)er 2^ob
von ber ^anb beö aSaterö erfpart il^r ben ©elbft-
morb. (Sineö il^rer lefeten SQSorte erleud^tet ba§
^l^ema il^rer J^ragöbie : „©eroalt! ©eroalt! 2Ber
lann ber ©eroalt nid^t trofeen? SBas ©eroalt
l^eifet, ift nid^tö, aSerfül^rung ift bie roafire
©eroalt."
®iefe SBorte motiüiren baö 6nbe unb muffen
burd^ alle üorl^ergel^enben ^anblungen, inöbefonbere
burd^ ben ßl^arafter ber ©milia felbft motimrt fein;
209
flc enÜ)QÜen ein pfpcä^otogifd^eö ^ßrobtcm, bcn ^ßunft,
ben man rool^l baö Slätl^fel unfcrer S^ragöbie gc^
nannt l^at. Um bie g^ragc rid^tig im ©innc ßeffings
xinb feiner ^id^tung ju löfen, mufe man jenen t)on
3^ur(3^t bewegten SEBorten bie t)ottfte Slec^nung tragen,
aber'^feinen 5Rebenroman erfxnben, ber fie erftären
foQ, alß ob fie baö 33efenntnife unb ben SBeroeiö
einer gel^eimen Seibenfd^aft entl^ielten, bie ©milia
©alotti für ben ^ßrinjen empfinbe. 3Dlit einer
fold^en Sluffaffung läuft man ©efal^r, in ben fos
genannten circulus vitiosus ju geratl^en: erft fefet
man bie Siebe jum ^ßrinjen t)orauö, um jenen 2luä=
fprud^ @milias ju erftären, unb nimmt bann bie^
felben SBorte alö 3^«8^^fe/ ^^ ^^^^ ^^^^^ W^
?ßrinjen ju bereifen ! 3la(i) Sliemerö 3Wittl^eilungen
fd^eint ©oetl^e ber ©rfte gewefen ju fein, ber in
einer foI($en t)erborgenen Seibenfd^aft ®milia§ bas
Sauptmotit) il^reö freiwilligen 2^obeö ju entbeden
geglaubt unb e§ gerabeju afe ben ®runbfef)Ier
unferer 2^ragöbie bejei(|net \)at^ bafe biefe Siebe
nirgenbö auögefpro(|en fei. Seffing fonnte nid^t
auöfpred^en ober auöfpred^en laffen, roaö nid^t
empfunben war ! Offenbar l^at ©oetlie jene Slnfid^t
erft fpäter gewonnen, unb eö ift mir immer
ftuno gflfd^er, ®. @. Seffing. I. \4:
210
d^araftcrifUfd^ crfd^icncn, bafe er fie einer 3^ 9^
äußert l^at, bie t)on ber 2)id^tung ber SBaJ^focr^
Toanbtfd^aften l^erfam. SBaö aber jene attein ju
fürd^tenbe „toal^re ©enwlt ber SSerfül^rung" im
©inne ber @miUa bebeutet: biefe grage fott und
£effing§ S^ragöbie felbfi beanttoorten , nid^t burd^
baö, wag fie oerfd^Toiegen, fonbem Toaö fie gefagt
unb in bem ßl^arafter il^rer ^elbin f elbft unoerf ennbar
bargefieHt l^at. 2)od^ t)or allen muffen toir bie
g^abel beö ©tücfö unb bereu 3üge aufmerffam ht^
trad^ten, benn in biefer (Srfinbung beö S)id^ters liegt
ber Äern feiner 2lufgabe unb aud^ ber ©d^Ififfel
jum Sßerftänbnife feines SBerfes.
V.
3in ber länblid^en ©infamfeit unb ©tiHe beö
Däterlid^en ^aufeö aufgeroad^fen, in ber erften,
frül^en unb thm erfd^loffenen SBlütl^e jungfräuUd^er
unb l^errlid^er ©d^önl^eit, lebt @milia ©alotti feit
Äut^em in ber Keinen fürfilid^en SRefibenj ©uaflaffa,
Too nad^ bem SBunfd^e unb unter ben Slugen ber
9Wutter il^re (St^iel^ung ooffenbet werben foH. ®er
211
Dbcrft D b a r b , if|p Sßater, ift auf feinem £cmb=
gute bei ©abionetta jurüd geblieben , toeil er bie
länblid^e ^Ibgefd^iebenl^eit Hebt, bem äeben in ber
Slefibenj abgeneigt ift unb am ^ofe nid^t ju ben
angenel^men ^erfonen gel^ört, ba er fid^ ben 2ln^
fprüd^en beö g^ürften auf ©abionetta toiberfe^t l^atte.
Ungern läfet er bie ©einigen nad^ ©uaftaffa gelten,
benn bie ftäbtifd^en ®i^iel^ungölünfte finb nid^t nad^
feinem ©inn, unb bie ©itten beö ^ofeö nod^ rtje*
niger. Unter feiner ^anb ift bie S^od^ter, fein eim
jigeö järtlid^ geließteö Äinb, aufgebliüit, einfad^ unb
fromm erjogen, ein fünftigeö 3beal roeiblid^er unb
l^äusUd^er S^ugenb. SBorbilb unb 2Bort beö lieber
DoHen unb ftrengen SSaterö l^aben fid^ ber ©eele
beö jungen 9Käbd^enö tief eingeprägt unb il^r mit
bem ©inn für ein reines unb frommes &ehtn ju=
gleid& eine geroiffe unoertilgbare ©d^eu oor ber
SBelt unb il^ren Serül^rungen eingeflößt.
2)ie ©rlebniffe in ber SRefibenj nel^men eine ben
oäterlid^en SBünfd^en unoerl^offt gtinftige SBenbung.
' S)ie grauen l^aben l^ier ben ©rafen äCppiani
fennen gelernt, einen jungen, reid^en unb fd^önen
3Rann t)on ebelfier ^erfunft unb ©efinnung, t)on
unabl^ängiger ©enfart unb SebenSfteHung, ber fid^
212
bcm öofe von ©uaftaffa in ber Slbfid^t genal^crt
l^at, oorübcrgel^cnb in bic S)icnfte beö ^ßrinjcn
ißettore ©onjaga ju treten, ©r l^egt biefe 26-
fid^t nid^t ntel^r. ©eitbem er @miUa ©alotti ge^
feigen unb bie l^erjU(J^e Suneigung il^rer ®ttem wie
bie ifirige gewonnen l^at, ifl fein ©d^icffal ent-
fd^ieben. SBeibe finb in ber ©tiffe oerlobt. ©d^on
ift ber öod^jeitötag, ber 3lppiani§ l^eifeefte 8Bünf(i^e
erfüllen foff, gefommen, nnb nod^ an bemfelbcn
2^age werben bie SReuüermäl^lten auf bie ©üter be§
©rafen nad^ pemont reifen. Äein ©d^roiegerfol^n
fonnte bem Dberft Dboarbo roiHfommener fein, ofö
biefer ifint fo gleid^geftimmte 3lppiani.. „Kaum tarn
id^'ö enoarten," fagt er ju feiner (Sattin, „biefen
njürbigen jungen 9Rann meinen ©ol^n ju nennen.
2lIIe§ entjüdft mid^ an il^m. Unb t)or allem ber
©ntfd^lu^, in feinen oäterlid^en XijäUxn fid^ felbfl
JU leben." 3lm aJiorgen be§ erfefinten ^ageö über=
fällt ben ©rafen eine trübe ©timmung: ifi eö bie
33angigfeit, bie fid^ in ba§ SBorgefül^l beö l^öd^ften
@lüde§ mifd^t, ober eine 3lf|nung be§ furd^tbaren
©d^idfafe, baö ifin erwartet? 3laä) bem ©inbrucf
JU urtf)eilen, ben unö feine ®rfd^einung mad^t, ge^^
prt biefer 2lppiani ju ben innigen, aber gebrüdften
213
unb fd^njettnütl^igcn Staturen, bcnen bie Sct(j^tlebigs
feit oerfagt ift: nid^t baö geuer ber ©mpfinbung,
njol^l aber bie SRittfieilung biefeö geuerö.
Sie g^rauen leben in ber ©tabt ftiff unb ju^
rüdgejogen, wie Dboarbo eö gewollt l^at, fie finb
ben ^offreifen fern geblieben unb i)aien nur ein
einjigeö 3Ral nid^t t)ermeiben fönnen, bei einer
l)öfifd&en ©oiree in bem praij^tliebenben ^aufe beö
^ Hanjlerö ©rimalbi ju erf(j^einen, ^ier fielet @milia
jum erften 3Ral bie gre^e unb glänjenbe SBelt.
3)er regierenbe gürft felbft ift jugegen unb wirb
\ t)on bem 3lnblicf ©milias auf baö Seibenfd^aftlid^fte
\gerü]^rt unb burd^ bie Slatürlid^feit il^rer Untere
Wtung bejaubert. 3JJit ber geinl^eit unb 3lnmutl^
fürftlid^en SBenel^menö roibmet er il^r feine ^ulbi^
gungen unb fprid^t gegen anbere entjüdt t)on il^rer
©d^önl)eit unb il^rem ©eift. S)er (ginbrud biefer
SBelt unb biefeö aJianneö ift für bie ^Cod^ter Dboar?
boö fo neu unb ungeroöl^nlid^, al§ ber ©inbrud
il^rer ©rfd^einung [für ben ^prinjen. ©eit biefem
äCugenblid ift feine ©eele nur t)on ifirem Silbe er:=
füHt unb fo bewältigt, ba^ feine Siebe für bie
©rdfin Drfina erlifd^t, eine ftolje ©d^onl^eit, bie
mit il^rer feurigen Seibenfd^aft ben ^rinjen gefef?
214
'
feit l^at, mit ifirem überlegenen ©eift il^n unb bcn
^of befierrfd^t, bie ^ofcreaturen Detad^tet. 3Ba§
bem ^rin^n biöl^er nie begegnet ift, ba^ er fx6) in
eine Seibenfd^aft vertieft, l^at in i^m ber ©in-
brud ®milia @alotti§ bewirft; il^r SBilb ift in fci=
nem ^erjen y,mit anberen Starben unb auf einem
anberen ©runbe gemalt", ate ba§ ber Drfina.
,ßU iä) bort liebte, roax iä) immer fo lei(S)i, jo
fröl^lid^, fo auögelaffen — nun bin i^ oon attem
baö ©egentl^eil. 5Dod^ bel^agli(j^er ober nid^t bc^
^aglid^er: id^ bin fo beffer!" ©iefeö ®efü|l
einer tiefen, il^m unbefannten ©rregung ma^t,
bafe ber ^rinj feine Seibenfd^aft in fid^ t)erfd^lie|5t,
unb l^ält il^n jurüd, feinem t)ertrauteften Wiener,
bem Äammerl^errn 3Jiarinelli, biefem ^^ed^nifer
unb Ingenieur in ber Äunft, fürftlid^e ^paffionen
ju befriebigen, ein 9Bort t)on feiner ßiebe ju fagen.
@r ptte eö mie eine @ntn)eil^ung empfunben.
Unb von biefem äRarineHi mu^ ber ^rinj in
einem Slugenblide, mo il^n bie innere Seibenfd^aft
t)erjel^rt, alö trodfene 5Cage§neuigfeit erfal^ren: bo^
<Sraf 3lppiani mit ®milia ©alotti oerlobt ift, bafe
bie aSermäl^lung nod^ l^eute ftattfinben unb ©milia
als ©räfin 3lppiani nod^ l^eute SRefibenj unb ©egenb
215
für immer t)crlaffcn toirb. ®r foH fie nie Toieber^
feigen! Slinblingö wirft er fid^ jefet feinem ©iener
in bie Slrme unb genel^migt im oorauö, unbefüm^
mert um 2lrt unb aJiittel ber Sluöfül^rung, alles,
Toaö 3Rarinetti tl^un toirb, um bie ^eiratl^ ju oer^
l^inbem. 2)er ®raf Slppiani foH afe @efanbter beö
^rinjen in Slngelegenl^eiten feiner fürfiU(J^en SSer^
mäl^Iung fofort na^ SJiaffa-Garrara gefd^idt werben
unb ber ^rinj fogleid^ naä) feinem Suftf(^Iofe
3)ofalo fal^ren. S)enn 3Jlarineffi roeijs, bafe bie
S^rauung auf bem oäterlid^en Sanbgute ftattfinben
foH, ba§ bort Dboarbo bie SJerlobten erwartet, bie
ftd^ mit ber 3Wutter um bie 3Wittag§ftunbe nad^
jenem Sanbgute begeben werben, woi^in ber 3Beg
an bem Suftfd^lofe beö ^ßrinjen t)orbeifül^rt. SBeiter
erfäl^rt ber ^ßrinj nid^tö, fonbern lä^t feinem ^Ced^^
nifer freie ^anb. 5ßon biefem 2lugenblidf an ift er
unb feine Seibenfd^aft bie SBeute 3RarineIIid.
3)iefer l^at im ©el^eimen feinen 5pian fertig.
3Benn Slppiani bie Sotfd^aft annimmt, ift bad 2^er=
rain frei; wenn er fie auöf dalägt, muß er aud bem
SSSege geräumt werben. SSanbiten foffen ben fio(^'
jeitöwögen bei S)ofaIo überfallen unb ben ©rafen
tobten, bann werben bie 2)iener 3KarineIlid wie jum
216
©d^uft l^erbeieilcn unb 3Wutter unb Xoä)ttX' unter
bcm ©(^cine ber SRcttung in baö Suftfd^lofe beö
^prinjen flüd^ten. 2)ic SBanbitcn finb geworben, xa^if
bet)or aippiani ben Sluftrag beS ^rinjen burd^ 3Rart
neHi erfäl^rt. ©iefer, wie eö bei feiner 2)enfart nii^t
anberö fein fann, ift einem unabl^ängigen ßl^arafter^
wie ®raf äCppiani, feinblid^ gefinnt unb freut fi^
il^n ju oernid^ten. ®od& muß bie Untl^at ben ©(j^ein
l^aben, ba^ fie unmöglid^ von V)m auögel^en fonnte.
©r wirb ben ^anbel mit 2lppiani fo filieren, ba§
ber ^rinj glauben foH, 3WarineIIi l^abe für il^n bie
größte 2luf Opferung beroiefen, benn fid^ bem regie-
renben ^errn unentbel^rlidö ju mad^en, ift fein
affeiniger 3w)ed. Slppiani fd^lägt, wie ju ermarten
fianb, bie ©efanbtfd^aft auö, fobalb er prt, er foße
auf ber ©teffe nad^ 3Kaffa abreifen; jefet reijt il^n
aWarineffi mit l^ämif(^en unb geringfd^äfeenben Se=
merfungen gegen bie bürgerlid^e gamilie ©alotti
unb ruft eine töbtlid^e Seleibigung oon ©eiten
2lppianiö l^eroor, bie er mit einer ^orberung er-
mibert. S)od^ lautet er fid^ rool^I oor bem Äampf,
ben fofort auöjufed^ten ber empörte äCppiani oer-
langt. 6r l^at nun ein boppelteö unb breifad^es
3intereffe, ba§ ber ®raf ermorbet unb auf ber
217
©teile tnunbtobt Qtmaä)t toerbe; jugleid^ ^at er
einen SBortoanb, wie fabenfd^einig er immer ift,
Toiber ben SSerbad^t, bafe er ben 3Korb oeranlafet
l^aben fönne.
5Daö Subenftücf toirb auögeftifirt. ^2Ippiani fäfft
t)on ber Äugel beö Sanbiten, aber er ^at nod^
3eit, in ©egenroart ber aWutter ben 9?amen 3Kari-
neHi mit einem S^one auöjurnfen, ber beutli(^ t)er=
fünbet: „biefer ift mein 3Jlörber!" S)en SBerbad^t
beö leiij^tgläubigen ^ßrinjen fann ^arineffi fogleid^
nieberfd^lagen unb beffen brol^enbe SJiiene in eine
befd^ämte unb banfbare oerroanbeln. 6r fpielt ben
el^rlid^en (Segner, ber einen Slebenbul^Ier be§ ^Prin^
jen im offenen Bw^^if^mpf aus bem SBege fd^affen
TOoHte. 2Bie l^ätte er ben 2^ob Slppianiö roünfd^en
ober gar oeranlaffen fönnen: eineö SJianneö, mit
bem er einen ©l^renl^anbel auöfämpfen foHte; er
l^atte il^n ja geforbert, um feinem ^errn ju bienen!
S)er SJlutter gegenüber, bie ba§ lefete SBort beö
fterbenben ©rafen gel^ört fiat, fud^t er bie entgegen-
gefegte SRoffe ju fpielen unb wagt gegen il^re nid^t
ju erfd^ütternbe Ueberjeugung bie fred^e unb oer^
geblid^e Sluöflud^t: „id^ mar fein t)ertrautefter g^reunb!
Slppiani mottte mit feinem legten SBorte mid^ unb
218
meine SRad^e anrufen!" Slber bafe ber Oraf biefcö
SBort nod^ fpred^en fonnte, toar n)ibcr bie 2lbrcbe.
2)er teuflifd^e ^lan SRarineHiS ift, fo fd^eint
eö, gelungen: 2lppiani ift aus bem 3Bege geräumt,
Gmilia ©alotti unter bem ©d^ein ber SRettung ent^
fül^rt unb in bie ^anb bed ^rinjen geliefert. 5BoHer
©d^merj unb aSerjmeiflung folgt ü^r bie SRutter.
2lber l^ier auf bem Suftfd^lofe 2)ofalo mirb atteö
burd^fd^aut. ®ö ift nod^ etwas miber bie Slbrebe
gefd^el^en, bie 3RarineIIi mit bem ^ßrinjen getroffen:
biefer foHte fogleid^ nad^ 2)ofalo fal^ren' unb l^al
es nid^t getl^an, fonbern, oon Seibenfd^aft getrieben
unb oon bem SBunfd^e, felbft etroaö auöjurid^ten
unb fid^ nid^t auf aJiarineHi allein ju t)erlaffen, iji
er gleid^ nad& bem ©efpräd^ mit bem le^teren in
bie 5Dominifaner!ird^e geeilt, mo, mie er meife, bie
fromme ®milia jeben aJiorgen bie SDieffe prt. 6r
l^at fie getroffen unb mitten in il^rem ©ebet il^
bie feurigften SiebeSgeftänbniffe gemad^t; er ift i^r
nad^geeilt unb fiat in ber SSorl^aHe ber Äird^e feine
SBetl^eurungen roieberl^olt. 3lngftt)ott, mie oon eJurien
t)erfolgt, ftürjt ©milia nad& ^aufe unb befennt atteö
ber 3Rutter, bie fie berul^igt unb baju bringt, aud^
gegen 2lppiani ju oerfd^roeigen, maö fie an i^rem
219
^od^jeitötnorgen erlebt ^at. 916er bie 3Jiutter weife
es, fie ^at baö lefete 3Q3ort bes fterbenben ©rafen
gel^ört unb fennt feinen SWörber. SBie fie jefet naä)
S)ctfalo fontmt, fid^ t)on SDiarineHi empfangen
fielet unb bie 2^od^ter im ©d^loffe beö ^rinjen finbet,
liegt baö ganje SBubenftüd offen t)or ifiren 3lugen.
Unb eö ift noä) ^emanb, bem in ©ofalo bie
Singen aufgellen: bie ©räfin Drfina. ©eit einiger
3eit fül^lt fie fid^ oom ^ringen oerlaffen unb roit»
tcrt fd^on, bafe i^n eine anbere Seibenfd^aft feffett;
il^re Siebe ift größer als ifir ©tolj, il^re ©iferfud^t
mäd^tiger alö bie Äraft ber @ntfagung, fie roiH
nid^t leben ol^ne bie Siebe beö ^rinjen, er foH aud^
nid^t\ leben: fie l^at für i^n ben 2)old^, für fid^ baö
®ift bestimmt, ©ine lefete Unterrebung mit bem
fjürften foH il^r unb fein ©d^idffal entfd^eiben; beö^:
l^alb fd^reibt fie i^m am aJiorgen jeneö t)erl)ängnifes
t)otten 2^age§ einige QdUn unb bittet um eine un^
geftörte 3ufömmenfunft in 2)ofalo. 3lber ber ^rinj,
ganj t)on feiner neuen Seibenfd^aft eingenommen,
läfet baö 53ittet ungelefen, benn er will nid^t an bie
©räfin erinnert fein. 2Bie biefe l)ört, ber ^rinj
fei nad^ S)ofalo gefafiren, l^ält fie i^ren SBunfd^
für erfüllt unb eilt il^m nad&. Unterbeffen l^at fie
220
burd^ i^rc Äunbfd^after bic SWorgenfccne in bcr
SDicffe erfafiren. 3n S)ofaIo rokb fie nid^t t)orgc-
laffen: ber ^ßrinj fei nid^t allein. 35ic ©räfin l^at
fd^on gcl^ört, ba^ äCppiani burd^ SBanbitcn erfd^oßen
TOorben, aber fie weife nid^tö t)on feiner ffiermäi^lung,
nid^t§ t)on ben naiveren Umftänben. 3e|t erfäl^rt fie
t)on aJiarineHi, «bafe 2lppiani§ Staut unb beten
SWuttet fi(^ jum ^tinjen geflüd^tet l^aben, bafe biefe
Staut ©inilia ©alotti ift. aJlit einem ©daläge ift
i^t alles Hat. „2)et ^tinj ift ein SKötbet!" tuft
fie aRatineHi mit lautet ©timme ju unb fagt itonifd^
unb leife, afe ob eö ein ©efieimnife füt i^n toäte:
^^®et ^Ptinj ift beö' ©tafen 3lppiani 9Wötbet, ben
l^aben nid^t Stäubet, ben l^aben ^elfetöl^elfet beö
^Ptinjen, ben l^at bet ^tinj umgebtad^t!"
3luf bie Äunbe bet 83anbitentf)at ift Dboatbo
l^etbeigeeilt, et l^at nut bunfle ©etüd^te gel^ött unb
weife nid^t§ SBeftimmted: 3lppiani fei oetwunbet,
g^tau unb 5Cod^tet l^ätten fid^ in ba§ ©d^löfe beö
^Ptinjen geflüchtet. S)ie ©täfln Dtfina Hätt il^n
auf : „2)et Stäutigam ift tobt, bie Staut ift f d^Hmmet
ate tobt! 3lun ba; bud^ftabiten ©ie e§ jufammen!
S)e§ aJlotgen§ fptad^ bet ^tinj 3f|te 2:od^tet in bet
aWeffe, beö 5Rad^mittagö l^at et fie auf feinem Suft-
221
fd&lofe!" S)iefeö ©d^lofe ift nid^t ber Drt ber
SRcttung, fonbem bie ^öl^lc be§ SRäuberö, unb ber
al^nungölofe Dboarbo fielet ba ol^ne SBaffen. S)a
gibt il^m Drfina ben ®old^, ber ju il^rer eigenen
SRad^e beftimmt war! ©o gerüftet bleibt er in
5Dofalo nnb läßt feine g^rau mit ber ©räftn naä)
©uaftaHa jurücffe^ren.
Dboarboö erfter ®ntfd^lufe ift, ben ^ßrinjen ju
tobten, aber er bemeiftert j)in Slad^egefül^l unb will
nur bie SCod^ter befd^üfeejr^ Snbeffen l^at 3JiarineIIi
mit feinem ^errn ben fd^änblid^en ^anbel t)er=
abrebet, ber @milia von ben @ltern trennen, bem
^ater entreißen unb in ber 3tä^e beö ^rinjen feft=
I)alten foH. ®r giebt fid^ für ben berufenen diää)ex
Stppianiö ; ein gltidflid^er 9lebenbuf)ler, l^ei^t e§, l^abe
ifin ermorbet; biefen ju entbedfen, muffe 3JlarineIIi
aUeö aufbieten, bat)er fei ein gerid^tlid^eö 3Serfa]^ren
gegen @milia unb eine befonbere SBerroal^rung ber=
felben notliroenbig. 5Rid^t in ein Älofter, wie
Dboarbo roünfd^t, fotte fie gelten, auä) nid^t in ein
©efängniß gebracht werben, roa^ ben 58ater be^
rul^igen mürbe, fonbem im Saufe (Srimalbi foHe
fie bleiben, unter ben 3lugen beö ^rinjen, mitten
im ©etriebe beö ^oflebenö ! Seftt bleibt bem SSater
222
nur nod^ ein einjigcr 2Bunfd^: bic Xo^itx jum
legten 3KaI unb allein ju fprcd^en. 3n feiner ©eele
regt fid^ ber ©ebanfe, fie ju tobten, toie eine Slm
Toanblung, vor ber it)m fd^aubert. Unb bod^ fd^eint
eö baS ©injige, toad er nod& für fie tl^un fann.
„Öab iä) ba§ ö^tj, eö mir ju fagen? S)a bertf
iä) fo roaö! ©o roaö, n)a§ fid& nur benfen lä§t!"
6r oermag eö nid^t unb n)ill ber 3Serfud^ung ju
einer fold^en 2;i^at entfliel)en. 2)a fommt bie 2^od^ter
felbft, in il^rem SBrautMeib, in berfelben einfad^en,
natürli(^en S^rad^t, worin 2lppiani fie baö erfte 3RaI
fal^, worin fie i^m juerft gefiel; aud^ bie SRofe im
^aar l^at fie nid^t t)ergeffen. ©ie erfd^eint ganj
rul^ig, benn fie weife, bafe affeö t)erIoren ift, bafe
ber ©raf tobt unb warum er tobt ift. 9?id^t einen
3lugenblid länger wiH fie in ber 3läJ)e beö ^ßrinjen
weilen. Unb wie ber aSater il^r fagt, bafe er fie
nid^t mit fid^ nel)men bürfe, bafe man fie jwinge,
in ber ^anb il^re§ SRäuberö ju bleiben, ift il^r
@ntfd^lufe gefaxt. Dboarbo ift fein ffiirginius; bie
S^od^ter ift entfd^loffener alö er. „Slimmermel^r,
mein 5Bater." „Ober ©ie finb nid^t mein Sßater!"
©ie will nid^t gerodet fein, fonbern fterben.
^,Um beö ^wnmefe SEBiUen nid^t, mein Sßater!"
-/
223
ruft fie aus, toie Dboarbo ben 35ol(^ jtid t unb bcr
©ebanfc hexdiaä)t von neuem feine ©eele ergreift.
,,®iefeö Seben ift aUeö, waö bie Safterl^aften l^aben.
5Kir, mein 5Bater, mir geben ©ie biefen 2)oId^!"
2)er Xoh ifi il^r roiHfommen gegen ein unmürbigeö
Seben. S)iefe ®ntfd^loffenl^eit unb ©eelengröfee er=
fd^eint bem 5Bater ate il^re ^Rettung, ate bie 33ürgs
fd^aft ü^rer unantaftbaren Unf(^ulb. Dboarbo ift
feineö Äinbeö fidler unb il^rer Unfd^ulb, „bie über
aUe ©eroalt exi)ahen ift". 2)ie 2^od^ter oertoirft
bief e ©id^erl^eit : „3lber nid^t über alle SSerfül^rung.
(Semalt! ©emalt! 2Ber fann ber ©emalt nid^t
trogen? aaäaö ©eroalt Reifet, ift nid^tö: SSerfül^rung
ifi bie roal^re ©eroalt. 3^ ^^be Slut, mein Sßater,
fo jugenblid^eö , fo roarmeö SBlut alö eine. Stud^
meine Sinne finb ©inne. 3d^ ftel^e für nid^tö.
3d^ bin für nid^tö gut. 3d& fenne baö ^an^ ber
©rimalbi, eö ift baö ^auö ber greube. ©ine
©tunbe ba, unter ben 2lugen meiner aJlutter, unb
eö erl^ob fid^ fo man(^er 2^umult in meiner ©eele,
ben bie ftrengften Uebungen ber SReligion faum in
SBod^en befänftigen fonnten. 35er SReligion! Unb
roeld^er SReligion? SRid^tö ©d^limmereö ju oer^^
meiben, fprangen 2;aufenbe in bie glutl^en unb finb
224
«^
f
^eilige! ©eben ©ie mir, mein SBater, geben Sie
,mir biefen ®old^!"
®iefe 2Borte, bie baö SRdt^fel ber Stragöbie
feinem ganjen Umfange na(j^ entl)alten, Iiaben betn
Sßater ba§ ©efü^l ber ©id^er^eit erf(ä^üttert. ßr
gibt unb entreifet il^r ben 35old^, mie fie il^n fd^on
gefaxt l^at, um il^r fierj ju buri^bol^ren. ©ie fud^t
nad^ einer 9?abel in il^rem ^aar unb ergreift bie
SRof e, il^ren Srautfd^mud, baß SBilb il^rer Unfd^ulb,
baö nod^ ju tragen fie im 3lngefid^te ü^rer S^ifiiwf^
.fid^ nid^t mel^r mürbig fül^lt. S)aö Silb il^rer 3^-
fünft ift bie jerpfltidte SRofe. Unb einem fold^en
©d^idffal miH fie ber eigene 5Bater preisgeben. 9?id^t
er benft an ben aSirginiuö, fie erinnert an baö
Seifpiel be§ Slömerö mit bitteren oormutföooHen
2Borten. ®u fiel^ft ba§ ©(^idffal beiner 2^od^ter
t)or bir, bie jerpPüdfte Slofe, unb toillfi eö gefd^el^en
laff en ? 5pflid^tt)ergeff ener Sßater ! ©ie f agt e§ nid^t,
aber fie benft e§, roäl^renb fie bie SRofe jerreifet.
3lie l^at bie SBlumenfprad^e tragifd^er gerebet. 3)iefer
©ebanfe ruft il^r baö Silb beö aSirginiuö t)or bie
©eele, unb läfet fie in bie SBorte auöbred^en:
„®]^ebem mol^l gab eö einen SSater, ber, feine
^od^ter von ber ©d^anbe ju retten, il^r ben erften,
3S5
ben fecfien ©tal)I in baö ^crj fenfte, il^r jum jtüetten
baö Seben gab. 3t6er folc^e Xi)aten finb t)on eiie^
bent! ©ol(^e 3Säter gibt eö feine mel)r!
®ie[er aSonourf int SWunbe ber 2^o(^ter werft
bent aSater baö SSorbilb. Unb als* ob biefeö aSor-
bilb beö SRömerö, an baö feine ©eele nid^t gebadet,
il^n plö|U(^ geftärft unb bem Oebanfen, ber no(^
x)or wenigen Slugenblirfen ü^nt ate etroaö erfd^ien,
„roaö fid^ nur beulen lä^t", bie plöfeUd^e S^l^atfraft
x)erlielien, ruft Dboarbo an^ : „S)od^, meine S^od^ter,
bod^!" unb ftögt ilir ben ®oId^ inö ^etj. ®ie
furd^tbare 2^l^at ift if)m roiber SBiUen entriffen.
Raum ift fie gefd^efien, fo ergreift ifin bie Sfteue.
„®ott, tt)a§ l)ab id^ getl^an !" ®ie fterbenbe S^od^ter
fagt eö il^nt: „(Sine SRofe gebrod^en, elie ber ©turnt
fie entblättert, fiaffen ©ie ntid^ fie füffen, biefc
t)äterli(^e ^anb !"
VI.
S)iefe a3egeben]^eiten in xi)xex tragifd^en aSer?
fettung barjufteHen unb in ber 3^ornt ber ^anblungen
auöjuprägen, ift nun bie ©ad^e ber bramatifd^en
ftuno ^ijd^er, Q. @. Sejjlng. I. 15
^
Äunft. ®ö wirb fid^ seigen^l wie berounberungä^
TOürbig e§ Seffing t)erftanben ^t, ba§ 21E)emd feines
2Berfe§ fo anzulegen unb bie (^^axaliexe bejfelben
fo ju rid^ten, ba§ nid^tö anbereö barauö lien)or-
gelien !onnte,-aIö genau biefe S^ragöbie. ©d^pn
bie aufmerffame Setrad^tung ber grabet genügt, um
aus il)ren 3ügen ben '^an ober bie ©inrid^tung
unfereö Äunftoerfö , ben gortgang ber ißanblung,
bie Slrt ifirer 3Sloim unb beren SSerfettung bentiiäi
ju erJennen.
^an fielet fogleid^, ba§ bie Seibenfd^aft be§
^Prinjen für ßntilia Oalotti ben beroegenben gactor
beö ©anjen ausmad^t. ®iefe Seibenfd^aft unb
il^re g^olgen abgered^net: tt)aö bleibt von ben 33e^
gebenl^eiten unferer @rjäl)lung? SRid^ts aU ein
n)oIfenIofe§ Sbptt in ber g^amiüe ©alotti : ber l^eitere^
^od^jseitömorgen, baö glüdEtid^e "Sxantpaax, bie l^od^-
beglüdften @ltern, bie aSermäl)lung in länblid^er
©tille, bie ißod^jeitöreife unb beren parabiefifd^es
3iel in ben Däterlid^en S^i^älern 2lppiani§, wo bie
5Reut)ermäl)lten .nur fid^ felbft leben werben! 5Die
Seibenfd^aft beö 5|Jrinjen fjinjugefügt, unb bie ge^^
n)itterfd^n)üle Sltntofpfjäre ift ba, ber ^orijont nm^
toölft, ber ißintntel oerbüftert fid^, bie 33Ufee judfen
227
unb treffen, ber Sräuttgam wirb erfd^lagen, bie
Stallt entfül^rt unb in einer SBeife umgarnt, ba§
fie ben SCob von ber §anb beö SSaters afe einjige
SRettung forbert unb empfängt, ©iefe ßeibenfd^aft,
bie baö glüdlid^fte gamilienibt)ll plöfelic^ in einen
©d^auplag furd^tbarer 3^^ftörung t)ern)anbelt,
bramatifd^ fd^ilbern, fiei^t bie S^ragöbie ber ®milia
©alotti ejponiren: eine 2lufgabe, bie Seffing in
bem erften 3(cte berfelben mit pd^fter SWeifterfd^aft
gelöft liat. ®ie ^affion beö gürften ju befriebigen,
fd^miebet aWarineHi feinen 5pian: wir lernen im
jweiten 3lct biefe 5IRad^ination felbft, il^re SBerfjeuge
unb ü^re Dpfer fennen, bie ®ltern unb bie 5ßer^
lobten, bie 3Rarinetti mit feinen SRefeen umftridEt.
©ie äuöfül^rung beö ^pianeö unb bie ©rfennung
ber &l)äter unb SWotiDe bur($ bie 3Jlutter ©miliaö
bilben ben ^rif)alt beö britten 2lct§. ®ie S)ajn)ifd^en:j
fünft ber ©räfin Drfina, bie baö ©efd^el^ene fogleid^
mit bem ©d^arfblidf ber ©iferfud^t burd^fd^aut, bem
l^erbeigeeilten SSater fogleid^ mit lobernber SRebe
entliüHt unb il^m ben 5Dol(^ jur SRad^e jurüdflägt:
biefe aSorgänge, bie baö @nbe fierbeifüfiren, fd^ilbert
ber vierte 3lct. ®er lefete entl^ält bie tragifd^e
Söfung.
228
©ie öanbtung t)ertäuft in fürjefter 3^tt, fie bc^
ginnt am SKorgen unb ift t)or Slbenb üoHenbet:
unaufl)attfam, burd^ feinerlci ®pifoben unterbrochen,
f($reitet fie fort, jebe ©cene ift ein unentbel^rlid^eö
©Heb beö ©anjen, ber g^ortgang ift t)ottfommcn
ftetig unb suglei($ fo jäl^ unb fd^leunig, ba§ baburd^
f d^on bie äußere divä)e auögefc^loffen toirb, bie nöti^ig
toäre, um burd^ Ueberlegung unb Sefonnenl^eit bcn
tragifd^en ©turj ber S)inge ju t)ermeiben ober ju
l^emmen. SDie ganje S^ragöbie entl^ält nic^t mel^r
ate breiunbmerjig 2luftritte, barunter nur menige,
furje unb l)aftige SWonologe. 3Ran barf bei ber
aSeurtl^eilung be§ ©tüdfeö unb feiner ß^arafterc
biefeö l^eijse Älima, biefeö fi^neHe unb fortrei^enbe
2;empo ber ^anblung, biefeö „^paffionato" in ber
©runbftimmung ber ganjen S^ragöbie nic^t unit-^
aä)tet laffen. SBenn g^riebrid^ ©d^legel bie S^ragöbie
„ein in ©d^mei^ unb 5ßein probucirteä SBerf beö
SSerftanbeß , ein gutes ® jempel ber bramatif d^en
älgebra" genannt l^at, „baö man frierenb bemunbern,
bei bem man bemunbernb frieren möge", fo ift fein
Urtl^eil weniger treffenb. 3lud^ baö gieber mad^t
frieren. Unb mer ben l)ei|5en 5ßute fiebernber
Seibenf($aft in biefer 2^ragöbie nid^t fül)lt, mirb fie
229
aud^ ate „ein guteö ©jempel ber bramatifd^en
Sllgebra" niä)t toürbigen fönnen. ©od^ liat man
baä Urt^eil ©d^legefö l)äufig nad^gefprod^en, benn
cö gtebt fo oiele, bie no($ mel)r afe ber Äammer=
l^err in unferent ©tüdf bie Sejeid^nung ber Oräfin
Drfina t)erbienen: ,,na($plaubembes ^ofmänn($en!"
aWan wirb in bem ©eroebe biefer SCragöbie
feinen einzigen gaben auffinben unb nad^roeifen
fönnen, ber an ben ßl^arafteren oorbeiliefe unb
nic^t bur($ ben Äern berfelben l)inburd^gefül^rt wäre.
@ä ift barum eine fel)r unoerftänbige 2lnfid^t, bie
S^ragöbie ber ®milia ©alotti für ein ^ntriguen^
fiüdE ju l)atten, baö atö folc^eö bem ßl^arafterftüdf
entgegengefefet ju werben pffegt. ®ann fielet man
in ber bargefteHten ^anblung nid^tö weiter als baö
5Refe, weld^eö 3JlarinelD[i gefponnen l)at, unb in bem
Stppiani, bie g^amilie ©alotti, ben ^prinjen nid^t ju
t)ergeffen, toie bie fliegen gefangen werben. Slber
fobalb bie S^ragöbie etwaö weniger oberftäd^Iid^,
etwaö weniger furjfid^tig betrad^tet wirb, mit§ jeber
erfennen, ba§ bie ^ntrigue nub beren @ntl)üllung
von gewiffen ^anblungen ober Unterlaffungen ab-
l^ängt, bie tief in ben ßl^arafteren begrünbet finb,
ba|5 liier atteö fo gefd^iel)t, wie eö nid^t anberä
230
gefd^efien fonnte. 3d^ toitt biefc Seliauptung fofort
einleui^tenb mad^en, inbem id^ auf bic beibcn ^aup
momente liinroeife, bie bcn tragifd^en aScrlaüf ber
^anblung entfc^cibcn.
SRel)men wir an, ba§ ®milia ©alotti ifire Se=
gegnung mit bem ^prinjen, jene eben erlebte aWorgem
fcene in ber aWeffe, ifirem Bräutigam erjäl^lt (rooö
fie au(^ im ©inn fiat, aber von ber aJiutter ftd^
auöreben läjst): [o ift ber ^lan 3JlarinelIiö vtr--
nid^tet. 3^r ©efpräd^ mit 3lppiani, morin biefer
ben SBorgang l^ätte erfal)ren fotten, gel)t ber ©cene
jn)if($en ifim imb aWarineßi t)orl^er, unb ber ®raf
würbe ben Sluftrag nad^ 3Jlaffa anberö beantwortet
l^aben, wenn er gewußt, ba§ ber ^prinj nad^ feiner
33raut trad^tet*). S)er aWoment, worin e§ i^m
*) 2öex meine obige 35e'^au:ptung , bag @milia ©olotti
butd&gdngig 6t)ata!tetttQgöbie fei, oitfed^ten toitt, fötinte
nod^ am e'^eften ^:p:pioni§ S5erl^olten in bex ©cene mit
SJlQtinetti botoibet anfü'^ten: id^ meine hit Söenbung im
5lnfange beS ©ef^tad^S. 2öie !ann t^^iani auf hu fütft^
lid^en SÖünfd^e, hit ber Höfling i^m üBerbtad^t ^at, übet*
l^au:pt eingel^en? „2)ie ©nabe be§ ^Ptinjen, hu S^mn an-
getragene @^re bleiben, toa§ fie finb; unb id^ atocifle nid^t,
@ie toerben fie mit S5egierbe ergreifen^. „5ttlerbing§*
anttoortet ber (Sraf nad^ einiger Ueberlegung. Sd^ möd^te
231
gcfagt tocrben mu^te, ift burd^ ba§ aSerfd^roeigen
ber S3raut unroieberbringlid^ verloren ! S)iefe Unter«
toiffcn, toa§ er fid^ übetlegt l^at? (Sefogt toitb c§ nid^t;
eS ift fd^toer au cttatl^cn. 5lu§ bem ß^l^atafter unb ber
Sinnesart $[:ppianid to&te 3U tietmutl^en, bag et ben Antrag
einfad^ ablcl^nte. Unä^ fel^c td^ nid^t, toie et beim beftcn
SOßittcn benfclbcn ausfüllten toitb, ha et fd^on in bet nöd^ften
©tunbc l^eitatl^en unb fogleid^ auf feine bdtettid^en ®ütet
naä^ 5Jiemont obteifen toitt. 3faffen toit i'^n unb feine
Situation allein inS Sluge, fo ift jenes übetlegte „Slttet*
bingS" eine fo beftemblid^e Söenbung, ba^ man betfud^t fein
lönnte, fte auS einem anbettoeitigen (toeniget in 5l:ppiani
gelegenen, ol3 bielmel^t) bem 2)id^tet unentBe^^tlid^en SJlottt)
3U etfldten. ^atte bet (Staf getoußt, toaS il^m @milia t)et=
fd^toiegen, fo toätbe et ben Slnttag SJlatinettiS auf eine Sltt
gutörfgetoiefen f)dbzn, bie bem leiteten fein ßoncept bbllig
tjettärfen mußte. 2)et %iä)Ux laßt il^n ballet einen ©d^titt
tl^un, bet unmöglid^ toat, toenn et bie ^Ibfid^ten be§ ^Ptinjen
gefannt l^atte; einen ©d^titt, bet als bie näd^fte 3folge bet
Untetlaffung SmiliaS etfd^einen foH unb etfd^eint. 2)a6
^p^iani biefcn untoittfommenften unb ungelegenften ollet
^uftt&ge etf allen toill, um bem ^ßtinaen einen 2)ienft ju
ettoeifcn, jeigt unS ben böttig atglofen SJlann, bet bem
BpitU 3)latinettiS tjetfdttt, todl^tenb ein 2Bott feinet Sötaut
üjn batjot betoa^tt l^ötte. 2)ie ©d^ulb ßmiliaS toitb butd^
^p:pianiS atglofe Söeteittoilligfeit fofott etleud^tet : bieS toat
bie 5lbfid^t beS 2)id&tetS, oBet baS Tloiit) 2lppianiS bleibt
ftaglid^.
232
laffung ©niiliaö t)crf($ulbet ben 5Co? Stppianiö^
eine ©(^ulb, bie unö an jene SBorte ber ©ranta-
turgie erinnert: „©in 3Jlenf($ tann fe^r gut fein
unb bo($ mel^r ate eine ©c^road^l^eit , mel)r afe
einen 3^el^ler l^aben, n)oburd& er fid^ in ein unab-
fel|Ud^e§ UnglüdE ftürjt, baö m^ mit SÖHtleib unb
SBel^mutl^ erfüllt, ol)ne im ©eringften gräfeUiä^ ju
fein, weil e§ bie natürlid^e g^olge feines g^el^Icrä
ift". 3(ä^ l^öre jene erfd^ütternben SBorte, bie @milia
in ber testen ©cene bem aSater auf bie g^rage:
„SBaö nennft bu alle§ verloren? S)a6 ber ®raf
tobt ift?" mit ber 3iuf)e ber SBerjweiflung ermibert:
„Unb marum er tobt ift! warum!" 3lire Unter::
rebung mit Slppiani na^ ber 3Jleffe unb vox bem
2luftrage, ben SWarinelli bringt, ift bie einjige,
bie unfere 2^ragöbie ben SSerlobten eingeräumt l^at.
3lnn überlege man fid^ bie grage: ob ©miliar
5Berfd^n)iegenf)eit in biefem unmieberbringlic^ oer-
torenen SWomente B^f^ß ^P ^^^^^ ©d^ulb? Db bie
t)erf($ulbete Unterlaffung auö einer geheimen Siebe
jum ^rinjen, b. f). an^ il)rer Untreue entfpringt
ober auö einer ©d^mad^lieit , einem 3^el|ler? SBir
werben auf biefe 3^rage jurüdEfommen.
9lngenommen, ber ^rinj, gemä§ feiner SSerab?
233
tebung mit aWarineHi, wäre glcid^ nad^ 2)ofa(o
gefahren unb nid^t in bie SWeffe geeilt, um bort
©milia ©alotti ju treffen, unb felbft ju feigen, roaö
er auöjurid^ten t)ermö9e: fo fonnte weber ®milia
noä) burd^ fie bie 3Rutter bie fieibenf($aft beö
^rinjen erfal^ren, fo fonnte weber bie ©räfin Drfina
nod^ burd^ fie Dboarbo bie S^l^äter unb il^re 3Jlotit)e
erfennen; 3Rorb unb ®ntfül)rung blieben unent^^
l^üUt.(@ö voax ein Sanbitenftüdf unb ba§ ©(^lo§
beö 5ßrinjen bot bie rettenbe 3iiP^<$t- darauf
mar ber ^lan SRarineHiö bere($net; er gelang t)oIIs
fommen, wenn ber ^ßrinj fld^ jeber eigenmäd^tigen,
unt)erabrebeten ^anblung entl^ielt. 3)a§ er eö nid^t
^at, fonbem feinen eigenen SBeg in bie aWeffe ging:
gefc^al^ biefer t)erl^ängni§t)offe ©($ritt aus Sn^dti
ober an^ einem unt)etmeiblid^en Sfntrieb? 5IRan
bead^te mol^l, maö aWarineHi feinem ^errn t)orl)ält :
„®r erlaube mir, il^m ju fagen, ba§ ber ©($ritt,
ben er lieute 3Jlorgen in ber Äird^e getl^an — mit
fo t)ietem Slnftanbe er iljn anä) getl^an, fo un^er^
meibU(^ er ii)n aud^ tl)un mufete — ba§ biefer
©d^ritt nii^t in ben Xan^ gel)örte". . „®a i($ bie
©ad^e übernafim, ni($t wal^r, ba mußte ®milia von
ber ßiebe beö ^prinjen no($ nid^tö? (Smilienö 3Rutter
234
nod^ toeniger. SEBenti id^ nun auf bicfen Umftanb
baute? Unb ber ^rini inbe§ ben ®runb meines
Oebäubeö untergrub?" Sei biefen SEBorten fd^lägt
fi($ ber 5ßrinj vor bie ©tirn unb ruft: „SSer^
njünfd^t! bajs ©ie SRed^t l^aben!" „S)aran Ü)n' xi)
freilid^ fel)r Unre($t", erroibert SKarineHi, „©ie tüer^
ben Derjeil^en, gnäbiger ^err".
SBer in unferer S^ragöbie ein „Sntriguenftüd"
fiel)t unb il^ren ©d^werpunft bemna($ in ben ux-
berblid^en SWad^inationen 5IRarinelIiö fud^t, l^at nid^t
erfannt: 1) ba§ bie ganje Sntrigue nur emtöglid^t
wirb burd^ bie ©d^ulb ®milia§, 2) ba§ bie
ganje S^trigue jerriffen, b. 1^. entl)üllt wirb burd^
bie ©d^ulb beö ^rinjen, unb ba§, nad^bem
SUlarineßi unb ber 5ßrinj bie g^efeen nod^ einmal
jufammgeflidEt fiaben, um ifire Seute ju fangen,
biefeö SRefe jerriffen mirb burd^ bie 2:i^at ber
®miUa, benn id^ nenne ben freiwilligen Xoh, ben
fie t)on ber ^anb be§ SSaterö erflel)t unb empfängt,
ilire 2^l^at. Sie Slofe mitt gebrod^en merben, el^e
ber ©türm fie entblättert.
Unb ein fold^eö 6nbe foHte ber S^riuAp]^ be«
fiafterö über bie S^ugenb, ber ©d^ulb über bie Um
fd^ulb fein? S)ie ©d^ulbigen mären 3JlarineIIi unb
285
ber ^rinj. -SBorin befielet benn il)r 2^riutnpl|? ©traa
barin, ba§ ©tnilia ©alotti ftirbt, toäl^renb jene il^r
Siöd^en Seben belialten? ©inb benn ©milienö
SBortc umf onft gef agt, me fic bie ^anb beö aSaterö
t)on ber SRad^e jurü(fl)ält: „Um bcö ^immefemHen
nii^t, mein aSater! S)iefeö Seben ift alleö,
toaö bie Safterl^aften l^aben!" 2)a§ fie biefeß
il^nen t)eräd^ttid^ gelaffene, gleid^fam t)or bie 3^ü§e
geworfene @ut befialten bürfen: baö wäre il^r
2:riumpl|? 3Ba§ ©milia ©alotti oon ß^arafterftärfe
unb ©eelengröjse l^at, wirb burd^ ben Sauf ber
33egebenl)eiten emporgetrieben unb erl)ebt fid^ julefet
in il^rer eigenften oollen Äraft, n)äl)renb bie ßfias
rafterfc^mäd^e unb ©elbftfud^t beö ^prinjen immer
weiter um fi($ greift, immer mberftanbälofer in bie
©emalt 3RarineIIiö gerÄtl^, biö er julefet alö ein wißen-
lofeö unb fd^led^teö SEBerf jeug beö SSerbred^enö baftel)t.
3ia(^ ber offenbaren 3lbfid^t beö S)id^terö lä^t bie ^Tra?
göbie burd^ ben ®ang ber ^anblung ben ßfiarafter
©milia ©alottiö biö ju einer SBittenöftörfe wad^fen,
bie einem SWann wie Dboarbo „über äße ©eraalt
ergaben" fd^eint, unb ben ßl^arafter beö ^rinjen
am ©ängelbanbe aWarineHis biö auf bie niebrigfte,
bem SBorte beö SSerfülirerö blinb unterworfene
236
SQBiffenöftufc 'l^erabfinfen. S^Ulit finb bcibc, ber
5ßrinj unb fein Dpfer, burd^ eine Äluft gefd^icbcn,
fo weit toie bie jroifd^en Fimmel unb ©rbe. Unb
biefeö ©efunfcnfcin wäre ber S^rtump]^ beö ^ßrinjcn?
Slud^ aWarinetti triumpl^irt nid^t, wie ©e^bet
mann am ©d^lufe, afe ber 5prtnj xi)n oerftöfet, hmä^
ein leifeö, ftummeö ©picl anjubeuten fud^te. S)ie
Oeberbe foHte fagen: „3)u bift mir fieser, morgen
rufft bu mi($ jurüdE, benn i(^ bin bir unentbel^r-
lid^!" Slein! ba§ war ni($t bie S^^ee £effing§ unb
feiner ©id^tung. ©er 3}lann, beffen le^teö SBort
im 3lnbIidE ber fterbenben ©railia „SBel^ mir!"
lautet, ift mit feinem SBi^ ju 6nbe unb mad^t nid^t
bie aWiene beö triump^irenben ^Pfiffifuö. Uebrigen^
fümmert eö un^ wenig, roaö morgen ober über^
morgen gefd^el^en, ob unb auf. meli^e 2lrt ber 5ßrinj
mit ober of)m SWarinelli oergeffen mirb, maö er
erlebt fiat. ©e^belmannö ©eberbe ift ber 3lnfang
beö ©at^rfpiete na^ ber S^ragöbie, aber ein fold^e^
©atrirfpiel l)at Seffing nid^t gemollt.
SBäre ®milia ©alotti feine ßl^araftertragöbie
im eminenten ©inn, fonbern ein ^ntriguenftüdf,
baö mit bem ©iege beö Safterö enbet, fo mürbe
Seffing baö t)öllige ©egentl^eil oon bem, roaö er
unh
ficrm am
\tU, geleiftct unb bie' t)ön il)m felbft
erungcn auf eine gcrabeju Mäglid^e
2lrt t)crfel^lt i)dben. SBer in biefem
ein SBirrfal fd^redlid^er Ungtüdös
fäffe unb ttraftid^cr aSerbred^en,\ nid^t aber bie
©(^idfale erfennt, bie mit SRotliroenbigfeit an§^ ben
©l^arafteren l)ert)orge]^en: ber jeigt, bajs man ba§
befannte ©prid^mort au($ einmal in umgefel^rter
SBeife erfüllen unb bie Säume nid^t feigen fann
vov bem SBalbe, meil er ju bunfel ober bem Sluge
ju fern ift.
vn.
prüfen mir alfo genau, mie fid^ in unferem
©tüdE bie ßl^araftere ju ben ©d^idfalen vex^alUn.
2)er Änoten ift gefd^lungen unb ber tragifd^e ®ang
ber Singe DoUftänbig angelegt, mie ber 5prinj feine
Seibenfd^aft 5IRarinelIi anvertraut unb aßeö, roaö
biefer tl^un mirb, um ©milienö ^eiratl) ju Dcrliins
bem, ungel^ört bittigt, bann in bie ^Keffe eilt, um
felbft fein ©lüdf ju t)erf u($en, unb baburd^ ba§
©ebäube feineö SEed^niferö untergräbt. ®ö ift ber
238
©d^ritt, ber, toie 3KarineIIi fagt, nid^t.in bcn2:attj
gcfiörte, fo unoermeiblid^ ber 5Prinj i^n au6) tljun
mußte. „@o unoermeibUd^!" 6r fennt ben
ßl^arafter feines §erm. ©tefen unücrmeiblid^en
©d^ritt, t)on bem ber folgenbe 5Berlauf ber Singe
abfjängt, ju motimren, war bie "aufgäbe ber @5pö=
fition, bie Seffing «in bem erften 2lct mit t)ottenbcter
Äunft auögefülirt fiat.
Sn einer SReil^e tt)ol)l in einanber gefügter,
poetifd^ bered^neter ©cenen wirb unö bie Snbim-
bualität beö ^prinjen fo n)irfung§t)ott unb fpred^cnb
gefd^ilbert, bajs wir fie gleid^fam erleben; er er=
fd^eint in feiner ganjen perfönlid^en Siebenömürbig-
feit unb 3lnmutl^, im B^wber einer nod^ im ^erjen
bewafirten, nod^ völlig unoerb orbenen fieibenfd^aft,
bie er felbft wie eine 3(rt läuternber Umroanblung
empfinbet. „33el)aglid^er ober nid^t bel^aglid^er, id^
bin fo beffer!" 3Jlit biefen SBorten, bie ein un-
t)erftellter 9luöbrudE feiner befferen 3latur finb, ge-
winnt er unfere 2^l)eilna]^me. 3^reilid^ ift biefen
Oefül^l bejfer afe er felbft, benn er ift rbanbelbar,
n)ie bie ©inbrüdEe ber 2öelt, unb feine guten ©m-
pfinbungen finb fd^roäd^er afe bie begel^rlid^en. 3^'
gleid^ erfialten wir ben (Sinbrudf eineö gebietenben
239
Öerrn/bcr von fetner fürftli($en ©tellung nid&t ben
S3eruf, nur ben ©enufe fennt unb nur fold^e 2Bol)l=
tl^aten gern erroeift, bie feinem ^Kad^tgefül^l fd^ntei^
d^eln; er ift ber 2^ppuö eineö g^ürften, wie fie im
vorigen ^afir^unbert bie SSölfer, inöbefonbere ba§
beutfd^e, in fo melen üppigen Seifpielen auf ber
ißöl^e ber ©efeßfd^aft ju fefien unb ju bewunbern
gerool^nt waren: er fül)It fi(^ nxä)t ate ben erften
Wiener beö ©taateö, fonbern alö einen t)on ben
©Ottern biefer ®rbe. SBenn fid^ mit ben bejaus
bemben ©inbrüden ber 3Sla^t nod^ bie ber ^perfon
vereinigen, roirfen biefe ©rbengötter unwiberftel^Iidö
unb beftriden felbft eble ®emütl)er. ®in feuriges
Öerj, wie bie ©räfin Drfina, Hebt biefen ^ßrinjen
aud^ um feiner felbft willen unb fann mit feiner
Untreue baö S)afein nid^t mel)r ertragen.
©ine fold^e Eingebung von Seiten einer fold^en
grau fd^ilbert nn^ bie ©id^tung nid^t umfonft.
S)iefer S^i foff nid^t blos bie ®emütl)öart ber
©räfin d^arafterifiren, fonbern jugleid^ ben perfön^
tid^en Sauber beö ^prinjen ^ettore ©onjaga bejeugen.
®r ^t fie geliebt, biö er ©milia ©alotti gefel)en.
3e|t ift biefe ©mpfinbung erlofd^en, unb jebe ©r::
innerung baran entffammt nur ftärfer bie neue
240
©lutl^, bic x^n ergriffen. 5Bon 5IWoment ju 3Koment
lüirb biefe ntül^fam t)erl^altene ßeibenfd^aft bis }u
bem Sluöbrud^ gefteigert, ber ben ®ang ber Xro^
göbie entfd^eibet.
6ö ift bie einfame grillte be« aJlorgenö, tDO bie
einbrücfe unb Silber, bie unö am tiefften bewegen,
ungeftört unb mit gefammelter Äraft mirfen; bet
^rinj fd^eint t)on einer leibenfd^aftlid^en ttnrul^e
erfüllt, bie mol^l baran ©d^ulb war, bafe er fo
frül^ 2^ag gemad^t; er will fid^ auf anbere ©ebanfen
bringen unb burd^ Slrbeit jerftreuen. 33ittfd^riften
lefen nennt er arbeiten. S)amit beginnt baö ©ttid:
„klagen, nid^tö alö klagen ! Sittf d^riften, nid^tö afe
SBittfd^riften!" 6ine ber lefeteren trägt ben SRamen:
„©milia Sruneöd^i," fie l^at öiel geforbert, fel^r öiel,
„bod^ fie l^eifet ©milia. ©eroöl^rt!" 2)er Jlame
l^at magifd^ gemirft. „3d^ mar fo rul^ig, bilb' id^
mir ein, fo rul^ig. — 3luf einmal mu§ eine arme
Sruneöd^i ©milia l^eifeen: meg ifi meine diuf)e unb
atteö!" 5IWit bem „2lrbeiten" ift eö t)orbei, jefet
foH il^n eine aWorgenfal^rt jerftreuen unb 3ÄarineIli
ifin begleiten.
©miliaö S3ilb ^in ber ©eele beö ^rinjen läfet
fid^ nid^t cerfd^eud^en, ber blofee Älang il^reö Jlamenö
241
bciüirft, bafe feine erfünftelte unb eingebilhete
©eelenrul^e fofort t)erfd^it)inbet unb jene leibenfd^aft^
lid^e Unrul^e jurüdfefirt, bie er cergeblid^ bemeiftern
wollte. Sefet tft fie fiegreid^er unb barum mäd^tiger
unb flürmifd^er afe t)orf)er. S5ie ©timmung ber
folgenben ©cenen ift baburd^ bebingt. 3" biefem
Slugenbltd wirb bem dürften ba§ SiHet ber Drfina
gebrad^t: eine 9Jlaf)nung an'bie ©eliebte von geftem!
6r wirft eö bei ©eite. ^ätte er biefe 3^^^^" 9^*
lefen, fo mufete bie ^afirt nad^ ©ofalo unterbleiben
unb ber fpätere 5pian 3JtarineBiö war unmöglid^,
2lber nid^tö ift nalürlid^er, ate ba§ ber ^rinj in
biefer ©timmung ben 33rief ber Drfina nid^t lieft.
„SRun ja, id^ f)abe fie ju lieben geglaubt! 2Baö
glaubt man ni(^t alles! Äann fein, id^ f)abe fie
aud^ TOirflidö geliebt. 2lber id^ l^abe!"
3)ie leibenfd^aftlid^e 5Reigung roäd^ft burd^ ben
SBiberftanb, ben fie erfäfirt. 3)aö (SntjüdEen, n)o=
mit i^re ®inbilbung§fraft fid^ bie ©d^önl^eit ber
©eliebten t)ergegenn)ärtigt, culminirt, wenn ber
@nt^ufiaömu§ eines Äünftlerö biefe§ (SntjüdEen tl^eilt
unb beftätigt. 2luf ba§ »ittet ber Drfina folgt ber
aJlaler mit bem befteHten Silbe ber ©räfin, ba§
ber 5prinj nod^ t)or einem 3Jtonat . freubig begrüjgt
242
l^dtte, jefet aber nur ate eine jubringltd^c Erinnerung
an bie erlofd^ene Siebe empfängt, ©o eitel unb nnbcr-
roärtig, wie biefe Siebe, erfd^eint il^m jefet bie ©rdfin
felbft. ®r finbet ba§ 33ilb unenblid^ gefd^meiii^elt.
„Unb n)aö fagte ba§ Original?" „3d^ bin jufrieben,"
fagte bie ©räfin, „wenn iä) nid^t l^äfelid^er ausfeile."
„Jlid^t ^ä^lid^er? D baö roal&re Original!"*)
S5er Gontraft fteigert bie Seibenfd^aft , bie er
im öerjen trägt. S^mer leud^tenber ftral^lt in
*) SJlan ^at btcfcn Slu8btU(f bdlltg miSbcxponbcn, toemi
man i1)n fo et!latt, aU oh bet $tinj baS S3ilb ^äglid^ unb
l^äglid^ genug finbe, nm ber Gräfin 3U gleidgen: biefe toxH
nid^t l^dglid^et ausfeilen? 3^ badete, fte toäte l^&Bltd^ genug.
»0 baS toal^te Ctiginol!" Sine foldfte 2)cutung toibetjheitet
bem ©inn unb ben SBotten beS S)td^tet8. S)eT ^Ptinj finbet
bag $tlb. „unenblid^ gefd^meid^elt', toeit fd^önet aU haSi
Ctiginol. 2)ie Ötöfln toat onbetet ^üleinung, fic l^ält fldj
füt toeit fd^önet aU bag S3tlb unb tabelt baS 9Det! beS
Tlahx^ mit floljet l^öl^ttifd^et SRiene, inbem fte bet&d^tlid^
fagt: „idft Un aufticben, toenn id^ nid^t l^dglid^ex ougfcl^e*.
2)iefe SBotte einet ftolaen, lolettcn unb berle^cnbcn @itelleit
d^ataftetifiten in ben Slugen beS ^tinacn baS SBcfen bet
<Stäfin. @t toill fagen: id^ fe^e fie bot mit, id^ ^öte fte
teben. „0 baS toal^tc Ctiginol!" ©ein SluStuf Beaicl^t ftdj
ballet nid^t auf baS SBilb, foubetn auf bie Ctfina felbft unb
t^t ^eBal^ten, ba3 ftd^ bet UeBetbtug beg ^tin^en nid^t
obftoftenb genug öotftellen !ann.
243
feiner 5ptiantafie baö 33Ub ber @milia ©alotti. S5a
überrafd^t if)n plöfelid^ ber aWaler mit bem Portrait
felbft. „33ei ®ott, wie auö bem Spiegel geftol^Ienl"
ruft l^ingeriffen ber ^rinj. $ier ift nid^tö ibealifirt,
nid^tö gefd^meid^elt. 3m ©egentl^eil, ber Äünftler
mu§ befennen, ba§ er l^inter biefem Originale n)eit
jurüdgeblieben fei. „2lber bafe id^ eö roeijg, n)aö
l^ier t)erloren gegangen unb wie eö t)erIoren ge=
gangen unb warum eö vexloxen gelten muffen:
barauf bin id^ ftolj unb ftoljer, alö id^ auf aHeö
baö bin, waö id^ nic^t verloren gelten laffen. S5enn
auö jenem erfenne id^ mel^r ate aus biefem, ba^
id^ mirflidö ein großer 3Waler bin, ba§ eö aber
meine $anb nid^t immer ift." „2lber baö mufe id^
Sinnen bod^ afe 3RaIer fagen, mein ^rinj: eine
t)on ben gröjgten ©lüdffetigfeiten meines Sebenö ift
eö, bafe (Smilia ©alotti mir gefejfen. S5iefer £opf,
biefeö SlntUfe, biefe ©tirn, biefe 2lugen, biefe SRafe,
biefer 3Kunb, biefeö Äinn, biefer ^alö, biefe S3ruft,
biefer SEBud^ö, biefer ganje 33au finb von ber S^it ^^
mein einjigeö ©tubium ber roeiblid^en ©d^önl^eit" *).
*) S)et Scfet tooKe bie obige ©teile a^Ö^^i^ <^^^ ciw
l^ödftft inteteflianteg SBeifpiel ber Uebeteinftimmung atoifd^en
S)tcfc SBorte bcö al^nungötofen, nur von feinem
Sbeal ergriffenen aWaler^ muffen emilia ©alotti
in ben Slugen beö ^prinjen vergöttern. 6r ntö(i^te
allein mit bem Silbe bleiben. S5a ftört il^n aJla-
rinelli, ber auf feinen Sefel^l fommt. 3laä)
einigen gleid^giltigen SEBorten miH il)n ber ^rinj
fortfd^icfen. „2Ba§ jiaben mir Sieueö, SÄarineHi?"
Unb nun erfäl^rt er ate eine ^ageöneuigfeit unter
anberen: baJ3 3lppiani noä) l^eute mit einer gemiffen
©milia ©alotti fid^ vermäßen mirb. „3)aö fann
nid^t fein", ruft ber ^rinj, alö ob er eö ju ver-
bieten l)ätte. „©ie fagten ol^nebem eine gemiffe
€milia Oalotti — eine gemiffe. 58on ber redeten
fönnte nur ein SRarr fo fpred^en." S^fet mufe ber
Scffing bem Ätitüer unb ßefftng bem S)id6tet Bead^ten. 2)tc
Sd^ön^eit bet @milia ^alottt tuitb l^iet t)on hcm ^id^iet
genau nad^ ber SSotfd^rift gefd^Ubctt, bie im Saofoon bet
Äritüet aU btc toitffamftc %xi, bU lötperlid^c ©dftönl^eit
^oettfd^ batauftellen , Begtünbet ^at: er lögt pe burd§ ben
fcilbenben Äünftler fd^ilbern. 2)ie Uo^t ^er^äl^lung ber
einaelnen lörperlid^en ©d^ön^eitcn toärc trodfen unb reimlos,
^a^ aBer ber SJlolcr c§ ift, btv mit entjüd^ten SBorten
bie l^errtid^e (Srfd^einung bcfd^reibt, ^an^ in i^rc ^nfdftauung
tierloren, ba§ mad^t bie Sd^ilberung fo totr!ung§t)oII unb
ergrcifenb.
245
©icncr entgelten, ba^ feine SReuigfeit ben ^errn
in bie übelfte Stimmung gebrad^t \)at 2luf bie
erfd^rocfene unb erftaunte ^xaQe: „©ie finb au^er
ftd^, gnäbiger ^err. kennen ©ie benn bief e (Smilia ?"
lautet bie 2lntn)ort fo fierrifd^ oinb jurücfmeifenb ate
möglid^: „3d^ l^abe ju fragen, 3RarineIIi, nid^t ®r."
3nbef[en änbert fid^ ber ^on fd^neH ; nad^ wenigen
Slugenblicfen weife 5IWarinelIi affeö, er ift im ge:=
l^eimften 5Bertrauen be§ ^errn unb baö roifffommene,
miHfätirige SBerfjeug feiner t)erborgenften SBünfd^e.
3)ie ^eiratl^ ®miliaö foll t)erl^inbert merben, ^a^
rinelli ift ju allem erbötig ; ber ^prinj billigt alleö,
ungel^ört unb ungeprüft. Slber faum ift er allein,
fo überwältigt il^n feine leibenfd^aftlid^e ttnrul^e, er
will fid^ nid^t allein auf ben 3)iener t)erlaffen, nid^t
bem ©piele beffelben affeö ant)ertrauen, baö ©piel
fönnte t)erloren gelten, er wiff nid^t länger fd^mad^ten
unb feufjen, fonbern tianbeln. 5ßon biefen SBor?
fteffungen getrieben, eilt er in bie 9Weffe, um @milia
ju feilen, ju fpred^en, ju gewinnen. Äein ©taatö-
gefd^äft fann itin aufl^alten, aud^ nid^t baö S^obeö?
urtl^eil, von beffen Unterfd^rift ein 9Wenfd^enleben
abl^ängt. „Siedet gern. 3?ur l^er! gefd^winb." Unb
wie fein diaü) mit fd^werem 5Rad^brud wieberl^olt:
246
„es tft ein 2:obeöurtl^ctl!" antwortet er, übet
gelaunt wegen ber Hemmung: „^ä) l^öre ja roo^I.
®ö fönnte fd^on gefd^el^en fein. 3^ bin eilig."
SBaö gilt biefer Seibenfd^aft ein 2^obe§urtl^eil ? ^atte
er bod^ blinb ben 5IWorb Slppianiö genel^migt, afe
er 3Rarineffi freie ^anb liefe, ©milia ©olotti ifl
t)erlobt; (Smilia Sruneöd^i finft in feiner ©unft:
e§ mag jefet unentfd^ieben bleiben , ob /ilire Sitte
geroäl^rt ift.
„3(ä^ bin eilig!" 2ln biefer ®ile beö ^prinjen
pngt ber 58erlauf unferer S^ragöbie. Dtine biefe
fortftürmenbe Seibenf d^aft , bie if)n in bie 3Keffe
treibt, roürbe (Smilia ©alotti in biefem 3^itpunfte
nid^ts von feiner Siebe erfal^ren unb nid^tö erlebt
l^aben, wa^ ber 3Wutter unb il)rem Bräutigam an=
anvertrauen mar. 5IWarineffiö 3lnfd^lag würbe auö-
gefüf)rt unb blieb unentbedft. 3Benn ber ^rinj
biefeä ober jeneö nid^t getf)an! 3Kit einem fold^en
„aSenn" läfet fid^ "nid^t bloö ©preu in ®olb, fonbem
lebe 2^ragöbie in ein Suftfpiel t)ern)anbeln. ^ätte
ex anberS getianbelt, fo würben ifin feine fold^en
Slffecte bewegt l^aben: bann waren feine (Smpfinbungen
nid^t biefe Seibenfd^aft unb er felbft nid^t biefer
©l^arafter, nid^t ^ettore ©onjaga, fo wie diomto
247
niä)t 9iomeo l^ättc fein muffen, wenn er ©eelenrul^e
genug gel^abt, um auf fidlere 3lad)vxä)ten t)on feiner
Sulia ju warten ober am ©arge berfelben mit ber
5WögIid^feit beö ©d^eintobeö ju red^nen. Sd^ vex^
gleid^e nid^t bie Slrt biefer ©l^araftere, fonbem bie
Sriebhraft il^rer Seibenfd^aften, bie fo finb, wie ber
^rinj von fid^ fagt: „3d^ bin eilig!" (Stmaö
mel^r Sefonnenl^eit unb ^l^tegma, etroaS weniger
fieibenfd^aft unb geuer: — unb bie Siebe erlebt
feine 2^ragöbien mel^r!
VIII.
^^xahtetißh §nitiM. pie c$9fiitig be$
'^o0fem$.
®afe (Smilia ©alotti il^rem Bräutigam vtx^
fd^meigt, roaö fle auö eigener Bewegung unb
rid^tigem ^Pflid^tgefül^l il^m vertrauen rooHte, in bem
Slugenblid öerfd^meigt, ber baö ofifenfte 3Sertrauen
forberte unb nad^ bem ®ange ber 33egebenf)eiten
ber einjige mar, morin fie ftd^ auöfpred^en fonnte:
biefe Unterlaffung entfd^eibet ba§ ©d^idffal 2lppianiö
unb l^at alle bie g^olgen, bie il^r ba§ &tben t)öllig
entmertl^en. 9luf baö 3^^^^^^^ ber 3Wutter t)erbirgt
248
fte bem 3Wanne, bem fie fid^ angelobt l^ot, bem fie
für immer gel^ört unb auö voütx Sieigung gel^örcn
roiH, etmaö, baö btefer Tlann erfal^ren, t)on i^r
unb jefet erfal^ren mufete. SEBiber bie ©timme be§
eigenen ^erjenö unterbrütft fie baö 3Sertrauen, ju
bem il^r rid^tigeö ®efüf)I fie brängt. „3lber m(i^t,
meine aWutter? S)er ®raf mufe eö miffen. Si^tn
mu§ id^ eö f agen ?" (Sifrig miberrätl^ eö bie 5IWutter :
„Um aaeSBelt nid^t! SBoju? SBarum? 2Biaft bu
für nichts unb wieber nichts if)n unrul^ig mad^en ?"
©ie giebt if)r ©rünbe, bie auf ben ß^arafter
2lppianiö wenig paffen : bie ^ulbigungen beö ^prinjen
fönnten bem Siebl^aber fd^meic^eln unb fpäter bie
©iferfud^t beö ©emal^te erregen. ®milia ift nid^t
überzeugt, fie l^ört nod^ immer bie 9Wal^nung il^res
^erjenö. „©ie wiffen, meine aWutter, mie gern
id^ '^i)xtn befferen (Sinfid^ten mid^ in allem
unterwerfe. 2lber, wenn er eö von einem anberen
erfül^re, ba§ ber ^rinj mi(^ l^eute gefprod^en?
SBürbe mein SBerfd^meigen nid^t frül^ ober fpät feine
Unrul^e tjermeliren? 3d^ badete bod^, id^ bel^ielte
lieber vox il)m nid^tö auf bem ^erjen". S)iefe fo
rid^tig empfunbenen, fo treffenben Semeggrünbe
nennt bie 9Wutter eine „verliebte ©d^road^l^eit" unb
249
beJ^anbclt ftc ate einen aJlangel an ©inftd^t, ber i^r
finbifd^ erfd^eint. „5Rein, burd^öuö nid^t, meine
S^od^ter ! ©ag' il^m nid^tö. Sa§ il^n nid^tö merf en !"
ttnb bie 2^od^ter, geioöfint, bie mütterlid^en ©in^
ftd^ten für bie beften ju lialten, giebt nad^, über^
jeugt, ba^ if)re Seroeggrünbe tl^örid^t, il^re Se^:
fürd^tungen grunbloö roaren. „3Baö für ein alberneö,
furd^tfanteö S)ing id^ bin!" „5Run ja, meine
SKutter! 3d^ l^abe feinen SBillen gegen ben
Sl^rigen."
6tn)aö weniger von biefem ftnblid^en ©el^orfam,
von biefem unbebingten ftnblid^en 58ertrauen, baö
fomel gröfeer ift, ate il^re S^^^^P^t ju fid^ felbft,
etwas weniger Äinb, unb fie folgte ber eigenen
©timme: 2lppiani erfutir alle§, unb ber Slnfd^Iag
SKarineffiö war umfonft. 2lber etwas weniger Äinb
— unb @milia ©alotti ift nid^t mel^r ©milia ©alotti:
fie ift nid^t metir bie (Srfd^einung, beren ©d^ön^eit
im ©inflange mit if)rer finblid^en SRatur tjoller
Unfd^ulb unb ^eiterfeit ben 3Jlaler bezaubert,
Slppianis ^erj gewinnt, bie ^ptiantafie beö ^prinjen
entjünbet; eö ift nid^t mel)r bie (Smiüa nad^ bem
SBorte be§ 3RaIer§: „2Bie, mein ^rinj, ©ie
lennen biefen ®ngel?"
250
3)aö crfte SBort, baö tDtr t)on il^rer ßippe t)er-
nel^men, cntl^üfft unö foglcid^ einen ber ©runbjügc
il^reö Sffiefenö, ber il^ren Gl^arafter befttmmt unb in
il^r ©d^idffal eingreift. 3la(S) jener ©cene, bie fxe
in ber Äird^e erlebt l^at, eilt fie na^ Saufe, in
angftüoffer Sßenüirrung, von gurd^t betäubt, roäl^nenb,
fie f)öre l^inter fid^ bie ©d^ritte beö 33erfoIger§,
aSie fte bie aRutter erblidft, ruft fie auö: „ffio^l
mir! 3Bol^l mir! "^un bin id^ in ©id^erl^eit.^
3)a§ fie bie Siebeögeftänbniffe beö ^prinjen am
gel^ört l^at, anl^ören mufete unb il^ren guten ßngel
umfonft angeflel^t, fie mit 2^aubl^eit, wenn aud^ für
immer, ju fd^lagen, empfinbet ba§ fromme Äinb di
eine ©d^ulb miber SBiffen, alö eine „9ßitfd^ulb an
frembem Safter". S5aö SBort ber 5IWutter berul^igt
unb erleid^tert fie. 3Bie biefe il^r fagt, ba6 fie bie
©ad^e vid ju ernftl^aft empfunben l^abe, menn fie
nid^tige ^ulbigungen ober ©alanterien für leiben-
fd^aftlid^e 33ettieurungen genommen, atl^met fie auf,
unb ll^re finblid^e ^eiterleit feiert jurüdf. „D meine
3Jlutter ! fo müfete id^ mir mit meiner gurd^t t)offenb8
läd^erlid^ t)orfommen! 3l\xn foff er geroife nid^tö
bavon erfal^ren, mein guter 3lppiani!" — ^ixtte
(Smilia eine (Smpfinbung für ben ^rinjen, bie aud^
251
nur im minbcßen ben Äeim einer Seibenf(]^aft
entl^tclte, fo toürben bie Sßerfid^erungen ber 3Wutter,
baM^i^^^^'^i^iflw^Ö^« leere ^öflid^feiten toaren, fie
Tiid^t erleichtern, afe ob eine ©entnerlaft t)on Sfyc
genommen märe, fon!)ern fd^merjlid^ enttäufd^en ;
fie l^ätte bann jene leibenfd^aftlid^en Setl^eurungen,
bie fie gehört, aud^ nimmermetir afe „frembeö
Safter" bejeid^net, „baö unö miber unfern SßiHen
ju 3Jlitfd^uIbigen mad^en lann". S5arin liegt ber
t)onfommenfte unb bünbigfte Semeiö, ba§ jebe 31ns
bid^tung einer fold^en SRegung, bie ©milia ©alotti
für ben ^rinjen empfinben foH, bem S5id^ter felbft
unb feinem SBerf gänjlid^ fremb ift unb auf baö
3leu§erfte miberftreitet.
Snbeffen märe ®milia nid^t bie Knblid^e, l^arm=
lofe unb ptiantafieoolle 9iatur, menn bie ©inbrüdfe
ber 2Belt nid^t eine grofee 9Wad^t auf fie ausüben
fönnten, bie ungemölinlid^en unb erften (Sinbrüdfe
ber großen unb glänjenben Sffielt! ©ie l^at biefe
®rfaf)rung im ^aufe ©rimalbi gemad^t, mo fie jene
gro^e unb glänjenbe SBelt jum erftenmal f al^, unb ber
^rinj, t)on itirer ®rf d^einung gef effelt, il^r feine ^ulbis
gungen mibmete. 3)ie mütterlid^e @itelf eit l;at bie f ürft-
lid^e Sluöjeid^nung ber S^od^ter mit l^armlofergreube
252
\
) gefeiten. @miüa l^at ©inbrüde empfangen, bte hmä)
baö mütterlid^e SBol^lgefallen cerftärft würben, benn
fie fielet mit ben Singen ber 3WnttCT, ©inbrüdf e, vor
benen bie t)äterlid^e ®rjtel^nng fie bewal^rt roiffen
rooHte, nnb fie empfinbet aud^ in ber ©eele bc§
aSaterö. ©o entfielet in ber ©tiHe il^reö ®emütl(i§
ber erfte SBiberftreit roeltlid^er nnb frommer ©nt-
pfinbungen: „®§ erf)ob fid^ fo mand^er 2^umult in
meiner ©eele, ben bie ftrengften Uebungen ber
Sleligion fanm in SBod^en befänftigen fonnten."
$ier ift von feinem leibenfd^aftlid^, fonbern finblid^
empfunbenen ©onflict bie SRebe, ber auf Knblid^
fromme 2lrt gebüßt unb befd^roid^tigt fein will,
©ie l)at erlebt, ba^ bie S^vbex ber SBelt fie be^
ftridfen fönnen: barin befielet bie 3Rad^t ber SSer-
fül^rung, bie fie fürd^tet. ®§ tt»ar junäd^ft eine un-
beftimmte e?urd^t, bie ben g^einb unb bie ©efal^r
nid^t beutlid^ fielet, fonbern ate jene unlieimlid^e
3Wad^t meltlid^er SodEung empfinbet, vor ber baä
t)äterlid^e 2Bort unb bie 3Jla{)nungen ber Sieligion
fie ftetö geroarnt liaben. Slber ate (Smilia in il)rer
legten ©tunbe bem 3Sater jenes Sefenntnife mad^t,
fielet, maö fie fürd^tet, mit erfd^redenber Älarl^eit vor
i^rer ©eele. 2Ba§ fürd^tet fie? 3Baö liat fie erlebt.
i^)
baö il^r eine fo unerfc^ütterlid^e %\xxi)i t)or bem
^thtxi einflößen fonnte?' SBir muffen, um biefe
gragc ju löfen, auö ber SRatur il^rer ©mpfinbung
unb ilireö ©liarafterö auf ben erlebten ©ang ber
:2)in9e jurücfbliden.
2ln jenem 2lbenb im ^aufe ©rimalbi war bie
Seibenfd^aft beö ^rinjen entftanben, morauö g^re^el
überg^ret)el fiercorgegangen ftnb: bie (Sntmeifiung,
ber SRcud^elmorb unb bie (Sntfül^rung! ttnb
©milia ©aletti fonnte bie (Sinbrüde jeneö 2lbenbö
wie einen lodenben 3^w^^i^ empfinben unb in fid^
' f ortmirfen laffen ! S5er ^rinj f)at ifir feine ßeiben-
fd^aft geftanben, unb fie fonnte auf ben SRatf) ber
3Wutter, ein ju folgfameö unb nad^giebiges £inb,
il^rem Sräutigam aHeö t)erf (^raeigen , frol^, ba^ fie
im Sßertrauen auf bie mtitterlid^e (Sinfid^t Jene oer-
l^ängifeooHe Begegnung für ju geringfügig l^alten
burfte, um barüber ju reben. ©ie l)at gefc^miegen ;
ber 5Cob 3lppianiö unb i^re ©ntfülirung finb bie
l^olgen. „®er ®raf ift tobt, unb warum er tobt
ift! warum!" ^efet ift fie in ber ^anb be§
^ä\xh^^, unb eö l^at no(^ thtn im ©d^loffe ©ofalo
€inen 2lugenblidE gegeben, ber fie ju ben g^üfeen
beö ^rinjen fal^, um ^Rettung unb ©d^onung flel^enb.
25+
Tiod^ ntd^t tDiffenb, ba§ ber Sräutigam erfii^lagcn
liegt, nod^ nid^t al^nenb, ba§ ber 9ßann, t)ot bcm
fie nieberfäfft, il^r @ntfü^rer ift, ber ben aJlorb
Slpptaniö gefd^el^en Hejg. 3lvin ift il^r aUeö entl^üllt,
unb fie erfennt ben Slbgrunb , t)or bem fie fte^t,
unb biö n)ot|in eine SBerblenbung, bie fie ate ©d^ulb
empfinben mu^, fie gefül^rt l^ot. ©in eitijigeö 3Rttl
l^at fie in baö glänjenbe Seben geblidft, baö il^r lodenb
unb l^errlid^ entgegenftratilte, fie war wie geblenbct
unb brandete 3^^, um burd^ il^re grömmigfeit ben
erften Slufrul^r il^rer ^l^antafie ju befämpfen. an
il^rem ^od^jeitöntorgen , mitten in ber Slnbad^t beö
N§ ©ebetö, mu§ fie erleben, ba§ bie glamme
einer glüfienben, fünbl^aften ßeibenfd^aft naä) i^x
jüngelt; entfefet fliel^t fie jur aJlutter unb läfet ^
glauben * mad^en , ba§ eö feine g^lamme, nur ein
paar flüd^tige g^unfen au§ ber ©iranbola ber gläm
jenben SBett maren. ©ie fd^weigt unb läfet bas
^euer ben SBeg beö aSerberbenö gelten, ^piöfelid^
t)ern)anbelt fid^ bie lad^enbe Sffielt vox il^ren Slugen
in einen ^ful^l von aSerbred^en, in eine §ölle, bie
nad^ il^r greift. ^i)x ©elbftoertrauen ift biö inö
3nnerfte erfd^üttert. ®ö fönnte \a fein, ba§ biefe
^öffe fid^ wieber in eine lad^enbe SSelt öerwanbelt,
255
bic fic von neuem entjüdft, wie an jenem 3lbenb
im ^aufe ©rimalbi: bann ift fie nid^t mel^r ein
unfd^ulbigeö Äinb, fonbern ein verlorenes ßJefd^öpf!
Unb in biefeö ^au§ foff fie jurüdEf eieren ! 3la^ ber
erften ©rfal^rung, bie fie an fid^ felbft gemad^t t)at,
l^ält fie jeftt fid^ nid^t für gerüftet unb fällig, eine jweite
?Probe ju beftel^en. „3d^ l^abe 33Iut, mein 58ater,
fo jugenblid^es, fo roarmeö 33lut ate eine. 2lud^
meine ©inne finb ©inne. 3d^ ftet)e für nid^tö.
3d^ bin für nid^tö gut. 3d^ fenne baö ißauö ber
Orimalbi. 6§ ift ba§ ißauö ber greube." ^ier
nad^ bem ©riebten nod^ einmal einen 9Koment ber
greube ju erleben, erfd^eint il^r afö ber Sßerlufl
il^rer ©eligfeit. 2)ie Sugenb ift fein SBäd^ter ber
©inne. ®ieö ift bie %nx^t, bie fie befällt, unb
bie fid^ nimmermel^r erfüllen foff. „©ie ift bie
gurd^tf amfte unb bie ®ntf d^Ioffenfte il^reö ® ef d^Ied^tö,"
fagt il^re SDlutter: „Sl^rer erften ®inbrüdEe nie mäd^tig,
aber nad^ ber geringften Ueberlegung in affe§ fid^
pnbenb unb auf affeö gefaxt." Äeinen ©d^ritt in
baö ißauö ©rimalbi! 2lfe fie biefen Flamen l^ört,
erft in biefem 9Woment fommt ii)x ber ©ntfd^lug
ju fterben mit unn)iberftet)Iid^er ©eroalt, eö gilt bie
Siettung ber ©eele von bem aSerberben auf eioig.
„5Rid^tö ©d^Iimmereö ju üermetben, fprangen SCau-
fenbe in bie 3^Iutt)en unb finb ißeiligc! — ©eben
©ie mir, mein aSatcr, geben ©ie mir biefen ©old^".
®milia (Salotti fielet fid^ in einer fo brangt)otten
Sage, bafe i^r ber freiwillige Xoh alö ber einjige
Sluöioeg, ate bie einjige SUlöglid^feit il^rer ©eelen?
rettung unb barum ate eine religiöfe ^pfKid^tcrfüHung
erfd^eint. ®ö ift für unö fo wenig, ate für fie
felbft, eine ju erörternbe ^rage: ob fie 3ied^t l^at,
ob il^re SSorftellung Ürd^Iid^ correct ift ober nid^t?
e§ ift il^r perfönlid^er ©laube, ber in biefem aWoment,
too fie feine irbifd^e ^ülfe mel^r fielet, mit unroiber^
ftel)lid^er ßJeroalt il^ren SBillen ergreift unb i^r
juruft: „3n einer fold^en ©efal^r gibt eö nur eine
fold^e ^Rettung! glüd^te beine ©eele ju ®ott!"
3d^ fage auöbrüdlid^: in biefem SDloment, ber
nad^ äffen oorl^ergel^enben bie ©ituation bergeftalt
verengt f)ai, bafe jebe anbere ßöfung auögefd^Ioffen
fd^eint unb fd^einen mu§. 5!Kan bead^te moi)i bie
^präcifion meineö 3lu§brudö unb lajfe fi(^ biefelbe
in ber Seurt^eilung unferer gefammten Sl^ragöbie
jur burd^gängigen Slid^tfd^nur bienen. SBenn in
ber Äette be§ tragifi^en eaufalneguö üBeraff baö
Ungefäl^r auägefd^Ioffen fein unb affe§ fo gefd^el)en
257
foU, ba§ eö nid^t anberö gefd^efien tonnte : fo mujs
anä) jebe tragifd^e ißanblung tfiren genau beftimmten
3eitpunft ^aben. 3Baä nid^t jefet gefd^tel^t, unter-
bleibt für immer; ber einmal verlorene SKoment ift
unmieberbringlid^ oerloren. 2ßaö gefd^iel^t, gefd^ieljt
jefet ober nie! S^ber SJloment ift gefettet an bie
t)orI)ergel^enben unb binbet bie folgenben. ®§ gibt
in ber ^Tragöbie feine Opportunität, feine fo be=
bäd^tige SBal^l unb günftige Sage ber 3^itpi^nfte,
bafe äffe fd^limmen eJolgen ber ^anblungen meiälid^
t)erl)ütet werben : feine 3^itpunfte, bie man erwartet,
wie bie bequemen ©pajiergänger ba§ gute SBetter.
2)ie tragifd^en Seibenfd^aften gel)en nid^t fpa^ieren,
fie finb eilig unb l^aben feine 3^^^ X^i oerlieren,
wie ber ^rinj baö 3:^obe§urtl)eil ungelefen unter^^
fd^reiben miff, um fd^neffer in ©milienö 5Räl)e ju
fein. ®ie 3^it in ber Sl^ragöbie ift furd^tbar,
wie baö ©d^idffal felbft, unb iä) fenne fein ^rauer^
fpiel, morin mir biefe gurd^tbarfeit fo eingeleu(^tet
l^ätte, wie l^ier, feines, worin jebe ^anblung unb
jebe Unterlaffung fo wie l^ier an il^ren 3^itpwnft
gefettet wäre. 2)ieö gilt aud^ t)on bem 3Koment,
worin ®milia ben ®ntfd^lu§ ju fterben fafet; aud^
von bem 3lugenblidE, worin Dboarbo fie tobtet.
Äuno gifd^er, ®. e. Sejjlng. I. 11
258
S)aburd^ wirb bic 9lott)n)enbigfeit ber ^anbtungen
nid^t abgeminbert, fonbern in SJBal^rl^eit erft voh
enbet.
ßeffing l^at unö ben ß^arafter feiner ßmilia
©alotti babur(^ fo roaf)x unb rüt)renb gefd^ilbert,
baj5 er tl^re Statut unb ©emütl^öart no(^ fo ftnb=
Ud^ unb in einem geroiffen ©inne unent faltet
fein läfet. ©troaö mel^r SJBelterf al^rung , unb fie
würbe bie erften ©inbrücfe leidster beraältigen unb
bie SSerfu(^ungen ber 3Belt weniger fürd^ten, aber
bann roäre fie nid^t mel^r ©milia ©alotti, nid^t
mel^r, wie ber 3JlaIer fagt: „biefer ©ngel".
®arum burfte ber weife SDid^ter xi)v au^ nur einen
eng bemeffenen bramatifd^en ©piefraum gewdl^ren:
fie erfd^eint nur in wenigen 9luftritten, in feinem
einjigen 3Jlonolog, worin fid^ innere 3Sorgänge
unb ©eelenfämpfe t)erratt)en fönnten, bie eine
gröjsere 3ila^t unb greil^eit ber SiefteEion, eine
größere ©elbftänbigfeit eigenen inneren ßebenö
oorausfefeen würben, at§ ©milia ©alotti l^at unb
l^aberi barf. ^n il^rem ©emütl^ ift nid^tö oerborgen,
waö fid^ nur in einem ©elbftgefpräd^e offenbaren
liefee. 9lm wenigften eine Seibenfd^aft für ben
^prinjen! S)ie iiingeworfene Semerfung @oetl^e§
259
Ijätte man in btefem g^aH nid^t jur 3Beifung ueljmeii
unb in ßommentaren ausbeuten fotten, bie auö
bem 'SCrauerfpiel ßeffingö einen elenben SRoman
unb aus ber ®milia (Salotti eine %iQnx mad^en,
bie wie ber erfte oerunglücfte 58erfud^ jur ®rfinbung
einer fogenannten problematifd^en 9iatur auöfiel)t.
3lxä)t^ ift falfd^er. ©ine problematifd^e 5Ratur er=
lebt feine fold^e Sl^ragöbie, ift fein fotd^er ßl^arafter,
l^at feine fold^e gurd^t unb feine fofd^e ®ntfd^Ioffen=
l^eit! ®aju gel^ört eine einfädle, ben g^amilien-
tugenben nid^t entroad^fene, im ßJtauben unb in ber
5ßietät feftgeraurjelte ©inneöart, bie im ßonftict mit
bem SBerberben ber 3BeIt [id^ behauptet unb lieber
im 9lrm beö SBaterö fterben, alö von ben 3Burjeln
if)re§ ©afeinö loögeriffen fein mill.
igören mir hoä) Seffing felbft, mie er fid^ über
ben ei^arafter ber ©milia ©alotti brieflid^ feinem
33ruber gegenüber äußert, ber in ber ^Titelrolle be§
©tüdfes (jmar feine Seibenfd^aft für ben ^rinjen
entbedft, aber) ben 3Kangel an bramatifd^er ^l^at=
fraft unb befonberö an jeitgemäfeer 3lufflärung
gerügt liatte: maß merben ju einer fold^en gröm=
migfeit nod^ baju fatljolifd^er 3lrt bie berliner
fagen? Uebrigenö fannte ber Sruber bamalö nod>
i
260
niä)t ben @d^lu§ ber J^ragöbie unb ndi)m feinen
SCabel jurüd, alö er benfelben gelefen. ®er S)i^tet
erroiberte: „SBeil baö ©tücf ©milia l^cifet, ift e§
barum mein SBorfafe geraefen, (Smilien ju bem ^tx-
üorfted^enbften ober aud^ nur ju einem tjeroorfted^em
ben G^arafter ju mad^en? ®anj unb gar nid^t".
„SDie jungfräufid^en Heroinen unb ^f)ilofopl)innen
finb gar nid^t nad^ meinem (Sefd^mad. 3d^ fenne
an einem unt)er{)eirat^eten 3JJäbd^en feine l^öljeren
S^genben, ate g^römmigfeit unb ©el^orfam".
2)iefc 2:ugenben finb e§, bie ©milia ©alotti
fo fur(^tfam unb fo entfd^loffen , fo miffenöft^raad^
unb fo roittenöftarf mad^en: fo fd^raad^, ba§ fie,
„ber erften ©inbrüdfe nie mäd^tig", ju einem ge^:
ringen 3Biberftanbe bie Äraft nid^t finbet ; fo ftari,
ba^ fie bie Äraft ju bem legten unb äufeerften
SBiberftanbe, bie Äraft ju fterben, nid^t erft fud^t,
fonbern befifet. 35aö Äinb, baö juerfl feinen
anberen SEBitten f)at, ate ben ber 9Jlutter, oer^
mag julefet ben beö fo oiel ftärf eren • SBaters ju
bewegen unb bem irrigen ju unterroerf en : ifirem
SEBiUen, ben feine 9Jlad^t baju bringen fott, in
eine 3Belt jurüdfjuf ef)ren , beren oerlodenbe (Sin^
brüde fie ein 9Kal empfunben, beren innerfte 5ßer^
261
)orbenl^eit fic erlebt unb DöHig erfannt t)at. Unb
)ieö toäre feine ^ragöbie, bie gattje ©eele ju er-
d^üttem?
„SBol^l mir! SB'oiil mir! 5Run bin id^ in
Sid^erl^eit!" — ift ber erfte 9lu§ruf, roomit fie
Tf(^eint unb in bie 9lrme ber 3Jlutter ftürjt. SB o 1)1
nir! SBol^l mir! 5Run bin iä) in ©id^erl^eit:
)aö ift xf)x lefeter ©ebanfe, wie fie bie räterlid^e
janb fü§t, bie i^r benJ^ob gegeben unb bie JRofe
lebrod^en l^at, et)e ber ©türm fie entblättert.
*>'
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(s/i/i^ff^^^
afö -^efotwatot bet beutf(ften
^itctatur
batfle^teUt
von
3»
^tttio ^tf<^<*
gtat^an bet äße^e.
1881. ^
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«.
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Vft
X>:, -^-^ö;
5>/-
2)tu(! von (Skbrtibev ftrönei in Stuügavt.
"^orßemexRitng.
S)ic neue 3luflagc biefer ©d^rift l^at mir ben
tüifffommcnen 3lnla§ ücrfd^afft, mand^erlet Sebenfen
unb ©iniDürfen, bie totber ßeffingö ©ebii^t unb
meine Sluffaffung neuerbingö t)ert)orgetreten finb,
ju begegnen. 3^ t)abe nun bie „©ntftel^ung unb
©runbibee" unfereö SBerfe in einer befonberen
Slbl^anbtung auöfül^rlid^ entraicf elt, bie id^ meiner neu
bearbeiteten ©i^rift afe erften Slbyd^nitt einfüge.
^eibelberg, 9tooember 1880.
Sn^att
Seite
ic f^eoXogifd^cn Äämpfc 3
1. eine «Parabel 11
2. SBitte, Vlbfagung unb Sljiomata 13
3. Slntt=®ocac 18
)ic @raie^unQ bcS SWenfd^cnQefa^Icd&tS 22
1. (Staiel^unQ unb Dffenbatung 22
2 etaiel^unggftufen unb gottfd^titt 27
8. 2)ic toal^tc S)ulbunQ unb i^x (Segentl^cU . . 28
4. 2)ic $^}30tl^cfc bet ©celentoanbetunQ .... 31
Die Sftetmautetgcfptad^e 36
Die !ßatabel t)on ben btci ^Ringen t)Ot Sefjing • • • ^
Die [Rettung beS (SatbanuS 43
Die tlmbilbung bet $atabel butd6 Sefjtng. Slel^nli(^!cit
unb ßonttaft 46
1. 5Die Ätaft beS 9ling3 51
2. S^ie »ebingung ber «rbfiä^ft 52
3. S)ie Unetfennbatfett be§ 9ling§ 53
4. 2)er ©tteit unb bet [Rid^tet 58
5. 2)cr befd^eibene unb bet toeifete 9lid^tet ... 67
SefftngS Sl^etl^alten au ben pofttiten Sleligionen. S^or^
tebc aum üflatljan 71
'•^n
y'
y
I '*. \
VI
Stocitcr SlBfd^nttt.
2^cma unb ©ang bct ^anblung 77
2)ic tcUgiöfc SRotiöitunß bct (S^araltcrc 88
2)ct $Pattiatd§ 93
2)aia 100
2)cr 2:cm^)cll^crr 106
3)et ÄIoftctBtubcr 118
2)ct 2)ettoifd§ 128
©dabin unb ©ittal^ 137
5flat^an unb 9lcd§a 157
±'
©ntjflfung unJ» #runMI)ff.
Jtuno d-ifder, &. (S. l'efjlnfl. II. \
I.
©d^on in unfcrer crftcn Stbfianblung, alö Seffingö
tefotntatorifd^c äCufgabe unb Sraft barjufieHen toar,
l^aben mx gejetgt, roie biefer fritifd^c ©eift ben Unt^
fang unb bic ^ragtoeite feiner g^orfd^ungen nid^t
auf bie ©ebiete ber ^unft einfd^ränfte, fonbern ani)
baö ber Siettgion ju burd^bringen fud^te, immer
baffelbe 3i^t ^^^ 2lugen: bie Siatur unb ben Ur=
fprung ber ©ad^c. @ö galt, bie Urquelle aller
SReligion, inöbefonbere ber d^riftttd^en, bie ©ntftefiung
ber üerfd^iebenen ©laubenöarten an^ bem 3Befen
unb bem ©ntroidftungögange ber 3Kenf d^fieit , ben
innerften Äem unb ba§ ©runbtl^ema be§ retigiöfen
Sebenö barjutl^un unb ju erteud^ten. S)er Äritifer
n)C(fte bcn ©id^ter. 2lud^ biefe ©injid^t foHte bur^
eine S^^at beö bramatifd^en ^oeten üerförpert unb
auf ber 33ül^ne toeltfunbig gemad^t tocrbcn. 6§
cntftanb ein brantatifd^eö ©ebid^t neuer, üermöge
feiner 3luf gäbe von ben SBorfd^rift^n ber SJramaturgie
unobfiängiger 9lrt: „Siatfian ber 3Beife". S)ie
näd^ften SSorauöfefeungen, woraus bie aSottenbung
be§ SBerfeö l^eroorging, waren nid^t äftl^etif(i^e
3^orfd^ungen, fonbern tl^eologifd^e Unterfud^ungen
unb Äämpfe. 3Bte ber fiebenjäl^rige Krieg ben ge-
fd^id^tlid^en öintergrunb ber 3Hinna üon Sarnl^elm
unb ber pflid^tlofe, im ©enufe üerlorene unb ge-
funfene S)eöpotismuö ber g^ürftenl^öfe beö ad^tjel^nten
3af|rl)unbert§ ben ber ©milia ©alotti bilben, fo
ftefit baö 3^it<^Üßi^ '^^^ Stufftärung, baö SBort im
l^öd^ften ©inne genommen, ju 3tatf)an bem 3Beifen.
Dl^ne Mtorien ju fein, l^aben biefe ©id^tungen
burd^ bie aSeltoerl^ältniffe, von benen fie getragen
finb, einen l^iftorifd^en unb eminent jeitgemäfeen
©l^arafter.
2!n bem gortgange einer neuen unb erweiterten
^orfd^ung, bie auf bie ©pod^e ber Sfteformation ge^
folgt mar, l^atte fid^ jmifd^en ben natürlid^en SRetu
gionöbegriffen unb ber pofitioen, fird^tid^en auf bie
biblif(j^cn Dffenbanmööurfunbcn geötünbeten Sftelu
gion ein 3Bibcrjircit enttoidelt, ber von ber eng^
ttfd^cn ^pi^ilofopl^ic unter fiodeö g^üfirung ergriffen
unb ju einer förmlid^en 3^itri^^ii^^9 ausgeprägt
würbe ; bie fronjöfifd^e ^l^ilofopl^ie, SSoItoire an ber
©pi^e, betrieb bie ©o(^e ber^e^tif^en äCufflärung
n)i^ig unb ntad^te pe njeltläufig unb ntobern; bie
beutfd^e, bie von fieibnij unb 2BoIf l^erfam, er=
fa^te fie grünblid^, unb l^ier, in bem SSoterlanbe
ber 9ief ormotion , entftanb eine ernfte unb tief^
gel^enbe Seroegung. 3Son beiben ©eiten fammelten
unb fpannten fid^ bie ©treitfräfte, um bie grofee
grage ber aSernunftreligion roiber ben püfitioen
©lauben auöjutrogen unb ju entfd^eiben. S)ie
©id^erung beö SSernunftglaubenö fiatte ber bibet
funbige unb fd^arffinnige ^. ©. SReimaruö, ^pro^
feffor ber orientalifd^en ©prad^en in Hamburg, ju
feiner perfönlid^en fiebenöaufgobe gemod^t. 3n i\)m
t)ereinigte fid^ bie beutf d^e unb englif d^e 3ßitpl^ilofopl^ie :
SBoIfö SKetopl^pfif unb SCinbate gfleligionöle^re. ©ö
rvax feine unerfd^ütterlid^ fefte Ueberjeugung, bafe
bie ^eitewal^rl^eiten allen SKenfd^en jugänglid^
unb einleud^tenb fein müßten; bafe bie SBeiöl^eit
unb ©ered^tigleit ©otteö fid^ in einem gefe^lid^ voU-
6
fommen georbncten SSJcttall offenbare, tüeld^e§ mi)'
träglid^e ©orrecturen toeber bebtirfe nod^ julajlc,
bälget jebe 2lrt tibernotütUd^er ©ingrtffe unb SBunber
von fid^ auöfd^Uefee. ©ine fofd^e rein beiftif(i^e
®otteö= unb SSJeltanfid^t wiberfprad^ ber oeoffen-
barten, btblifd^en unb fird^Iid^en Sleltgion. Sern
ju begrünben, mufete SReintoruö biefe roiberlegen
unb bie ©taubTOürbigfeit ber bibfifd^en Urfunben in
2lbrebe [teilen. ®r l^atte ju biefem 3wed im Sauf
ber ^af)xe ein umf äff enbeö , in bie Unterfud^ung
be§ gefammten Äanonö eingel^enbeö 3Ber! unter
bem 2:itel: „Slpologie ober ©d^ufefd^rift für bie
vernünftigen SSerel^rer ©otteö" verfaßt, baö er ju
oerfd^iebenen 9Kalen umarbeitete unb erft ein S^l^r
t)or feinem S^obe üoHenbete (1767). Siur bie
raenigften, »ertrauteften g^reunbe fannten baö 3Berf
unb feinen S^l^alt. SReimaruö l^ielt e§ forgfältig
gel^eim, benn er f diente fid^, einen ©treit ju be^^
ginnen, beffen ©röfee unb ^eftigfeit er t)orau§fal^;
er TOoIIte um feiner religiöfen Ueberjeugungen
Witten roeber berül^ntt nod^ verfolgt werben unb fid^
unb anberen bie Seunrufiigungen erfparen, roeld^e
bie Verausgabe eineö fold^en aSerfeö jur unoer^
meibüd^en golge l^aben mufete.
Scffing, ber in SRcimaruö* Untern Sebenöjal^r
mä) Hamburg fam, lernte burd^ beffen ©o^n unb
I^üd^ter, mit vod^ex leiteten (ßlife SReimatnö) er
fid^ innig befreunbet l^atte, bie üerborgene ©d^rift
fennen unb »eröffentlid^te barau§ in ben ^a'f)xen
1774—78 eine SRei^e SBrud^ftüde, afe ob fie an^
ben l^anbfd^riftlid^en ©d^äfeen ber 2Bülfenbtittler
SBibliotl^ef fönten^ bie feiner Seitung anoertraut
xoax. S)ie Deröffentlid^ten 2lbfd^nitte l^iefeen „bie
3Bolfenbüttler g^ragmente", ber unbefannte SBer^
faffer ging unter bem 9ianten „ber SBolfenbüttler
gragmentift". 3)ie Srud^ftüdEe erregten ein äi)n^
lid^eö 2luf feigen unb ©ntfefeen, atö ein ^afirl^unbert
üorl^er ©pinojaö tf|eoIt)gifd^::politifd^er 2^ractat unb
in unferer 3^^ ^^^ Seben ^efu von ©traufe.
9Jlit ber ©runbanfd^auung beö g^ragmentiften
war Seffing feineöroegö einoerftanben unb l^atte bie
int Saläre 1777 üeröffentlid^ten äCbfd^nitte nid^ bloö
jum ©d^ein mit feinen ©inroürfen begleitet. ®r
mottte bie offene, rüdl^altlofe Prüfung ber ©ad^e
l^erbeifül^ren. S)enn er fal^, bafe bie 3rit gefommen
n)ar, um eine 3^rage, bie feitbem bie tl^eologifd^e
unb l^iftorifd^e wgortfe|ung aller SRid^tungen be^
fd^äftigt l^at, auf bie SCageöorbnung ber wiffen^
8
fd^aflüd^en Unterfud^ung }u ||ingen: bie fritifd^e
^ragc naä) bem Urfprungc xmb bcr Gntftcfiungöatt
ber biblifd^cn ©d^riftcn.
©inigc ber im Solare 1777 ücröffcntUd^tcn Srud^-
ftüdfc, nomcntlid^ bie t)on ber ©faubroürbigfeit ber
biblifd^en Offenbarung unb ber Sluferftel^ung S^fu,
entjünbeten ben,©treit, ben ein lutfierifd^er ^rebiger
in Hamburg, SKeld^ior ®oeje, mit befonbers
l^eftigem ©ifer ergriff unb fortfül^rte, weniger jut
2Biberlegung beö grogmentiften , bie Sefjing felbft
geroünfd^t unb l^erausgeforbert l^atte, ate jur aSer-
bommung forool^l beö 33erfafferd als be§ Heraus-
gebern. @r erfldrte bie Fragmente, meil fie ben
©d^riftglauben befämpften, für religio nöt)erber6ti(i^
unb ftaatögefäl^rlid^ ; er warf bem Herausgeber t)or,
bafe er fid^ ber SJI^eilnal^me an biefen ^reoetn
fd^ulbig gemad^t unb bei bem ©inbrud^ in bie Heilig'
tl^ümer beö ©laubens bie SRoQe beö ^ef)Ux^ ge^
fpielt l^abe.
S)afe ber Howtburger H^iiptpaftor ben bibet
gläubigen ©tanbpunft ber lutfierifd^en OrtJ^obope
einnal^m unb unbebingt aufred^terl^alten loollte, wox
fein gutes l^ifiorifd^eö SRed^t, beffen SBal^rung Wxd
unb tl^eologifd^e SRid^tung il)m als 5pfli(^t erfd^einen
liefen. %u^ ift ber ©rnft unb bic Slufrid^tigfeit
feiner ©efinnung faum ju bejtoeifeln. aber ber
(Slaubenöeifer, beffen ^eftigfeit burd^ ben SKongel
ber ©rünbe oHemal »erftörft unb fanatifd^ erregt
wirb, ntod^te il^n fo blinb unb erboöt, bofe er ben
aSerfaffer ber Fragmente von bem Herausgeber ntd^t
ju unterfd^eiben raupte, ben ©tanbpunft n)te baö
2^errain unb ben Äern ber ©treitfräfte Seffingö
gar nid^t erfannte, fonbern inö SBefen l^inein poU
texte unb aSorroürfe auf aSorroürfe, aSerbäd^tigungen
auf 33erbäd^tigungen l^äufte. S)ie aSorwürfe waren
falfd^, bie aSerbäd^tigungen boöfiaft, bie 2lbfid^t ber-
felben nid^töroürbig. S)aö ®nbe fonnte fein anbereö
fein, afe eine für ©oeje t)erlorene ©d^lad^t. @r
l^atte ben Äampf fo gefül^rt, ba§ ber Unwert)^ feiner
^olemif, aud^ ber perfönlid^e, unb bie ©d^roäd^en
feine« ©tanbpunfteö, aud^ bie fad^Iid^en, offen vox
aller SBelt lagen unb ber unoertilgbare ®inbrudf
bat)on mit junel^menber ©tärfe fortgeroirft l^at bis
l^cute. S)iefe 5Rieberlage, bie bamate in ber ^erfon
beö Hamburger 5paftor§ bie ©ad^e unb bie ^olemif
be§ ortl^obüjen Sutl^ertfiums erlitt, mar fieffingö
folgenrei(^e ^l^at, baö aSerbienft jener berül^mten
©treitfd^riften, bie in ber erften Hälfte beö Sal^e«
10
1778 erfd^ienen unb getoöl^nlid^ inögefammt „änti-
®ücje" genannt rocrbcn. S)urd^ bic Sebcutung
unb Raffung bcr ©ttcitfrage, bic Xxaqxoäte ber
Untcrfud^ung , bic Gräfte, bic Sefjtng ins gelb
filierte unb bic nur il^m ju ®cbot ftanbcn, finb biefe
©d^riften cinjig in il^rcr 3Crt unb gepren ju ben
crl^abcnftcn Seiftungen auf bem ©cbict bcr gcfamm-
ten polentifd^en ßiteratur. 6ö ift überl^aupt feiten,
bafe ©treitfd^riften eine fortbauernbc 3Birfung auä-
üben, bafe fic leud^tenic ^J^änomcnc finb unb,
roenn fic cö finb, bleiben. 3)ic meiften finb dtani^
unb Dcrraud^cn fel^r fd^neU in ber bewegten litera=
rifd^cn Sltmofpl^äre; eö finb bic f leinen Scfricbigungen
einer perfönlid^en unb eitlen ©treitluft, bic ol^ne
©egenftanb unb S^alent ®clat mad^en tnöd^tc mit
einem ©croel^r ol^ne ßabung, wie bie Änaben, menn
fiQ 3ü"^f)ütd^en abbrennen. Um burd^ ©treit-
fd^riften epod^emad^cnb ju mirfen, mufe ein mid^^
tigeö Dbject, baö unter bic l^errfd^enbcn aWäd^te
bc8 3^itötter§ jäfilt, in feinen Prägern bcrgcftalt
getroffen, in feiner inneren Unmaljrl^eit bcrgcftalt
crlcud^tct werben, bafe von biefem 2lugenblidE an
fein 2lnfel^en in ben äugen ber SBclt erfd^üttert
baftcl^t unb einen unroiebcrbringlid^cn moralifd^cn
Sßctiuft bat)onträgt. ©d^rtftcn von fold^er SBirfung
jtnb polcmifd^e SCI^aten, toeld^c bie ©od^c, bic
fie bcfämpfen, jugleid^ rid^ten unb über ben 2Bertl^
bcrfclben in bem Urtl^eile ber benfcnben SBelt einen
unroiberruflid^en Umfd^roung I^ert)ürbrin9en. SBirf-
ungen bicfer ärt Iiaben ^oöcotö ^roötnjialbriefe
gegen bie Sefuiten, Seffingö ©treitf^riften n)iber
©oeje unb baö im Sud^ftabenglauben erftarrte
Sutl^ertl)um feiner 3^^^ gel^abt: ba§ jefuitifd^e
©pftem wirb feit ^oöcafe ©riefen mit onberen
Singen gefeiten, afe je t)orf|er; baffelbe gilt t)on
bem ortl^obüEen ßutl^ertfium üor unb naä) bem Sinti::
@oeje.
fieffingö ©treitfd^riften waren burd^ ©oejeö
Singriffe l^erouögeforbert n)orben unb entftanben im
SBege einer notfigebrungenen aSertfieibigung. Slber
feine planmäßige, in üotter g^reifieit biöponirenbe
Äunft l^ätte bie Drbnung berfelben beffer anlegen,
rid^tiger bered^nen, effectüoller auöfül^ren fönnen,
alö l^ier ber erjroungene ®ang ber S)inge eö mit
fld^ brad^te. 333ir fennen bie 3Kannid^faltigfeit
Seffingfd^er ©treitfräfte. aSon jeber Slrt erfd^einen
12
Re auf biefem Äampfplafe. S)aö aSorfpicl mad^t
„Sine ^arobcl". 3n bem ©etüonbc einer tief-
burd^bod^ten, in jebem Swge treffenben unb fpielenb
erjöl^Uen ^obet erfennen wir baö ^Programm, roet
d^eö fieffingö retigiöfe unb tl^eologifd^e ©runban^-
fd^auung entl^ätt: ben Äern ber Streitfragen unb
ben Äern ber Söfung. 3lte er fie fpäter mit feiner
©rflärung befonberö l^erauögeben rooHte, bemerfte
er in bem ©ntrourf ber* aSorrebe: „3)iefe ^Parabel
ift nid^t ba§ ©d^Ied^tefte, roaö id^ gefd^rieben." ,,3(i^
l^abe fie beftimmt, bie ganje ©efd^id^te ber d^rift
Ii(^en 3leUgion barunter barjufteHen."
S)ie Streitfragen betreffen baö aSerl^ältnife
jroifd^en 3leligion unb 33ibel; bie fiöfung befielet in
ber rid^tigen Unterfd^eibung beiber, momit jugleid^
bie fd^riftgetel^rte bibelgläubige SJJ^eoIogie unb bie
fd^riftgelefirte bibelungläubige Äritif an il^ren Drt
gebellt werben: jene ift ate fold^e ehen fo wenig
bie Segrünberin unb 2Bäd^terin ber SReligion, afe
biefe bie ^ex^töxevin berfetben. Um im Silbe
ber ^Parabel ju reben: bie Sieligion ift ber alte
njol^nlid^e unb bewol^nte Äönigöpalaft mit feinen
Dielen ©emäd^ern, ein Sau von ganj unermejslid^em
Umfang, von ganj befonberer ärd^iteltur ; bie bibli^^
13
d^cn Urtunben finb bic ©runbtiffc, bie von ben
»rftcn Saunteiftcrn bcö ^alafteö l^ertüliren ; bie
[d^tiftgelclirten bibetgläubigen ^^fieologen tooUcn
Renner von 2lrd^iteftur fein unb ftreiten mit Äenner^
miene über ben 33au beö $alafte§, immer bie ©runbs
riffe in ber ^anb, bie fie am beften ju t)erftef|en
meinen unb auslegen jeber nad^ feinem Selieben.
3)al^er ftreiten fie o^ne 6nbe. ©obalb aber jene
alten SKffe, waö l^öd^ft feiten gefd^iel^t, einmal unter?
fud^t ober fritifd^ beleud^tet werben, rufen fie : „ber
5ßalaft brennt!" unb fud^en bie ©teile, roo er brennt,
nid^t im ^alaft, fonbern auf bem ^Papier, feineö-
megs einig, xoo fie ju finben. ®enau fo gefd^a^
eö, als einft um ^Kitternad^t roieber einmal 3^euer=
lärm entftanb. „Ueber biefe gefd^äftigen S^nfer
l^ätte er bann aud^ roirflid^ abbrennen fönnen, ber
^Palaft, menn er gebrannt liätte. 3lber bie er^
fd^rodfenen SBäd^ter l^atten ein 9iorblid^t für eine
geueröbrunft gel^alten."
S)te Parabel ift flar, aud^ ilire änroenbung
auf ben gegebenen g^all, obrool^l fie ni^t bloö auf
il^n gemünjt ift. 3)aö. ungefäl^rlid^e 5Rorblid^t finb
14
bic SBoIfenbütttcr g^ragmcntc, einer jener „Äenner
von ärd^iteftur," bie [xä) n)eber auf ben Sau noc^
auf ben ©d^u| beö ^alafteö t)erftel^en, ift ©oejc.
@r möge mit bem aSerfaffer ber g^ragmente ftreiten,
nid^t mit bem Herausgeber, ber nur bie 5ßPid^t bcs
Süd^erfenners erfüllt l^abe, inbem er ein 9Beri
befannt gemad^t, baö burd^ fein 3:^l^ema, wie burd^
feine 2luörüftung mit ben SBaffen ber ©elefirfatn^
feit uttb beö ©d^arffinneö bie l^öd^fte Sead^tung
unb bie grünblid^fte SBiberlegung üerbiene. 6ine
fold^e aBiberlegung fei ©oejeö ©ad^e. ^ft ^ö i^m
um bie ©ad^e ju tl^un, fo muffe er bem SKanne
banfbar fein, ber bem defensor fidei eine fo roid^-
tige 9lufgabe eröffnet. S)ie§ ift von Seffing nid^t
ironifd^ gemeint, fonbeni in üottem ©rnft. ®ie ©d^rift,
bie einem ^aftor l^öd^ft gfaubenägefä^rlid^ erfd^eint,
muffe ein Sibliotfiefar für fo bead^tungömürbig
l^atten bürfen, bafe er fie lierauögibt. „®yi an^
bereö ift ein ^aftor, ein anbereö ein Bibliot^efar.
©ie oerfiatten fid^ gegen einanber, wie ber ©d^äfer
unb ber ^räuterfenner." ©o oerfd^ieben i^re 3"-
tereffen finb, fönnen fid^ beibe fel^r tooI^I t)ertragen,
unb ber 5ßaftor l^at, mofilerraogen, nid^t ben mini=
betten ®runb, ben S3ibliotl^e!ar ju befämpfen. S)er
15
erfte ©d^ritt, tDomit Scffing bcn Singriffen ©ocjcö
begegnet, ift „3)ie Sitte", bie ber 5ßarabel folgt
unb bem ©egner ben frieblid^ften Sluöroeg öffnet,
©r möge einfel^en, ba§ er fid^ in ber Slnnal^me
geirrt, Seffing mad^e mit bem Ungenannten roiber
bte Sibel gemeinfame ©ad^e unb erad^te bie (Sin-
würfe beö lefeteren für unroiberleglid^ ; er möge
biefen ^rrtl^um eingeftel^en unb bamit ben ©treit
enben, bevor er anfängt. „Dl^ne eine fold^e ©r^
Härung, e^rroürbiger 9Rann, mu§ id^ ©ie fd^reiben
laffen, fo mie id^ ©ie prebigen laffe."
3)a nun ©oeje fortfährt, ben Herausgeber ber
Fragmente auf gleid^em %n^ mit bem SBerfaffer ju
nei^men unb ben lefeteren nid^t n)iberlegenb , fom
bern uerfleinemb unb uerläfternb ju bel^anbeln, fo
erfolgt „3)aö Slbfagungöfd^reiben". „3Wann
gegen aWann, nid^t ©ad^e gegen ©ad^e ju fd^äfeen,
fo war biefer Ungenannte beö ©eroid^tö, ba^ in
aller 2lrt oon ©elel^rfamfeit fieben ©oeje nid^t ein
©iebent^eü oon il^m aufjutoägen oermögenb finb."
„©onad^ meine ritterlid^e SKbfage nur furj : ©d^rei^
ben ©ie, Herr 5paftor, unb laffen ©ie fd^reiben,
fo oiel baö S^mq l^alten miH: id^ fd^reibe aud^.
aaSenn id^ Sinnen in bem geringften S)inge, maö
1«
mid^ ober meinen Ungenannten angelet, SRed^t lajfe,
mo ©ie nid^t Siedet l^aben: bann fann id^ bie e?ebct
nid^t mel^r rül^ren."
Sefet eröffnet Seffing ben Äampf mit einem
polemifd^en ^Programm, baö nid^t mel^r bie poetif(i|e
©prad^e ber gabel, fonbern bie fritifd^e ber 2:l^efen
unb Seroeife rebet unb in einer SReil^c t)on ©ä|en,
bie er ,,2lEiomata" nennt, baö SBerl^ältni^ jroif^en
SRetigion unb »ibet feftftettt. ©elbft ben gatt ge^
fefet, ba§ bie ®inn)ürfe beö Ungenannten miber bie
Sibel unb ben Sibelglauben unroiberleglid^ wären,
fei baburd^ bie ^Religion nid^t gefäi^rbet. ^ier liegt
ber ©d^töerpunft ber Streitfrage. Offenbar entl^dlt
bie Sibel me^r als jur ^Religion gel^ört unb ift in
bem, roaö fie mel^r entl^ält, nid^t t)on eben fo gut
tiger, unwiberfpred^lid^er SBal^rl^eit ; bal^er finb beibe
feineöwegö ibentifd^: „®er Sud^ftabe ift nid^t ber
©eift, unb bie öibel ift nid^t bie Sleligion." „^otg^
lid^ finb ©inroürfe gegen ben Sud^ftaben ünb gegen
bie 33ibel nid^t eben aud^ ©inwürfe gegen ben ®eifi
unb gegen bie SRetigion." 2)ie SReligion mar cor
ber öibel, baö ©l^riftentl^um t)or bem 3Zeuen Xejias
ment, geraume 3^tt t)or ber 2lufjeid^nung ber
frül^ften neuteftamentlid^en ©d^rift, lange el^e ber
ganje Äanon ju ©tanbe tarn, ®ö f)at miti)xn eine
3eit gegeben, worin baö EWftent^um war unb
verbreitet würbe ol^ne Sibel, eö mu^ bal)er mög=
H(]^ fein, bofe es ju jeber ^eit of)ne biefelbe 6e=
fielet; fonft töäre ba§ erfte E^riftent^um feines unb
bas fird^Ud^e, baö fid^ auf bie apoftoUfd^e 2:rabition
unb bie ©laubensregeln grünbet, aud^ feines. S)ie
Sibel ift weber ber erfte nod^ ber alleinige ©runb bes
©laubens, benn fie ift aud^ ber @runb bes Un-
glaubens unb ber ^i^rle^re: nid^t blos bie red^t^
gläubigen ^ßroteftanten berufen fid^ auf bie ©d^rift,
fonbern aud^ bie ©ocinianer. „2)ie ^Reformation
fam weniger baburd^ ju ©tanbe, ba^ man bie
SBibel beffer ju braud^en anfing, als baburd^, ba§
man bie 2^rabition ju braud^en aufl^örte." „©o
toenigftens benfeid^, unbefümmert, wie fel^r fid^
ber ^err ^ßaftor barüber wunbert. 3^ wunbere
mid^ nid^t einmal, ba^ er fid^ wunbert. 3)er Fimmel
erhalte uns nur nod^ lange in bem nämlid^en SJer-
^ältniffe: ba§ er fid^ wunbert, unb id^ mid^ nid^t."
S)ie Sibel ift nid^t ©runb unb DueHe beS @lau=
bens, melmel^r verhält fid^ bie ©ad^e umgefel^rt.
Siid^tS ift einfad^er unb einleud^tenber, als ba§ bie
Olaubensurfunbe ben ©lauben oorausfefet, von iS)m
ttnno fjrl^äftv, 0. d. fiejflnfl. II. *^
18
allein abftammt unb alle SBal^rl^eit, bie fie befi|t,
nur aus il^m gefd^öpft l^at : aus ber inneren SBa^t?
I^eit ber SReligion felbft. „2lus il^ret inneren aBa^r-
l^eit muffen bie fd^riftfid^en Ueberlieferungen erllärt
werben, unb alle fd^riftlid^en Ueberlieferungen föm
mn iS)x feine innere SBal^rl^eit geben, wenn fic
feine l^at."
®ö mufe bal^er erlaubt, ja in bem l^öd^ften unb
„objectioen" S^tereffe ber ^Religion felbft geboten
fein, bie SReligionöurfunben ju prüfen, il^re ©laub-
roürbigfeit ju unterfud^en, alfo aud^ ju bejn)eifetn,
©inroürfe bagegen ju rid^ten, flare, offene, unum^
rounbene ©inroürfe, ol^ne ben ©edhnantel ber latei^
nifd^en ©prad^e unb o^ne aUer^anb Dorfid^tige
©laufein. SBenn eö fid^ um bie religiöfe SBal^rl^eit
i^anbelt, gilt feine SRüdffid^t auf fd^road^e ©emütl^er,
biefe ©laubenöfpreu, bie mit bem SBinbe treibt, feine
auf bie ©mpfinblid^feit ber ^paftoren. ®ad Siedet,
baö fid^ Sutl^er na^m, unb bie ^pflid^t, bie er er«
füHte, alö er bie Sibel ins S)eutfd^e übertrug, ent«
l^alten im ©inne beö ^Proteftantiömuö baö 3led^t unb
bie ^pflid^t ber Sibelforfd^ung unb Sibelfritif, baö
uncingcfd^ränftc, barum öffentlich ju brau(^cnbe
9le^t. 3)icfe proteftantifd^e ©laubcnöfretl^cit in
il^tem genauen 3wfö"^wiß«^ö^9 ^it bcm proteftan=
tifd^en ©laubenöintereffe b. f). bem ^ntercffe für
bie religiöfc SEBal^rl^cit felbft war jefet ju Dcrt^eibigen
unb aufredet ju l^alten, ba ©oeje in ben „g^rei?
iDiHiflen Seiträgeu" nid^t ablief, bie Fragmente unb
beren Verausgabe als aSerbred^en ju be^anbeln,
insbefonbere bem Herausgeber „mittelbare unb nn-
mittelbare feinbfelige Singriffe auf unfere allere
l^eiligfte 3teligion" tjorjuioerfen. ©esl^alb fd^rieb
Seffing feine „SRot^gebrungenen Seiträge", bie er
mit bem SRamen „2lntis®oeje" bejeid^nete.
35ie biblifd^e g^rage ift bebingt burd^ bie reli::
giöfe. 3)as SRed^t, Einwürfe wiber bie biblifd^en
DffenbarungSurfunben ju mad^en ift nod^ nid^t bie
SHd^tigfeit ber gemad^ten ©inwürfe. Ueber bie
religiöfe ©laubroürbigfeit ber ©d^rift fann nur aus
ber inneren SBal^r^eit ber 9teligion unb bes 6f|ri=
ftentl^ums enbgültig geurt^eilt werben. SBorin be:=
fielet biefe innere SBal^r^eit? SBie unterfd^eibet fid^
bie malere ^Religion von ber - falfd^en, ber ec^te
©laube t)om uned^ten? 83is ju biefem entfd^eiben^
ben fünfte waren bie Streitfragen gefommen, als
20
bie Fortführung burd^ bic ®ajn)ifd^cnfunft bet
öffcntlid^cn 2lutoritäten gcl^emmt tüurbe. ©ocje
\)atte ni6)t umfonft mit bem 9teid^sl^ofratl^ gebrol^t;
baö ßonfiftorium in Sraunfd^rocig roünfd^te bie
Baöft unterbrüdt ju feigen, baö SWinifterium bcö
Sanbeö entjog Seffing bie Genfurfreil^cit, fonpöcirte
bic fjragmcnte unb verbot bic ^ortfefeung bet
©treitfd^riften (Suni 1778). 3)od^ liefe fid^ Seffing
nid^t einfd^üd^tern, er fd^rieb nad^ bem aSerbot mi}
feine „SRötl^ige Antwort auf eine felir unnöt^ige g^rage
beö Serrn ^auptpaftorö ©oeje in Hamburg" unb
behielt l^ier baö lefete SBort, benn ber Oegner oer-
ftummte, afe „2)er nötl)igen 2lntn)ort erfte ^Jolge"
erfd^ienen roar.
9Jlitten in biefen Sebrängniffen unb unter bem
2)ru(J ber fd^roerften l^äuölid^en ©orgen ermad^t in
il^m, wie eine ©ingebung, ber ©ebanfe an ein
SBerf , bas er fd^on t)or mclen ^af)xen begonnen.
3n ber SRad^t t)om 10. jum 11. 2luguft 1778 fafet
er ben ®ntfd^Iufe, jefet biefe 2)id^tung ju ooHenben.
2Sn ber erften Hälfte beö $Rooember mirb ber ©nt^
n)urf in ^ßrofa ffijjirt, bann beginnt fogleid^ bie
metrifd^e 2luöfül^rung in fünffüßigen Jamben, im
aWärj 1779 ifi „$Rat^an ber 2Beifc" in feiner
21
gcgcnTOärtigcn gortn ooHcnbct. 3)er 33ibliotl^cfar,
ber Herausgeber ber g^ragmente, ber fritifd^e S)enfer
l^at fid^ nod^ einmal in ben bramatifd^en S)id^ter
Denoanbelt. „3d^ mu§ uerfud^en/' fd^reibt er ben
6. ©eptember 1778 an ©tife SReimaruö, „ob man
mtd^ auf meiner alten Äanjel, auf bem 2^f|eater
menigftenö, nod^ ungeftört will prebigen taffen."
3n einem fpäteren Srief an Sacobi nennt er ben
3^atl^an „einen Sof)n feines eintretenben SKÖerö, ben
bie ^polemif entbinben Reifen." 2)er Sluöbrudf ift
treffenb. 2)enn erjeugt l^at biefen Bof)n bie 5poIe-
mif ni(^t, unb alle, bie auö bem gel^arnifd^ten
9lnti=@oeje fd^on ein ftreitluftigeö unb fat^rifd^eö
®rama l^eroor gelten fallen, fanben fid^ in il)ren
Sefürd^tungen ober Hoffnungen glüdflid^erroeife ge^
töufd^t. „3d^ will meinem SBerf ben SBeg nid^t
felbft uer^auen, enbtid^ bod^ einmal aufg 2^l^eater
ju fommen, unb wenn eö aud^ erft nad^ l^unbert
Salären wäre." ©eine 2)id^tung l^at ben Eingang
in baö 2^l^eater frül^er gefunben, unb bie beutfd^e
öül^ne, eingeben! ber SBirfungen, bie fie „3latl^an
bem aSeifen" oerbanft, l^ätte baö Subitöum biefeä
SBerfö bereits feiern fönnen unb foHen. SBor bem
ßingang unb nad^ bem Sluögange ber ©treitfd^riften
22
nnber ©ocjc, bie baß ©aitpttreffcn ber t^eologif^ett
Äätttpfe fieffingö bilben, fielet eine ©ici^tung: bort
„&m ^Parabel", ^ier baß gtofee bramatifd^e ©cbi^t,
beffen ftem anä) eine ^rabel ift.
11.
« *
Um in bie 2:iefe unferer 2)id^tun9 einjubringcn,
muffen töir Seffingö religiöfen ©tanbpunft genau
fennen. 6r l^ält eö feineßroeg« mit jener beifHfci^
gefinnten Slufflärung, für weld^e bie malere ober
vernunftgemäße unb bie geoffenbarte, pofitioe Sieligion
unoerföl^nlid^e ©egenfäfee Mtben. 3)ie aiufflärung
unb baö ortl^oboje ©pftem berül^ren fid^ in einem
?Pnnfte, um fid^ oon l^ier auf ba§ aieu&erfte abju«
ftoßen. Seibe bel^aupten, baß aSernunft unb Offen-
barung einanber oöHig miberftreiten unb am ber
33ejal^ung ber einen bie aSemeinung ber anbern
unmittelbar folge. SBeil bie 33ibel alö ba§ geoffem
barte SBort ©otteö ben allein 'maleren ©runb beö
©laubenö auömad^e, barum fei alle aSernunftreligion
23
butd^auS falfd^ unb octbammungötöürbig: fo ur-
tl^eilte ©ocje. SBeil bic SBcrmmftrcligion mit il^rcr
natürttd^en ©otteöcrfenntni^ ben ßl^arafter einfädlet,
jebem 35enfenben cinlcud^tcnben SEBa^r^eit l^abe,
barum fei bie biblifd^c SRctigiou, bte fid^ auf be-
fonberc Offenbarungen ©otteö, auf SBunber unb
SBeiffagungen grünbe, voller Srrtl^um unb 2^äuf d^ung :
fo urtl^etlte Sieintaruö.
Seffing verneint biefen @egenfa|, worin bie
aSertreter ber Drtl^obojie unb 9lufHärung befangen
ftnb, unb nimmt gegen beibe ben überlegenen ©tanb^
punft. SBernunft unb Offenbarung erfd^einen nid^t
mel^r in einem unauflöölid^en SBiberfireit, fobalb
man nur bie enge unb naturwibrige aSorftettung
aufgibt, roonad^ beibe einmal für immer auö*
gemad^te unb fertige S)inge finb: jene afe natür-
lid^e ©rfenntni^, biefe als übernatürlid^eä factum.
Um i^r magres unb naturgemäßes SSerl^ältniß ju
entbedfen, muß man feine Slnfd^auung fo weit er-
l^eben fönnen, baß man auf ber einen ©eite mel^r
als einige Selirfäfee, auf ber anbern mel^r als einige
Xf)at^aä)en erblidft, baß man fie im ©roßen ju
betrad^ten unb i^re^SBege ju oergleid^en im ©tanbe
ift, nid^t bloö geroiffe ©tanbpunite berfelben, bie
24
man für 6nbjiclc l^ält, roäl^renb fie nur ©tationcn
inncrl^alb il^rer SBcgc finb. 2)a§ ift „ber ^ügel",
auf ben fid^ Sefftng gcftettt f)aben n)ill, „um cttoas
\mf)x als bcn oorgefd^riebencn SBeg feines l^eutigeu
Xaqed ju überfeinen." „SBarum wotten wir in
allen pofittoen SReUgionen nid^t Heber weiter nid^tä
ate ben Sang erbliden, in roeld^em fid^ ber menfd^
lid^e aSerftanb jebeö Drtö einjig unb allein ent^
toidfetn fönnen unb nod^ ferner entroidEeln foll, alö
über eine berfelben entroeber täd^eln ober jürnen?
3)iefen unfern fiol^n, biefen unfern Unwillen t)er$
biente in ber beften SBett nid^tö, unb nur bie
^Religionen f Otiten il)n oerbienen? ®ott l^ätte feine
Öanb bei attem im ©piele, nur bei unfern ^n^
t^ümern nid^t?"
35ie aSernunft bebarf ber Offenbarung, benn
bie SBal^r^eiten werben nid^t mit bem natürlid^en
SRenfd^en geboren, bie wiffeufd^aftlid^en fo wenig
als bie religiöfen, bie ®rfenntni6 ber S)inge fo
wenig alö bie feineö perfönlid)en ^eilö; fie ent=
fielen unb entwidfeln pd^ allmäJ^Iid^ im Fortgänge
beö 2llterö, ber g^affungöfraft unb ber Silbung,
S)iefen natürtid^en ®ntwidlungögang rid^tig leiten,
planmäßig beförbern unb eben baburd^ ol^ne jebe
25
®reffur bcfd^Icunigcn, l^eijst bic SKcnfc^cn erjic^en.
®er weife ©rjiel^er tel^rt feinem Zögling fold^e
aOBal^ri^eiten, bie ber ©tufe feiner ©rfa^rung unb
feines 35erftanbeö entfpred^en, er überliefert i^m
l^öi^ere in bilblid^en oorbereitenben formen, er mufe
i^m mand^eö oerfünben, roaö fid^ bem Bögling erft
fpäter auö eigenfter ©rfal^rung unb ®infid^t beftäs
tigen wirb. 3ebe ®rjie^ung ift ©d^ritt für ©d^ritt
burd^ Dorauöfd^auenbe 2l6fid^ten beftimmt, bie ber
3ögling erfüllen foll, bie" i^m erft fünftig einleu(^ten
werben, barum gegenwärtig nod^ nid^t einleud^ten
fönnen. 6r fd^reitet oorwärtö, von ^ö^erer ^anb
fidler unb rid^tig geleitet: barum ift jebe ©rjiel^ung
eine fortfd^reitenbe Offenbarung.
®iefer ©afe gilt wie im ©injelnen fo im ©anjen.
2lud& bie 3Wenfd^l)eit ift in einer notl^wenbigen ®nt::
widftung begriffen, beren ©tufen bie B^W^tter unb
aSöHer finb unb beren gteid^jeitiger SBettjuftanb
fld^ in unenblid^ melen öilbungöabftufungen bar^
fteHt. 2lud^ biefe ®ntwidlung im ©rofeen l^at il^ren
inneren S^ed unb ^ptan, ben fie erfüllt, unb ben
nid^t menfd^tid^e 9Beiöl)eit unb Äunft, fonbem ewige
göttlid^e ©efefee beftimmen. 2)ie entf(^eibenben
©auptftufen in bem großen ©rjiel^ungögange beö
26
SWenfd^cngcfc^Icd^t« ftnb bie SReligimten, beten feine
fünftüc^ gemad^t wirb, beren jebe, toenn il^te
3eit gefommen, mit einer gefd^id^tUd^en unb er-
f)abemn SRotl^wenbigfeit erfd^eint, bie il^r ben ßj^a^
tafter göttlid^er Offenbarung giebt. 35ie gefd^icj^t-
Hd^en ^Religionen ftnb geoffenbart burd^ bie 9lotl^-
roenbigfeit, mit ber fie entftel^en, mie burd^ btc
Slrt il^rer SBerfünbigung unb aSerbreitung, benn fie
gelten burd^ SBererbung t)on ©efd^led^t ju ©efd^tcd^t.
„aßaö bie ©rjiel^imfl bei bem einzelnen aJlenfd^en
ift, ift bie Offenbarung bei bem ganjen SRenfd^en-
gefd^Ied^t." „ßrjiel^ung ift Offenbarung, bie bem
einjelnen 3Wenfd^en gefd^iel^t, unb Offenbarung ifl
©rjiel^ung, bie bem 3Wenfd^engefd^ted^te gefd^el^en ifl
unb nod^ gefd^iel^t." SKlt biefen ©ä^en beginnt
Seffing feine ©d^rift: ,,2)ie ©rjiel^ung beö aWen-
fd^engefd^led^tö". 6s ift bie entroitflungögefd^id^t^
lid^e SBeltanf d^auung , angemenbet auf bie SReli^
gionen ber SBelt, inöbefonbere auf bie jübifd^e unb
d^riftlid^e, bie aus jener ^eroorgel^t. ®r l^atte bie
erfte fiälfte biefer tieffinnigen ©d^rift im 3ia^re 1777
jugleid^ mit ben fjragmenten oeröffentlid^t unb gegen
eineö berfetben gerid^tet, baö bie Unmöglid^feit ber
geoffenbarten SReligion im Sitten ^^eftament be^
27
roeifcn loollte; baö ganje SBerf crfd^icn in feinem
legten Sebenöjal^r (1780). ^n bie 3ttJif^^i^J^tt
fäHt bie äuöfül^rung beß bramatifd^en ©ebid^tö:
„3lati)an ber SBeife".
©inb bie Sietigionen notJ^tuenbige @rjiel^ungö=
unb 6ntn)idflung«ftufen ber aWenfc^l^eit, fo ift jebe
in il^rer SKrt bered^tigt unb jeber gegenüber eine
gel^äffige Unbutbfamfeit im Unred^te. 9lber auö
eben bemfelben ©runbe finb nid^t alle von gteid^er
^öl^e ber ßinfid^t unb Säuterung; eö mufe in einer
©ntroidftung niebere unb l^öl^ere ©tufen geben, aud^
eine l^öd^fte alö reiffte grud^t unb ©nbjiet. SKit
einer ©ewi^l^eit, bie jeben B^^f^l auöfd^liefet, ftellt
unb beantwortet Seffing am ©d^Iufe feiner ©d^rift
biefe ?Jrage: „Dber foH baö menfd^Iid^e ©efd^led^t
auf biefe l^öc^fte ©tufe ber 2lufKärung unb ateinig-
feit nie fommen? SRie? 9?ie? Sa§ mid^ biefe
Säfterung nid^t benfen, 2lIIgütiger! 2)ie ©rjie^ung
l^at il^r 3irf ^ 6ei bem ®ef d^led^te nid^t weniger als
bei bem ©injetnen. 2Baö erjogen wirb, wirb ju
&VDa^ erjogen." „9Baö ber Äunft bei bem ©im
idmn gelingt, fottte ber $Ratur nid^t mit bem
28
©anjcn gelingen? Säfterung! Säfterung! Slein:
fie wirb fommen, fic wirb gewife fommen, bic 3^
bcr aSoHenbung, fic n)irb gemife fommen, bie 3^
eines neuen eroigen ©Dangeliumö, bie unö felbft in
ben ©lementarbüd^em beö neuen 33unbeö oerfpro^en
wirb." „®tf) beinen unmerflid^en ©d^ritt, etmge
aSorfel^ung! 3l\ix ta§ mid^ biefer Unmerflid^feit
wegen an bir nid^t t)erjn)eifeln. Sa§ mid^ an bir nui^t
oerjroeifeln, wenn felbft beine ©d^ritte mir fd^einen
fofften jurüdf jugel^en ! 6ö ift.nid^t roal^r, ba^ bie
fürjefte Sinie immer bie gerabe ift. ®u i^aft auf
beinem eroigen 9Bege fo met mitjunel^men, fo ml
©eitenfd^ritte ju tl^un!"
2luf baö SBerftänbni^ ber retigiöfen ©ntroidflung
ber SJlenfd^l^eit unb il^rer ®rjiel^ungöftufen grünbet
fi(^ jene Slnerfennung beö ©laubenö unb feiner
aSerfd^iebeu^eiten, in ber allein bie roal^re 35ulbung,
bie ^^ugenb ber 2^oteranj befielet: fie rul^t mit
©id^erl^eit nur auf einer fold^en ©runblage religiöfer
3Kenfd^enfenntni§. 9Bo bie lefetere fel^It, jeigen fid^
alle bie Untugenben, bie ber 3RangeI jener ©infid^t,
ber Unoerftanb in ber Seurt^eilung beö religiöfen
29
:benö l^crüorbringt. e?affcn voix bte DueHe unb
n ©l^araftcr biefer Untugcnbcn ctoaö nä^cr inö
uge. ®ntn)cber fel^It ber ©inn für bic SReltgion
ierliaupt unb bie Statut i^rer Sebtirfniffc, ober es
l^lt bie ®infid^t in bie SRotl^roenbigfeit il^rer ®nU
idlung unb bie baburd^ bebingte SBerfd^ieben^eit
»r atetigionen, ober enbtid^ eö fel^lt bie rid^tige
nfd^auung oon ber 2trt unb ben ®rforbemiffen i^reä
ortfd^rittö. ©o i)at ber ^Religion gegenüber ber
noerftanb brei glätte: er roei^ nid^t, waö fie ifl
nb im3Wenfd^en enttoidett, er n)ei§ nid^t, ba§ fte
d^ entroidfelt, unb nid^t, wie fie fid^ entroitfelt.
m erften g^all erfd^eint alle 9tetigion afe Srrtl^um
nb S^äufd^ung, alö ber 2lberglaube ber Unbilbung,
m man oerad^ten bürfe, ol^ne fid^ im minbeften
arum ju fümmern: in biefem Sibungöbünfel
^fte^t bie falfd^e 2:oteranj, bie 3)ulbung au«
Jleid^gültigleit, roeld^e bie SBett täglid^ empflel^It
nb bie fieute im 3Bol)Igefül^l il^rer 2lufMärung fid^
nb anberen als ^^ugenb anred^nen. ©ie gel^ört
)enigftenö unter bie 2^ugenben nid^t, t)or weld^e
ie ©Otter ben ©d^n)eij3 gefefet l^aben, benn fie ift
ad Seid^tefte unb Sequemfte ber SBelt : gebanf enlof e
{Jleid^güttigfeit gegen ben ®ianben ber aWenfd^en
i
30
an^ Unfcnntnijs unb (Scmüt^öplatti^cit. 3m jroeitcn
%aü, df)nt ©infid^t in bcn rcligiöfen ©t^id^ungögang
bcr 3Rcnfd^l^eit unb bic SWannld^faltigfeit feinet ab-
ftufungen, l^ält man ben eigenen ©lauben bergejlQtt
für ben aßeinbered^tigten, bajs i^m gegenüber attc
anberen Sieligionen alö i^eillofe Uebel erfd^einen,
bie ju t)erabf dienen unb ju oemid^en feien: in
biefem ©laubenöbünfel befielt bie falfd^e 3m
toleranj, ber ganatiämuö ber Unbulbfamfeit. 3n
bem britten gatt enblid^ wirb jwar bie SReligion
bejal^t, il^re ©ntwidflung betrieben unb il^r g^ort^
fd^ritt leibenfd^aftlid^ erftrebt, aber bie aHmäl^Ud^e
unmerfüd^e 3latur beö (enteren nid^t gewürbigt:
jener erjiel^enbe ®ang, „auf bem fo t)iel mitjunel^men
ift, fo t)iel ©eitenfd^ritte ju tl^un finb!" So
wirb ber gortfd^ritt gewaltfam befd^leunigt, einer
nod^ unreifen ©egenroart aufgebrungen unb barum
oerfel^It: in biefem Sefferungöbünfel befielet
bie ©d^roärmerei, ber 3^rtl^ww beö Dorjeitigen
^Reformators. „S)er ©d^roärmer tl^ut oft fel^r rid^tige
SUdfe in bie S^hinft, aber er fann biefe 3wfw"ft
nur nid^t erioarten." „SBoju fid^ bie 5Ratur 3^^^'
taufenbe 3^it nimmt, foß in bem 3lugenblidf feines
S)afeinä reifen."
31
4* §it §^^^t^tft htx §ttUtmmtbtxvirt$*
SReimanis l^attc eö ate ein Äennjeid^cn bcr
3al^rcn ^Religion gcforbcrt, bafe fic allen 3Kenfd^en
inleud^tenb unb jugänglid^ fein tnüffc; er fiatte
d^on besl^alb bie biblifd^en Stellgionen für unglaub^
oürbig erKärt, roeil fie burd^ bie 2lrt ifirer Dffem
)arung unb SBeurfunbung ben ©i^arafter unberfeHer
Seltung auöfd^Iiefeen. S)erfetbe ßinrourf trifft aud^
äeffingö Se^re von ber ©rjiel^ung be§ SWenfd^ens
jefd^Ied^ts , t)on ber ©ntiüicftung ber realeren 3le=
ligion, rodä)e bie l^öd^fte ©tufe il^rer aSoIIfonmien=
jeit, bie S^i eineö neuen eroigen ®Dangeliuni§ erft
loH erreid^en lönnen, nad^bem bie ©lententarbüd^er
)eö Sitten unb 5Reuen SCeftamentö aufgelebt finb.
Dann aber roirb bie t)oße SBa^rfieit baö Sooö
nneö auöerroäl^lten ©efd^Ied^tä, baö bie SBelt6üf)ne
betritt, nad^bem bie früheren ©enerationen auf nie-
)eren ©tufen jurtidfgeblieben unb verloren gegangen
'inb, o^ne je baö roal^re Seil fennen gelernt ju
jaBen. Offenbar ift eö biefer ßinrourf, beni Seffing
mit einer ©^potl^efc ju begegnen fud^t, bie ben
ffiiberftreit jroifd^en bem (gntroidflungögange ber
Religion unb bem ber S^bimbuen löfen unb beibe
32
in ©inKang f cfecn f ott : mv mtinm feine ^ppot^efe
ber^palingenefieoberSeelenwanberung. 9li(]^t§
foH verloren ge^en! „©onberbar, bafe bief e ©d^Töät-
merei allein unter ben ©d^roärmern nid^t mel^t
3Wobe werben roiß !" „oben bie Sal^n, auf rotl(i)tt
baö (Sefd^Ied^t ju feiner aSoHfommenl^eit gelangt,
mufe jeber einzelne aJlenfd^ (ber früher, ber fpäter)
erft burd^laufen l^aben." „^n einem unb eben
bemfelben Zehen burd^Iaufen l^aben? Rann er in
eben bemfelben Seben ein finnlid^er ^be unb ein
geiftiger ©l^rift geroefen fein? Rann er in eben
bemfelben Seben beibe überf)olt f)aim^. 3)aö wol^l
nnn nic^t! 2lber warum fönnte jeber einzelne
9Kenfd^ aud^ nid^t mel^r ato einmal auf biefer 2Belt
Dorl^anben gewefen fein? 3ft biefe ißppotl^efe baruttt
f läd^erlid^, weil fie bie ältefte ift ?" „SBarum fönnte
aud^ id^ nid^t ^ier bereitö einmal aße bie ©d^ritte
ju meiner 3Sert)ott!ommnung getl^an f)abm, weld^e
bloö jeitlid^e ©trafen unb SBelol^nungen ben
SRenfd^en bringen !önnen? Unb warum nid^t ein
anbermal aße bie^ weld^e ju tl^un nm bie ^n^
fid^ten in ewige Selol^nungen fo mäd^tig l^elfen?
SSJarum foflte id^ nid^t fo oft wieberf ommen , afe
id^ neue Äenntniffe, mue g^ertigfeiten ju erlangen
33
cfd^idft bin? Sringe id^ auf einmal fo Diel weg,
a% e§ her SlWül^e wieberjufommen etioa nid^t
ol^net? ©aruni nid^t? Ober weil id^ ed uergeffe,
)a% iä) fd^on ba geioefen? SBol^l mir, bafe id^ baö
)ergcffen., 3)ie ©rinnerung meiner vorigen 3wftänbe
Dütbe mir einen fd^led^ten ©ebraud^ beö gegen=
Dortigen ju mad^en erlauben." „Ober weil fo ju
riel 3^t für mid^ Derloren gelten mürbe? 5Berloren?
Inb ma§ l^abe id^ benn ju Derfäumen? 3ft nid^t
)ie ganje ©migfeit mein?"
Saffen mir biefe ^ppotl^efe, bie Seffing bloö afe
lold^e in einer überrafd^enben unb tieffinnigen ^Jaffung
jtnfül^rt unb bie an unferer ©teße mie eine 2lrt
Öilföconftruction erfd^eint, um ben SBiberftreit
jmifd^en ber ©rjiel^ung beß 9Kenfd^engefd^led^tä unb
Dem perfönlid^en ^eile ber ©injelnen aufjulöfen.
SBenn er biefelbe 2lnnal^me an einem anbem Drt
fein „©^ftem" nennt, fo mirb fie baburd^ nod^ nid^t
JU einem fieffingjd^en 3)ogma. ^n feinem SRad^lajs
finbet fid^ unter ber Ueberfd^rift (dou ber §anb be§
Herausgebers): „S)aJ5 mel^r als fünf ©inne für
ben SWenfd^en fein !önnen", eine fteine ©Kjje,
morin bie 3bee ber ©eelenmanberung mit ber
Seibnijifd^en SBeltanfid^t Don ber Stufenleiter ber
i
34
einfad^en SBefcn unb i^rcr fortfd^rcitenben finnigen
Drganifation in 3wföi^i^^"^ö"8 gcbrad^t wirb.
3lu§ benfelben ©rünben, fraft bcrcn Scibnis jene
aSorftettung üeriüarf, fud^t ficffing fic ju bejahen.
3lber jebe nähere 3lrt ber 33egrünbung fe^lt ijt unferem
SBrud^ftüd ; eö ift nid^t ju feigen, roic er bie Seelen-
roanberung aus ber fortfd^reitenben Sluöbilbung
unb 3unal^me ber ©inne red^tfertigen wollte. „®iefe§
mein ©pftem ift geroife baä ältefte aller pf)iIof opl^ifd^en
©pftente, benn e§ ift eigentlid^ nid^tö alö baö ©pftem
t)on ber ©eelenpräejiftenj unb 9Wetempfr)d^of e, weld^eö
nid^t attein fd^on 5Pptf)agora§ unb ^lato, fonbern
t)or il^nen Slegpptier unb G^albäer unb ^erfer,
furj aße SBeifen beö Drientö gebadet i^aben. Unb
fd^on biefeö mujs ein guteö SSorurtl^eil bafür roirfen.
®ie erfte unb ältefte 9Weinung ift in fpeculatit)en
fingen immer bie roa^rfd^eintid^fte, weil ber ge-
funbe 3Wenfd^enr)erftanb fof ort barauf oerfiel. 6§
mirb nur biefeö ältefte unb, wie id^ glaube, einjig
mal^rfd^einlid^e ©pftem burd^ jmei 3)inge oerftellt.
einmal — ." ^ier brid^t bie ©fijje ah, SQBeber
bie ©rünbe nod^ bie ©egengrünbe finb entroidfelt,
nod^ weniger bie lefeteren miberlegt. ©ott bie g^ort-
bauer in ber g^ortentroidflung unb biefe in fort-
35
fd^reitcnbcr Drganifation bcftel^cn, fo mH fid^ batnit
bic ©cclcnroanbcrung nid^t vertragen, benn biefc
ift diMltf)v in'ö irbifd^c ©afein, irbifd^e SBicber^
geburt, unb inncrl^alb beö ©rbenlebenö ^at bie finns
lid^e Drganifation il^rc unüberfteiglid^c ©renje. 35ic
©celenroanbcrung, roic fie in jenen ältcften Seiten
unb in ber ©rjiel^ung beö ^enfd^engefd^led^ts ge=
meint ift, fü^rt in bie irbifd^e Äörperroelt jurüdf;
eine fortfd^reitenbe finnlid^e Drganifation bagegen
fül^rt über biefelbe Iiinauö. Df)ne B^^if^I f^f)
Seffing biefe ©d^n)ierig!eit, bie baö @t)ftem auf ben
erften 33UdE „üerfteHt", unb er l^at nn^ niä)t gejeigt,
ob unb wie er biefelbe ju bemeiftern geraupt f)at.
S)al^er l^üte ntan fid^, baö ©eroid&t, weld^eö bie Sbec
ber ©eelenroanberung bei Seffing ^at, ju übertreiben
unb etwa gar bie tragenbe Äraft feiner Sffieltanfid^t
barin ju erblidfen. ©ö bebarf !einer ^palingenefie,
unt in ben Steligionen bie großen ©rjiefiungöftufen
ber aWenfd^l^eit ju erfennen unb auö biefer ©infid^t
jene religiöfe Sebenöanfd^auung ju geroinnen, bic
fid^ über bie gefeffelten ©laubenöformen erl^ebt unb
bie S^ugenb wahrer 35ulbung erjeugt, baö ©cgen^
t^eil aßer ber Untugenben, bie ber religiöfe Un«
Derftanb gebei^ien läjst, unb bereu \efee SS4) wv.'^^x^
36
©tauben bcr 9Wenfd^cn ücrfünbigt : bie Untugcnben
bcr ©Icid^gültigfeit, Unbulbfatnfeit unb ©d^iDörmcrei
3)aö Sffiiberfpiel bcrfclben in einem leud^tenben
aSorbilbe ju oerf örpem, roax bie Sluf gäbe, bie Seffxng
jum 2^ema feines SRatl^an ntad^te, ber fd^on bes^
l^alb au^ feiner polemifd^en 2lbfid^t entftel^en fonntc.
3)er 2lnti'®oeje gab bie SSeranlaffung jur SSott-
enbung beö SBerfe, bie ©rjiel^ung beö 3D?enfd^em
gefd^led^ts entl^ält ben ©d^lüffel ju feinem wahren
SSerftänbnife.
III.
Pie §fteiniaiitetgef)itSi9^*
©ntroidlung ift fortfd^reitenbe S)ifferen}irun9.
6§ fann nid^t ausbleiben, bafe cermöge i^rer ©nt-
roicflung bie 3JJenfd^l^eit in 3leUgionen unb SBötter,
in ©taaten unb ©tänbe getrennt unb, je mel^r
biefe ©d^eibungen fid^ ausprägen, um fo mel^r boö
grojse gemeinfame g^amiliengefül^I, tt)eld^ed ben
3Renfd6en mit bem aJlenfd^en uerfnüpft, gefd^roäd^t
unb erftidft wirb. S)ies finb bie Uebel, bie aus ber
©ntroidftung l^erDorgel^en unb fid^ ju il^r oerl^alten,
„wie ber SRoud^ jum ^euer". Slber es ift ein 9«?
37
bürfnijs unb eine 5ßflid^t ber SRcnfd^cnnatur, bicfeö
gamilicnöcfül^l nid^t crfterben ju lajfen, fonbcrn
mitten in jenen J^rennungen ju erl^alten unb ein
©ebiet fierjufießen, voo fid^ bic aJienfd^en alö ©lieber
ber großen g^amilie üerbrübern, unabl^ängig von
ben Sefonberl^eiten il^rer Steligion, ^Rationalität unb
©tanbeöunterfd^iebe. 3)aö 3Kittel einer fold^en SSer*
einigung müßte fid^ ju ben Uebeln ber gefeßfd^aft=
Ud^en ©ultur uerl^alten, „wie ber SRaud^fang jum
SRaud^". S)ie rein menfd^Ud^e 5Berbrüberung foH
il^re ©teße ftnben, ol^ne ba§ bie notl^iüenbige ©d^eibe^
mauer in bem 33au ber focialen SBelt niebergeriffen
unb aug ben Sluinen eine d^aotifd^e ©leid^^eit l^er^
gefteHt wirb, bie atte ©ntroidflung ju ©d^anben
mad^t. S)arin fal^ Seffing bie 2lufgabe unb baö
®el^eimniJ5 beö greimaurerorbenö, in ben er felbft
fid^ l^atte aufnel^men lajfen. ®r entmidfelte biefe
3bee in feinen „©efpräd^en für g^reimaurer",
bie unfere Siteratur afe bialogifd^e SWeifterftüdfe
jieren. S)ie brei erften erfd^ienen 1778, bie beiben
legten 1780: bajroifd^en faßt bie 5BoBenbung beö
SRatl^an. S)aJ5 in biefem ©tüdf bie feinblid^en
^Religionen fid^l julefet in einer unb berfelben gamilie
jufammenfinben, ift ein aSorgang, ber ba§ ^ema
38
bcr greiinaurcrgcfpräd^c fiitnbolifd^ auäbrücft. ©bcnjo
ifi CS für unfcr (Sebid^t bcmerfcnörocrtl^, tocnn qu^
bic Slnfid^t l^iftorifd^ falfd^ toar: bafe Sefjing in
jenen ©efpräd^en ben greimaurerorbcn von ben
J^empell^erren l^erleiten rooßte.
IV.
pie ^atraSet von hm hxei ftingen not (^efflnj.
SBenn man in einer ^Religion ober SReligionäi
art baö alleinige ißeil fielet, ift bie J^age nad^ bem
tüal^ren ©lauben leidet ju entfd^eiben. ißanbelt eö
[id^ um ben ©treit jwifd^en Reiben, 3uben, Äefeern
nnb red^tgläubigen (fatl^olifd^en) ßl^riften ober um
ben Streit jraifd^en Subentl^um, ©l^riftentl^um unb
3§lam, fo ^aben bie 3Rönd^e beö SBJittelalterö nid^t
gejmeifelt, mem bie ißerrfd^aft unb baö oäterlid^e
®rbtl^eil gebülire; fie waren il^rer ©ad^e eben fo
fidler alö bie ortl^obojen Sutl^eraner beö fiebje^nten
Sal^rl^unbertö , wenn ber ®lauben§ftreit bie brei
d^riftlid^en Eonfeffionen betraf: bie Äotl^olifen unb
©aloiniften mürben t)erbammt unb ber lutl^erifd^e
(Slaube l^eilig gepriefen. 58on ben breiSöl^nen „5ßeter,
39
Sol^ann unb 9Kartin" l^atten bie bciben erftcn
Unred^t, unb nur 3Rartinuö l^atte SRed^t.
3n einem ber älteften gabel&üd^er beö 3Jiittet=
alters, baö gegen ®nbe ber Äreujjüge aus mönd^i=
f d^cn Greifen l^eroorging , in ntönd^ifd^em Satein
gef (abrieben war unb t)iel gelefen n)urbe, ben fog.
„JRömifd^en ©efd^id^ten (gesta Rornanorum)",
finben fid^ jwei ©rjäl^Iung^n , bie ben SReligionö-
l^aber finnbilblid^ barfteHen. ®ie erfte erjäfilt oon
t) i e r ÄönigSf öl^nen, bie fid^ bie Ärone ftreitig ntad^en ;
mer ben beften ©d^ufe tl^ut, foH fie l^aben, bie
©d^eibe fott ber Seid^nam beö SSaterö fein; einer
ift, ber nad^ biefer ©d^eibe nid^t jielen !ann nod^
Witt: e§ ift ber redete ßrbe, ben bie ©rojgen beö
SReid^ö jum Äönig ausrufen. 35iefe öier Äönigö=
föl^ne repräfentiren bie Reiben, Suben, Äefeer unb
fatl^olifd^en Sl^riften. ^n ber jroeiten ©rjäfilung
finb e§ brei ©ö^ne, beren üätertid^eö ©rbt^eil in
einem !oft baren 9iinge befielet; ber SBater läßt
jtoei falfd^e Siinge verfertigen, bie bem ed^ten äufeer-
lid^ fo äfinttd^ finb, bafe nad^ feinem 5Cobe ber
wal^re ®rbe nid^t fogleid^ auöflnbig gemad^t werben
f ann ; aber ber ed^te SRing befifet eine rounbertl^ätige
ißeilfraft, unb bie ^probe berfelben jeigt, wen ber
-j
40
33ater jur ficrrfd^aft berufen. 2)ie brei ©öi^ne dcp
treten bie brei monotl^eiftifd^en ^Religionen: Subcn-
tl^um, aRol^amntebaniömuö unb ©l^riftentl^uni.
9l«§ bem mönd^ölateinifd^en %abeibndi) ifi bic
jroeite ©rjä^lung in ueränberter g^omt in bic
alte italienifd^e ©antmlung ber i^unbert Slooetten
übergegangen. §ier erjäl^It ein reid^er 3ube bem
©ultan, ber il^n mit ber g^rage nad^ bem maleren
©lauben fangen unb ju einer (Selbjal^lung nötl^igen
lüiH, bie ©efd^id^te oon ben brei SRingen ; ber ©ultan
red^net, bafe ber 3ube entmeber ben jübifd^en ober
ben faracenifd^en ©tauben afe ben beften bejeid^nen
werbe: im erften %aü i)at er an bem ©tauben befi
©uttanö gefreoett unb muß jal^ten, im jmeiten oer-
teugnet er ben eigenen ©tauben unb mujs. fid^ be^
feieren, wenn er nid^t jal^ten roill. Slber bie änt-
mort beö Suben ift fd^tauer atö bie Sled^nung be«
©uttanä: bie brei SRinge finb einanber fo öl^ntid^,
baß ber SSater atlein ben ed^ten fennt ;Unb jeber ber
©öl^ne fid^ nur einbitbet, ben tefeteren ju beflften.^
„^ie ©öl^ne finb wir", fagt ber Swbe, unb ber
©ultan, ber nid^tö ju entgegnen roeife, läßt i^n
gelten.
S)ieö xoax bie Duette, roorauö 33occaccio ben
41
©toff ju bcr hritten SRotießc fclncÄ S)ccamerotte
gcfd^öpft i^at. @ö ift nid^t mel^r ein unbeftimntter
Bnitan, fonberrt bcr fricgerifd^c unb l^clbenmtttl^igc
©alabin, ber in feiner ®elbnotf) ben reid^en unb
iDud^erifd^en 3ubcn SBJeld^ifebef auö SHejanbrien
rufen läßt, um mit ber aSejirfrage, roett^e ber brei
SReligionen er für bie roal^re l^alte, eine 3lnleil^e
von il^m ju et^n)ingen. ®er '^nie befinnt fid^
fd^neß unb erjäl^lt bem ©ultan wie eine plöfelid^e
©ingebung bie ©efd^id^te t)on ben brei SRingen.
aSor langen 3^it^« ^^^i^ ^in reid^er unb üornel^mer
3Wann, ber ein !oftbareö S^roel befafe, einen TOunber^:
baren 9ting, ben er unter feinen ©d^äfeen für^ ben
n)ert^t)ottften l^ielt. a33er biefen SRing öon feinem
aSater empfing, mürbe jebeömal ber fierr unb ®rbe
beö ^aufeö. ©o ging ber 9iing öon ©efd^led^t ju
©efd^led^t unb fam enblid^ in bie §anb eines 9Kanneö,
ber brei ©öf)ne l^atte : alle brei gleid^ trefflid^, gleid^
gel^orfam, gleid^ geliebt; jeber begel^rte ben 9ting
unb erbat if)n t)on feinem SSater. Um feinen ju
betrüben, oerfprad^ biefer jebem baö Äleinob unb
liefe von bem gefd^idfteften Äünftler jmei anbere
SRinge mad^en, bie bem ed^ten bergeftalt glid^en,
bafe felbft ber SSater ben (enteren !aum mel^r er?
42
fanntc. SRad^ feinem Xobe entftanb ber unDermeibs
lid^e ©treit, ben jefet niemanb tnel^r ju entfd^eiben
Dermod^te. 3)ie ©treitfrage blieb ungelöft unb ijl
es nod^ l^eute. ©alabin beiüunbert bie ©eifteö«
gegenwart beö S^ben unb fagt il^m offen, roaö er im
©inne gel^abt; SWeld^ifebe! bietet bem ^errfd^er ein
freiroittigeö ©arteigen, baö biefer annimmt unb mit
eiiren unb Oefd^enfen bem 3uben jurücferftattet, ben
er non jefet an ftetö afe feinen greunb bel^anbelt.*)
Sn ber SBenbung, bie 33occaccio in ber 6r-
jäl^lung oon ben brei Stingen nimmt, finb bie legten
©puren ber mittelalterlid^en ??affung getilgt: man
wittert fd^on ben 3wg ber SRenaiffance , ber Dom
Slltertl^um l^ermel^t. ®er einfädle ©taube an bie
SBal^rl^eit einer ber monotfteiftifd^en ^Religionen ift
erfd^üttert, bie göttlid^e Slbfunft berfelben erfd^eint
fo unerfennbar, bie brei SRinge einanber fo äl^nlid^,
bafe felbft ber SSater ben redeten faum ju unter«
fd^eiben weife.
*) Sögt. St, $Qfe: 3)a8 aeiftlid^e ©d^aufpiet (1858).
(S. 250 föb. 3n ben „Slömifd^en ©efd^id^ten" finbet ftd& bit
gfabel t)on ben klingen in berfc^iebcnen ^luSgaben bctfd^icben
eta&l^U, bod§ nur im 9tebenföd^ttd§en ; ^tunb^ug unb 9ht|'
ontoenbung bteiben biefelben.
43
V.
9luö 33occaccio§ SRoöette fd^öpft Seffing bie ©e-
fd^id^te t)on ben brci SRingen, bie fein 3lati)an bcm
©ultan ©alabin crjäl^It: es Ift bie ^Parabel, bie
ba§ 3Rotit) unb ben 3JiitteIpunft feiner ©id^tung
auömad^en fottte. 2lte er fie ben 11. Sttuguft 1778
feinem Sruber anfünbigte, gab er jugleid^ einen
SBinf über il^re ®ntfteliung: „Sd^ l^abe oor oielen
Salären einmal ein ©d^aufpiel entworfen, beffen
Sntialt eine 2lrt von Slnalogie mit meinen gegen«
TOörtigen ©treitigfeiten ^ai, bie id^ mir bamalö
xodf)i nid^t träumen liefe". „3d^ möd^te jmar nid^t,
bafe ber S^i^alt meines ©tüdE§ aHjufrül^ befannt
mürbe, aber bod^, wenn bu ober 9Kofeö il^n miffen
mottt, fo fd^lagt baö ©ecamerone be§ Soccaccio
auf: Giornata I. Melchisedech Giudeo. 3d^ glaube,
eine fel^r intereffante ©pifobe baju erfunben in
i^aben".
5Bor melen Salären, nod^ in ben 2lnfängen feiner
literdrifd^en 2^l^ätigf eit , bie unö in bem gegebenen
gatt bi§ in bie roittenberger S^it jurüdfüi^rt, l^atte
44
Scffxng einen italienifd^en 5ßl^Iofopl^en be« fed^jel^ntcn
Sal^rl^unbertg; fiieron^mug 6arb anuö, jum
©egenftanbe einer feiner „SRettungen" genommen,
bie im 3al^r 1754 erf d^ienen *). 3n bem erften
3Berfe jenes ^pi^ilofopi^en »de subtilitate« (1552)
fanb jtd^ ein Oefpräd^, worin bie mer SBeltreligionen
^eibentl^um, Swbentl^um, 6f)rifientl^um unb Sölam
in t)ier 5ßerfonen bargeftettt werben, beren jebe il^ren
©Ittuben Dertl^eibigt unb ben ber anberen ju miber-
legen fud^t. 2luf (Srunb einer mifeperftanbenen
©teße, bie nid^t auf ben SBertl^ ber ^Religionen,
fonbem auf ba§ Sffiaffenglüd jmifd^en Gl^riften unb
2;ürfen ju bejiel^en mar, l^atte man bem ©arbanuö
t)orgemorfen, bafe er eö bem S^^aü l^abe überlaffen
motten, meld^er ©laube ben ©ieg bat)ontrage; er
l^abe bamit an ber SBal^rl^eit beö Gl^riftentl^umö
einen S^^^f^t geäußert, ber feinen eigenen Un-
glauben unb 2ltf)ei§muö bejeuge. SRun ift eö nid^t
genug, ba§ Seffing benßarbanuö gegen baö offene
bare aRifeüerftänbuife feiner Siebe in ©d^u| nimmt
unb ben maleren ©inn ber lefeteren fierjiettt, fonbern
er beroeift, bafe jener oielmel^r ben entgegengefefeten
♦) aSöl. SBb. I. (Srftc 5lbl&anblunö. VU. 2. ©. 43.
45
Xobel ocrbicnc, rocit er ju ©unftcn bcä GJ^rificn-
tl^umö ^Partei genommen, btefem gefliffentlid^ bie
ftärfften, ben ©egnern bie fd^roäd^ften ©runbe ge^
Uelzen f)abe: ber 3ube unb ber SWufelman l^ätten
fid^ toiber bie ungered^ten 9lngriffe bes ©Triften
meit grünblid^er unb beffer t)ertl^eibigen fönnen, als
bem ©arbanuö gefallen. Unb nun fül^rt Seffing felbft
erft bie ©ad^e beä 3fraeliten, bann bie beö SWal^om^
mebanerä unb jeigt mit feinen SBorten, wie beibe
l^ätten reben fönnen unb f offen, ©o betl^eiligt er
fld^ an ber biatogifd^en Se^anbtung beö 2:^emaö,
bie leidet jur bramatifd^en auöjubitben n)ar, nament
lid^ in einer ^anb vok ber feinigen. ®ö ift ju oer^
mutigen, ba§ er fd^on bamafe jeneö ©d^aufpiel
entwarf, baä er „oor oieten 3al^ren" gemad^t l^aben
tooffte unb beffen S^^alt eine 9lrt oon 9lnatogie mit
feinen tl^eotogifd^en Kämpfen im Saläre 1778 l^atte.
Garbanus' SReligionögefpräd^ erinnert burd^ fein
2^l^ema an bie gäbet oon ben brei 5Hngen, bie
S^ffing gemife fd^on bamate fannte, unb bie il^m ben
5ßlan feiner bramatifd^en 9)id^tung eingab. ®r felbft
bemerft ju bem ooffenbeten SBBerf, als er eine mm
Sluögabe beffetben beabfid^tigte : „®ö ift afferbingS
mal^r, ba§ id^ ben erften ©ebanfen jum SRatl^an im
46
3)ccattteronc bcö Soccaccio gcfunbcn. Stttcrbingö ijl
bic brüte 3loveüe beö crftcn Sud^s^ bicfcr [o rcid^en
Duette t^eatralifd^er ^robucte, ber Äeim, ouö bem
ftd^ Sitttl^an bei mir entroirfelt l^at. 3lber irid^t erfl
je|t, nid^t erft nad^ ber ©treitigfeit, in toeld^e man
einen Saien, wie ntid^, nid^t bei ben paaren ^dtte
jie^en fotten."
VI.
%el^nUd^!ett unb 6onttafi.
Boccaccio unb fein SBorgänger l^atten von ber
gabel ber brei SRinge einen not)ettiftifd^en unb im
ÖinblidE auf bie SBBal^r^eit ber brei ^Religionen ffepti-
fd^en (Sebraud^ gemad^t. 3n il^rer ©rjä^lung war
bie ^rage fo eingeführt unb gerid^tet, ha% bie Ätug^
^eit beö Suben burd^ eine gefd^idft auöroeid^enbe
Slntroort über bie Sift beö ©ultanö triumpl^iren
fottte. (Sebraud^ unb Sebeutung ber ^arabel Der*
änbern fid^ in Seffingö bramatifd^er 35id^tung. 35ic
grage nad^ ber roal^ren Sieligion rüdft in ben SJüttel-
punft unb forbert eine pofitioe, i^ ber ^auptfad^e
entfd^eibenbe Söfung, bie freilid^ anberö auöfatten
47
mufete , als jene ©rjäl^lung in bcm mönd^if d^cn
gabclbud^, baö ben beibcn italicmfd^cn 3lot)cIIen
voranging.
35ie Umbilbung bcr oorgcfunbencn ^arabcl
war bal^er bic näd^ftc 9lufgabe unfereö 35td^ter§.
@ö tft voof)l ju bcad^ten, bajs t)on bicfer 33ebingung
bic ©siftcns feincö SBcrfeö gerabcju abfängt: o^nc
bic brittc 9Jot)cIIc bcö Soccaccio b. ^. ofinc bic
barauö entlehnte gabcl bcr brci SRingc wäre bcr
Slatl^an nie gcbid^tct roorbcn ; o^nc bic Umbilbung
bcrfclbcn eben fo rocnig. Scffing fctbft crflärt,
ia% jene ^JoocHe bcr Äeim war, auö bcm fid^ 5Rat^an
bei i^m entmidclt fiabc. ®r l^at bic ©cfd^id^tc von
bcn SRingcn nid^t crfunbcn, roic bic ^ßarabcl t)om
^jJalaft, fonbcrn üorgcfunbcn unb feinem ^xoeäe
gcmäjB ücrrocnbct. 3Bir muffen ba^er in unferer
2)id^tung mit jener alten ^abct, wie mit einer feften,
ausgeprägten, in geiDiffen 3^9^« unjerftörbaren
SBorauöfefeimg red^nen, bie nid^t als ein freies SBerf
Seffingö angefel^en unb beurtfieilt fein miH. Dber
man üerfennt i^ren Urfprung.
3lud^ bemerfen mir mo^l, ba§ in ber Umbilbung
ber ©efd^id^te von ben SRingen unb in i^rer Sln-
paffung an bie friede unferer SJid^tung ©d^mierig^
48
feiten eigentl^ümttd^er unb l^artnädRgcr 2lrt cnt-
l^alten roaren. SRad^ Seffingö Slnfid^t gilt roebet
bie alleinige unb auöfd^Iiefeenbe 33ered^tigung einer
einjigen SReligion, wie in bem g^abelbud^ ber 9Wönd^c,
nod^ au(S) bie Unerfennbarfeit ber toal^ren, wie in
ben beiben italienifd^en 5Rot)eIIen; er fonnte ba^ct
bie 3üge ber ^arabel nid^t in ber Slbfid^t Der--
roertl^en, in roetd^er fie t)or il^m erfunben unb ge^
brandet roorben: melmel^r mußte er fie bergeflalt
umbid^ten, baj5 feine neue 3bee in bem ©eroanbe
einer alten ©efd^id^te erfd^ien, bie in einem engeren
unb anberö gerid^teten ©inne gebadet roax, 6ö
würbe mid^ beö^alb nid^t befremben, wenn in 5Ratl^and
©rjä^lung 3bee unb Silb fid^ in mand^en ?ßunften
nid^t üoHfommen bedfen unb bie bilblid^e ©infleibung
nad^ altem 3wf<ä^nitt l^ier ober ba ber 3bee ju
TDiberftreiten ober biefelbe ju oerbunfeln fd^einen
foHte. ©ergleid^en 9Wängel ließen fld^ aus ber
©ntftel^ung ber ©ad^e jur ©enüge erflären. SBirb
man etroa fagen, baß Seffing bie ©efd^id^te t)on
ben SRingen bann ttberl^aupt l^ätte ungebraud^t
laffen follen, er, ber felbft bie 3lufgabe einer Jöbel
fo oortrefflid^ barjutl^un unb ^u erfüllen wußte?
3d^ toürbe einen fold^en @inn)urf nid^t mad^en.
49
aud^ tocnn er bcgrünbct voäxe, benn iä) mirbe
unferc gabel mit i^ren crHärbaren SJiängcln lieber
in ben fiauf nel^men, als ben 3lati)an entbel^ren,
ba nun einmal biefe g^abel ber Äeim ift, morauö
unfere Did^tung l^ert)orgegongen.
Slber xä) fxnbe ben neuerbingö erl^obenen ©in-
murf, baJB in SRatl^anä (Srjä^lung t)on ben brei
SRingen bie ßüge ba ober bort ober überl^aupt nid^t
paffen, in ber ^auptfad^e unbegrünbet unb üerfel^lt.
3llö Seffing bie alte gabel aufnal^m unb feiner
neuen 3bee anpaßte, l^at er nid^t etroa au^ ber
9Jotl^ eine ^ugenb gemad^t. Um bie SSolföreligionen,
bie alö ber foftbarfte ©d^afe ber SBorfal^ren von
©efd^led^t ju ©efd^led^t forterben, bilblid^ barjufteHen,
liefe fid^ fein beffereö ©pmbol finben, alö ber SRing
unb bie SRinge : l^ier wirft bie SSergteid^ung burd^
bie Slel^nlid^feit. Um bie ma^r^aft religiöfe ©e-
finnung unb beren SBerl^ältnife jum ererbten ©tauben,
il^re 3lb^ängigf eit bat)on unb il^re ©rl^abenl^eit barüber
anfd^aulid^ ju mad^en, fonnte mieberum fein treffen-
bereö ©^mbol gefunben werben, ate ber SRing unb
bie SRinge: ^ier wirft bie SBergteid^ung nid^t bloö
burd^ bie Slel^nlid^f eit , fonbern l)auptfäd^lid^ burd^
ben ■ 6 on traft. SSor Seffing war baö ©leid&nife
50
bcr Jleligioncn unb SKngc cinfad^ gebraud^t toorben
bloß in Slbfid^t bcr äcl^nlid^fcit ; Seffing üertoert^cte
cö im boppdtcn ©inn, er entbcdfte foglcid^ bie nod^
unbcnufetc ©citc bcr ^ßarabcl, glcid^fam bie Äel^r-
feite berfelben unb ntad^te barauö ein neue« ©leic^-
nife. 3" feinen Singen würben bie 3^9^/ ^^^ ^W
ju paffen fd^ienen, gerabe bie paffenbfien unb an^
brudöoollften. 35a§ ift ed^t leffingifd^ ! SBie er e«
in feinen äb^anblungen gerooHt, in feiner neuen
JJabelbid^tung geleiftet l^at, fo wirb l^ier ba§ 2^cma
einer gobel oariirt unb l^euriftifd^ be^anbelt. 3n
ber gegebenen ^abel entbedft fid^ ©toff unb aKotio
ju einer neuen. ®ie SBorgänger l^aben gejeigt, in
roeld^em ©inn bie ^Religionen ben SHngen ä^nlid^
finb; Seffing jeigt eö aud^, bann aberroenbet er
baö ©leid^nife um unb lafet un^ erfennen, in roel-
d^em ©inn bie SReligion aufl^ört einem Äleinob ju
gleid^en, baö man erbt, beftfet unb trägt. 6r
brandet baö ©leid^nife, um ed ju üemid^ten. Das
©pmbol l^ört auf ju gelten, wenn bie ©ad^e felbfi
an feine ©teile tritt, ©obalb bie toa^re religiöfe
Oefinnung in il^rer üoHen Äraft nnrft, flnb bie
9linge bebeutungäloö geworben: bie ^eriobe ber
©innbilber ift abgelaufen, benn bie ©ad^e felbfi ifl
51
gcgcniDärtig. ®ö ift bie innerfte, auögefprod^cne
unb UHDcrfennbore 9lbfid^t ber Scfftngfd^en 35td^tiing :
bic alte Parabel bcrgeftalt ju entroidetn, ba§ fie
eine neue, lodere auö fid^ l^ertJorgel^en läßt unb in
einer gönn enbet, bie aufl^ört ^ßarabet ju fein.
6§ finb mer roefentlid^e SH^f i^i^ i^^" ßl^arafter
ber ©efd^id^te t)on ben brei Siingen auömad^en: fie
betreffen ben SBertl^ beö uralten $Ringö, bie 3lrt
unb baö ®efe| feiner SBererbung, bie Unterfd^eibung
beö ed^ten SRingö von ben uned^ten ober nad^ge=
mad^ten^ unb bie 3luftöfung be§ ©treitö. 3n allen
oier fünften änbert Seffing bie überlieferte '^^ahei,
in jebem berfelben ift feine 3lenberung bebeutfam.
«
3n ber ©rjäl^lung 3Jleld^ifebefö ift ber SRing
bloö ein f oftbarer ©d^afe, ber TOert^üoUfte in ben
Singen feineö Sefi|er§;^ in ber ®rjäf|lung 9Jatl^anö
ift er mel^r, weit mel^r als nur baö, er l^at nid^t
bloö einen unfd^äfebaren SBert^, fonbern eine un=
oergleid^lid^e, lierjgeroinnenbe Äraft: „®er ©tein
war ein Dpal, ber fiunbert fd^öne garben fpielte
unb l^atte bie gel^eime Äraft, t)or Oott unb
3Kenfd^en angenel^m ju mad^en, raer in biefer
52
Suoerfid^t i^n trug." Unb ntd^t bloö bcn
SBBcrtl^ eines unfd^äfebaren ^ßreifeä, einer unoergleid^-
lid^en Äraft \)at biefeö Äleinob, fonbeni aud^ einen
Stffectionöwertl^. ^an wolle biefen 3^9 nid^t über-
feinen: „SBor grauen Salären lebt' ein 3Wann in
Dften, ber einen SRing non unfd^älbarem SJBertl^
aus lieber fianb befafe."
■
3Jn ber 5Rot)elIe Soccaccios foH ber jebeömaligc
Sefifeer beö SRingeö ber @rbe unb ^ürft beö ^aufeä
fein. ©0 ift eö aud^ bei Seffing. SBer ben Sling
erbt, l^at aUeö. 3lber l^ier ifl bie SBererbung an
eine Sebingung gefnüpft: ber SRing ftammt aus
lieber ^anb unb nur burd^ bie üäterlid^e Siebe. unb
beren Sluäroal^l foH er forterben oon ©efd^led^t auf
@ef dnMt :
@t lieg ben lÄing
S}on feinen ©öl^nen bem (S^elteBteften
Unb fe^te fcfl, bog btcfer toiebetum
3)en lÄing bon feinen ©öl^nen bem betmad^e,
2)et xi)m ber liebfte fei; unb ftctS ber ßtcBfte
D^n' SlnfV^n ber ©eburt, in Äroft attcin
i)e§ tfim^^ ha^ $au^t, ber Sfürft be§ $aufed toerbe.
53
3. fie ^ntxhtnnbüxhtit l^ta $injg0>
3)a trifft CS jtd^ im Saufe ber S^it, bajs eine m
3Sater breier ©öl^ne bie 3luän)al^l unmöglid^ fäHt:
fie finb alle brei feiner Siebe gleid^ roürbig unb
gleid^ t)on il^m geliebt. ®r l^ilft fid^ burd^ ben
fiünftler, ber bem Urringe jroei anbere nad^bilbet
unb ooHfommen äl^nüd^ mad^t. 3la6) bem 2^obe
beö 3Saterö gilt eö, bie SRinge ju unterfd^eiben, ben
ed^ten ju erf ennen, ben ^m\t ber Srüber ju
fd^Iid^ten. 3n ber Sel^anblung biefeö 5ßun!teö jeigt
jebe ber angefül^rten gabeln il^r eigentl^ümlid^ed
©epräge, unb eö ift im l^öd^ften SUtafee bead^tungö^
roürbig, wie Seffing bie ©ad^e gefaxt l^at. ®ie
erfennbarfeit beö ed^ten SRingeö ober, voa% baffelbe
^ifet, bie Unterfd^eibbarfeit ber 3Wnge, nimmt nad^
ber B^^fötfl^ ^^ ^^^ 'Sieii)^ unferer ©rjä^lungen
immer me^r ab : in bem mittelalterlid^en gabelbud^
ift ber ed^te SRing nod^ t)oIlfommen aller SBett
erfennbar, benn er befifet eine rounbert^ätige, burd^
ben ©rfolg beweisbare unb erprobte ^eilfraft; in
ber älteften italienifd^en 3lot)elIe ift ber ed^te Siing
nur bem SBater allein nod^ erfennbar, nid^t aud^
ben ©öl^nen, gefd^roeige ber SBelt; in Soccacrio^
54
©ecameronc ift er bem SSater faum nod^ crtenm
bar, um fo tDcnigcr ben ©öl^nen unb ber 3Bclt;
bei Seffing enbüd^ ift er felbfl bem SSater unet-
fennbar geworben:
@r fenbet im (Sel^etm au einem ^ünflkr,
^et bem et nad^ bem duftet fetneS fftinq^
Stoti anhtxt beftedt unb toebet Sofien
^iod^ 3Rü^c f|)oren l^cifet, fic {cncm gletd^,
^oUfommen gleid^ ^u mad^en. i)a§ gelingt
2)em ^ünftlet. ^a et il^m bie dlinge Btingt,
Äonn felbft bet Sätet feinen 9Ru|letting
9lid^t untetfd^eiben.
@ö bebarf feiner aSerfid^erung, bafe Seffing biefen
fo bebeutungöooüen 3w9 gefliffenttid^ in bie ^orabcl
eingefül^rt ^at unb nid^t untfonfl geroäl^lt l^aben
TOollte. Rann felbft ber aSater feinen ^Kufterring
nid^t unterfd^eiben, fo ift flc^r, baj3 biefer 3ling fein
biöl^erigeö 9lnfel^en, feine alleinige ©eltung ver-
loren: er bcit nid^t mel^r ben unfd^öfebaren SBert^,
benn bie beiben anberen finb i^m gteid^, ooHfommen
gleid^; fein Sefifeer ift nid^t mel^r ber ©rtoöl^ltc
ber oäterlid^en Siebe, barum aud^ ^nid^t mel^r ber
@rbe unb gürft beö fiöufeö. ©o l^at es ber aSater
gewollt. Sl^m ift eö nid^t peinlid^, fonbem lieb.
55
ba§ fclbft er ben aWuftcrring nid^t ju unterfd^ciben,
nid^t tnel^rju erfcnncn oermag:
gftol^ unb fteubig ruft
<5t feine ©öl^ne, icben inSBefonbte,
(SJiebt iebem in§befonbrc feinen ©egen
Unb feinen iRing unb ftitbt.
^ä) fe^c nid^t, bajs ^ier, rote man gemeint ^at,
unfere gabel in einen SBiberftreit mit fid^ felbft
geratl^e. 2)enn bie SRinge, fo roenbet man ein,
feien unb bleiben unterfd^eibbar ; mögen fie einanber
nod^ fo üoHfommen gleid^en, einer von i^nen l^abe
unb bel^atte eine gel^eime Äraft, bie fein Äünftler
ber 3Belt fabriciren unb nad^mad^en fönne. 2)arin be^
ftcl^e baö unoertitgbare unb unnad^al^müd^e Kriterium
beö ed^ten SRingeä. „®r l^atte bie gel^eime Äraft,
vox ©Ott unb SWenfd^en angenel^m ju mad^en, roer
in biefer 3ut)erfid^t il^n trug." 3u biefer Suoer-
fi(^t ! Ttan beod^te eö roo^t, biefeö bebeutfam ein-
f darauf enbe SBBort! SBon bem juoerfid^tlid^en ©lauben
beö Sefifeerö, bafe feinem SRinge jene SBunberfraft
inrool^ne, ift bie SBirlf amfeit ber lefeteren abl^ängig ;
fie ücrf d^minbet , fobalb biefer ©laube manft ober
erfd^üttert mirb. 2)er Sefifter mujs geroijs fein, ben
ed^ten SRing ju fiaben, um in ber Suoerfid^t il^n
56
tragen ju tonnen, bie feine SBirf famfett entbinbct.
Die Äraft ift tobt in bemfelben Slngenblid, wo bie
3ut)erfi(j^t, baJB fie t)orl)anben ift, aufl^ört; biefe
3ut)erftd^t grünbet fid^ auf bie ©eroife^eit be§ Se-
fifeeö, biefe auf bie ©rfennbarfeit beö ?linge§. S)ic
einleud^tenbe ®d^tl)eit bed SRingeö ift bie erfte, bcr
Sefife beffelben bie jweite, ber ©taube an feine
5lraft bie britte Sebingung, o^ne meldte bici'e
Äraft nid^t n)irfen unb bie ©d^t^eit beö Äleinobö
betDäl^ren fann. 5Run ift ber SRing nid^t mel^r er-
fennbar, ber Sefifecr nid^t me^r gemijB, ber ©laube
nid^t me^r üor^anben, bie Äraft ba^er nid^t me^r
lebenbig: ber 9ling l^atte bie geheime firaft, oor
(Sott unb aWenfd^en angenehm ju mad^en, er l^at
fie oon ie|t an nid^t me^r.
3luö biefen in unfcrer (Srjä^lung entl^altenen
©rünben roiberlegt fid^ ber fd^arffinnige unb be-
ad^tungöroürbige ©iniourf 3- ®- @rbmann§, bafe
Seffingö 5ßarabet aufl;öre ®Ieid^ni§ ju fein unb
jum SRät^fet werbe. Sei Soccaccio feien bie brei
SRinge cinanber gleid^, bei fieffing nid^t, benn einer
baoon l^abe jene gel^eime Äraft, bie ben beiben
anberen fel^Ie unb fefilen muffe; nun bleibe bie
SBirfung aM, waö fid^ nad^ Seffingä eigenen
57
SBeifungcn, rocnn man eä mit feiner %abel genau
neunte, nur fo erftären laffe, „bafe bie Sebingung
b. f). bie Qnvex^i^i, (nur) e r l^abe biefc Äraft, bem
Sefl^er beö 9Kngeö ab^anben gefommen war"*).
©e^ rid^tig! Slber fein SRät^fel! 3)ie 3ut)erfid^t
ift ja ab^anben gefommen unb mu§ eö fein nad^
allem, maö unö ^Jatl^an erjäl^lt. Keiner ber ©öl^ne
mei§, ob er ben SRing mit ber Äraft ^at; feiner
fann e§ miffen, ha eö ber aSatcr fetbft niä)i meife,
ba „felbft ber SSater feinen 9Kufterring nid^t unters
f d^eiben f ann." SBo ift baö SRätfifel ? ©ö ift f(ä^on
gclöft, beoor in unferer ©rjöi^lung jene SBenbung
eintritt, worin eö liegen foH. Seffingä gabel ftreitet
Jtcineömegö mit i^rer eigenen gaffung unb 3lnlage,
fte l^at bie SRoHe, bie fie bem erblid^en ^eiligtl^um
ber gamilie jufd^reibt, nid^t üergeffen, mnn im
g^ortgang ber 35inge baö Äleinob feinen urfprüng^^
tid^en S^nhex oerliert unb bie aWad^t einbüßt, bie
eö in ber ^anb beö gläubigen Sefifeerö ausübte,
nur in biefer ^anb. „SBer eö glaubt, bem ift
baö i&eiPge nal^e!" aWit bem ©tauben ge^t bie
*) 3^. @b. (Stbmonn : ©tutibtift bct (SJefd^td^tc bct ^pi^ilo:
fortie. 3. Aufl. 95b. H. @. 295 fg.
58
aWagie verloren ; mit bcr ©ctoiJBl^eit be§ Scfifeeö ifl
ber ®lau6e gef d^tDunbcn ; mit ber Uncrfcnnbarteit
bcö cd^tcn SRingcö ift bie ©cioipeit, il^n ju l^abcn,
erfd^üttcrt unb mu§ cä fein. 2)icd atteö fagt imfcte
©rjä^lung RnnbilbUd^, mic fic eö allein fagen barf.
2)aB ber Urring, baö erblid^e ^eiligti^um ber gamilie,
unerfennbar geworben unb bamit aufgel^ört l^at,
ate ber ed^te ju gelten unb ju wirlen, wirb in ber
Siebe beä gabelbid^terä mit ben SBorten auögebrüift:
„ba er i^m bie 9Wnge bringt, fann felbft bcr SBater
feinen 9Kuft erring nid^t unterfd^eiben". S)iefc 3Ben=
bung enthält einen jener d^arafteriftifd^en ©runb-
jüge, burd^ roeld^e Seffing ber gabel von ben JHngen
fein ©epräge gegeben.
4. fer $treit unb ber pti^ter» ^
Unfere ©rjäl^lung ift fein SRatl^fel, fonbern ein
©leid^nife. ^ätte ber 35id^ter unö ein SRätl^fel auf-
geben rooHen, fo roürbe er feinen Jlid^tcr, ber ben
©treit ber ©ö^ne entfd^eiben foll, nic^t l^aben fagen
laffen: „®enft i^r, bafe id^ Mtm m löfen ba
bin?" S)aju ift er nid^t ba. ©eöl^alb barf au^
bie ©ad^e, bie t)or fein gorum gebrad^t wirb, fein
fold^eö SRätl^fel entl^alten. 2Bir berühren ben legten
59
er fiauptpunftc, tüorin ficffing bie überlieferte
bei feinem S^tde getnäjB umbilben mufete. ®ö
ibclt fid^ um bie 9luflöfung beö ©treiteä, ber
jermeiblid^ eintritt, fobalb ftatt eineö SRingeö
ei l^ert)ortreten. 3n ber mönd^ifd^en g^abel ift
©ntfd^eibung pofitit) unb erfolgt ol^ne SRid^ter:
c öffnet ber redete Siing feinen 3)iunb, inbem er
il^m allein t)erliel^ene fieilfroft äuj^ert. ^ ben
lienifd^en SRot)cllen ift bie ©ntfd^eibung ncgatit)
) folgt o^ne SRid^terfprud^ au§ ber Sage ber
d^e: l^ier ift ber redete 3Wng für menfd^lid^e 6in=
t nid^t mel^r erfennbar. 2)er ©treit bleibt un-
fd^ieben, bie ^rage nad^ ber roal^ren SReligion
jelöft unb, wie eö f(^eint, unlösbar. ©oH in
gabel von ben SRingen ein SRät^fel entl^alten
t, fo fud^e man eä nid^t bei Seffing, fonbem bei
ccaccio. fiier ift ber redete SRing oor^anben,
jt§ ift von feinem uralten SEBertl^, oon feiner
ftbarfeit unb ©d^tl^eit oerloren gegangen, einer
" SBrüber l^at biefen SRing unb mufe il^n l^aben.
n ratl^e man toer? Sie ©ad^e liegt fo, bafe
1 3Wenfd^ ben 33efifeer, obmol^l er ba ift, erfennt:
: l^aben ein 9iätl)fel oor unö, unb jwar ein
[ööbareö!
I
60
®anj anberö ftettt jid^ bie ßrjöl^Iung bei Seffing.
§icr giebt eö eine pofitiue ©ntfd^eibung unb einen
SRid^ter, ber fie faßt, jroar nid^t burd^ einen
©ptud^, tool^I aber burd^ einen diatf), auö beffen
83efol9un9 bicjenige Sage ber 35inge J^eruorgel^t,
roeld^e bie ßöfung ber %xa%e in fid^ trägt. 3« ^^
3lrt, wie unfer 2)id^ter bie ©ad^e außgel^en la^t,
vereinigt er auf feine SBeife bie ältefte gäbet mit
ber italienifd^en SRooeHe. ®ie ©ntfd^eibung ifi
pofitip, aber nid^t auöfd^Iiefeenb ; fie ftüfet fid^ au$
auf eine Äraft beö 3lingeö, nur bafe biefelbe feine
äußere rounbert^ätige, fonbern eine geiftige unb
fittlid^e ^eißraft ift, bie ate fold^e nid^t ol^ne roei-
tereö einem ©tein inrool^nt. 2)ie ©ntfd^eibung ifi
negatio, o^ne ffeptifd^ ju fein, ©o weit bie Steli-'
gionen ^Ringen gleid^en, bie man ererbt, befifet unb
trägt, fo weit ber ©taube einen fotd^en äußeren,
t)on ber ©eftnnung unb bem inneren B^t^wn un-
abhängigen Sefife auömad^t, ift fein ©taube ber
raal^re unb fein 3Wng ber ed^te, gteid^oiet ob er alt
ift ober neu. ^ier enbet baö ©teid^nife unb ftatt
ber Slel^ntid^feit erl^ebt fid^ ber ©ontraft. ©ilt nur
bie älel^ntid^feit jroifd^en SRetigion Imb 9iing, fo ift
bie ®d^tl^eit beö 5Ringeö nid^t btoö fragtid^ unb
6t
uner!ennbar, fonbern feine Uned^tl^eit oollfommen
ftd^er unb einleud^tenb : „®ure SRinge finb alle
brei nid^t tä)i, 3)er redete SRing oermut^^
lid^ ging perloren."
Stuf ben ©ontraft jroifd^en ^Religion unb SRing
(©ad^e unb S^^^^) gtünbet fid^ ber rid^terlid^e
äuöfprud^, ber fo, wie er ift, nur unter jroei 58or-
ausfefeungen erfolgen fann, t)on benen bte frül^eren
©rjäl^Iungen nid^tö nnff en : fie roijf en nid^tö von ber
gel^eimen Äraft beö SRingeö, „t)or (Sott unb SRenfd^en
angenel^m ju ntad^en, wer in biefer 3"^^^W^ ^^^
trägt," nid^ts von bem uralten ^auögefefc, bafe
„ftetö ber Siebfte, ol^n' Infel^n ber ©eburt, in
Äraft aßein beö SRingö baö ^aupt, ber g^ürft beö
Kaufes werbe". 9Kd^t unoerbient ift einer ber Söl^ne
ber ©etiebtefle: er enoirbt bie päterlid^e Siebe burd^
feinen ©el^orfam unb beroäl^rt fid^ als ber JBür^
bigfte, ben SRing ju erben, ©o will e§ unfere grabet,
bie oon ben brei ©öl^nen auöbrüdlid^ berid^tet, bafe
fie gteid^ geliebt würben, weit fie bem SBater gleid^
gel^orfant waren. 2)er fitttid^e JBSertl^, bie gute unb
gel^orfame ©efinnung ift nid^t pon bem Sefifee beö
SRingeö abl^ängig, fonbern umgefel^rt. Dl^ne ben
SRing, burd^ eigene ^üd^tigfeit l^at fid^ ber SBür?
62
bigfte ber ©ö^ne bic größte Siebe beö SJaterö et-
roorbeu; er foH mit ^ilfe beö SKngß, im jUDcr-
fid^tlid^en ©lauben an bef[en 5lraft, bie Siebe ©ottcö
unb ber aWenfd^en geminnen: biefer juperfid^tüdie
&lanht ift nid^t üon ber Äraft beö SKngeö abfiängig,
f onbern umgef efirt ; er mirb t)on innen l^eraus bctn
Sefi^e be§ SRingeö l^inäugefügt, er merft bie Äraft
unb bebingt beren SBirffamf eit, er erfd^eint afe bic
g^ortmirfung jenes Rnblid^en ©el^orfamö, ber bem
83e[i6 unb ber ©rbfd^aft be§ Swmelä uorauöging.
©0 mill eß unfere tieffinnige g^abel. (Sel^orfam
unb ©taube finb nid^t bie SKitgift beö SRingcö,
f onbern bie ^ugenben fiingebenber ©efinnung, bie
man bet^ätigen mu§, um ben 9Kng erben unb
feine Äraft nü^en ju Unntn.
2)iefe 83ebingungen fennt ber SKd^ter. ©r roitt
ben ©treit um ben 35efife beö ed^ten SRingeö fd^lid^ten
burd^ bie 5ßrobe feiner Äraft:
3^(^ ^örc Ja, ber redete üling
Sefi^t bic Söunberfraft, BcIicBt ju ntad^en,
S3or ©Ott unb OJlenfd^cn angcncl^in. 2)o8 mug
^tfd^eiben. i^enn hk falfd^en Stinge toerben
2)oc^ ba^ nic^t fönnen! — 9lun, tuen lieben jtoei
Sßon eud^ am nieiften'? — Tlaä^t, faßt on! S^x fd^tocigt?
Die SRinge toitfcn nur jutütf ? unb nid^t
63
3flad6 QUgen? 3cbcr liebt fid^ felber nur
5lm mciften? — fo fcib i^x atte brct
SBcttogcnc SBettügct! @ute S^lingc
©tnb attc brci nid^t ed^t.
^ier ift bie negatioe ©ntfd^eibung, rote fie nid^t
anberö auöfaHen fann. S)ic Siebe ber ©öl^ne ju
il^rem aSater ift in grimmigen Sruberjroift entartet,
bie 2:ugenben be§ finblid^en ©el^orfamö unb ©lau^
benö finb auögelöfd^t, unb o^ne biefe 2:ugenben ift
fein SRing ber ed^te. 3Slan Wnnte einroenben, ba§
gcrabe ber SRed^tsftreit ber Srüber roiber unfere
3luffaffung jeuge: jeber ber brei ©ö^ne fül^re feine
©ad^e in ber feften Uebet^eugung , ben redeten
3Kng geerbt ju l^aben, einer \)at if)n, in biefem
einen fomme ju bem factifd^en SBefife jene S^vex^
fid^t, roeld^e bie Äraft beö ©teinö roirffam unb ba^
burd^ ben 3Kng erfennbar mad^e; tro^bem bleibe
er unerfennbar im $B3iberftreit mit ben ©runb-
•
t)orauöfefeungen unferer ^abd, bie alfo, abfid^tlid^
ober unabfid^tüd^, bod^ in einem SRätl^fel enbe. 2)er
©inrourf ift falfd^, weil er bie SBorbebingungen, bie
jur SBirffamfeit beö 3Knge§ erforberlid^ finb, nid^t
roo^l erroogen l^at. SRid^t ber factifd^e a3efi6 mad^t
ben @rben, fonbem ber red^tlid^e, bebingt burd^
64
bie Siebe beö 58aters, bie ben beften unb TOürbigften
ber ©öl^ne erioäl^It unb jum ©rben einfefet Diefe
Sebingung ift bei feinem oorl^anben, ber SSater
felbft l^at fie auögelöfd^t, feine brei ©öl^ne waren
gleid^ gel^orfam, gleid^ roürbig, gteid^ geliebt; feinet
ift ber liebfte, feiner ber beporjugte ©rbe. 3lun
mad^t aud^ ber Sefifc, gleid^mel ob factifd^ ober
red^tlid^, nod^ nid^t ben (Stauben an bie Äraft
beö aiihgeö. D^ne bie (SeroiB^eit beö »efifeeö ifl
biefer Olaube nid^t ntöglid^, aber mit bem Sejt|
ift er nod^ feineöraegö gegeben. Unfere ©rjd^-
lung forbert bie 3wt)erfid^t in bie Äraft beö SKngeß
auöbrüdfüd^ alö eine Sebingung, bie ber ©rbfd^aft
l^injugefügt werben mujä. S" i^^^i gegebenen galt
ift biefe S3ebingung oemid^tet, fie ift auögetöfd^t
burd^ ben S3ruber}n)ift; roäl^renb man bie eigenen
Srüber grimmig oerfolgt unb jjeber bem anberen
ate aSerrätl^er gilt, afe ^xel^d^eibe beö 3omeß unb
ber SRad^gier : unter fotd^en Äain§ieid^en f ann man
unmöglid^ mit SvLvtx\iä)t glauben, im Sefife einer
Äraft ju fein, bie oor Oott unb 3Wenfd^en ange=
nel^m mad^t. lUe Sebingungen finb jerftört, bie
gemäfe unferer g^abel bie Äraft beö ©teinö in
fegenöreid^e SBirffamfeit bringen; ber Bwfianb ift,
65
me i\)n bcr Sfttd^ter fcnnjeid^net: „bic SRinge toirfen
tut }urü(f unb nid^t nad^ aufecn!"
5Rur eines bleibt bem SRid^ter übrig. S)ic
fd^led^ten Srüber, bie fid^ gegenfeitig anfeinben unb
oerHagen, waren gute Söfine. Sl^re 3linge finb
bie unjroeifell^aften 3^i^9^iff^ gleid^er päterlid^er
ßiebe, bie Belohnungen gleid^en finblid^en ®e]^or=
fameß. 2)iefer ®el)orfam roedte bie ^\xvex\iä)t unb
baß SBertrauen auf bie Äraft beö päterlid^en SftingeS.
58ermag ber ©laube bie Äraft ju entbinben^ fo
fann er il^r aud^ ju ^ilfe fommen unb pon fid()
auö burd^ fanftmütl^ige unb f riebfertige , buri^
menfd^enfreunblid^e unb gottergebene ©efinnung bie
Siebe ©otteö unb ber SRenfd^en erioerben: baö ift
bie pofitit)e ©ntfd^etbung, bie ber SRid^ter nid^t alo
©entenj, fonbern al§ SKat^ außfprid^t:
Mein 9lat^ ift aber bcr: t^r ne^mt
2)tc ©ac^e ööttiö, tote fic liegt. §at öon
@uc^ iebet feinen 9ling t)on feinem fBakx,
©0 glanbe iebet fielet feinen Ifting
3)cn ed^tcn. — Mb^liä^, ba^ ber SSater nnn
3)ie 2^^rannei be§ 6inen ^in^^ nic^t länger
3n feinem $aufe bulbcn hjottcn! — Unb gctoi^,
2)a6 er eudi aUt btei geliebt nnb gleich
©eliebt, inbem er jtoct nid^t brürfcn mögen,
« u n gf i f d^ c r, ©. e. Sefjlng. II. 5
66
Um einen ^u begünftigen. — äBol^Xan!
(&i etfre iebet feinet unbeftod^nen,
S^on S^otuttl^eilen fteien Siebe nad^!
(&fi fttebe toon eud^ iebet um hk SOßette,
^ie Ataft bed @teind in feinem Siing an %a^
3u legen ! jlomme biefer ^of t mit ©anftmutl^,
mit l^etalid^et SBettr&glid^feit; mit moUi^m,
Tili inniöfter Ergebenheit in ®ott
3u ^ülf!
®aö aScr^ältnife fe^rt fid^ um. ©ö ifi nid^t
mel^r bcr Stein, ber bie Äraft por ®ott unb
aWenfd^en angenehm ju mad^en bcfifet unb ju ©unftcn
bed gläubigen Sefifcerö ausübt, fonbern ber ©taube
ift eö, ber biefe Äraft erjeugt unb bem ©teine mit^
tl^eilt. D^ne biefen Olauben vertiert ber ed^te SRing
feine Äraft unb ift nur nod^ alt ; burd^ il^n werben
bie uned^ten SRinge in ed^te oerroanbelt unb mit ber
Äraft auögerüftet, bie ßiebe ©otteö unb ber 3Kenfd^en
ju gewinnen. 2)ie g^rüd^te biefeö ©laubenö reifen
langfam, benn fie road^fen am Sebenöbaume ber
3Wenfd^l^eit. aber ber Suftanb ber Steife wirb
fommen, unb an ben g^rüd^ten, bie fie tragen, wirb
man ben SBert^ ber ^Religionen unb bie SBir!famfeit
il^rer Äräfte erf ennen, benn bie.2)inge muffen offenbar
werben, um gerid^tet ju werben.
67
Unb toenn fid^ bann bet Steine ^t&fie
SBei cntxn ÄinbcSs^tnbeSftnbetn dugern:
@o iah iä) übet iaufenb taufet^ 3[a^te
@ie totebetum t)ox biefen Stülpt ^a toixh
(Sin toeifter SJlann auf bk]tm ©tu^Ie fi^en
%U i^, unb f:pted^en. ©e'^t! — @o fogte bcr
SBcfd^eibne 9lid^tet.
5« §tx btf^tfhent mh htx mtiftxt $tit)[tier.
Slvui^ bicfc .$Bortc fönntcn rätfifel^aft fd^einen.
tnn bie ©ad^c entfd^ieben rocrbcn fann, iji fein
ceit mcl^r ; loenn bie SBclt jenen Bwftßnb rettgiöfer
ife unb (Sefittung erreid^t l^aben wirb, ben unfer
^ter üerfünbet, bann ^aben bie ^Parteien pon felbft
gel^ört, [id^ ju befämpfen. @ö gibt feine Kläger
jr. 3Ba§ foH nod^ ber Sftid^ter unb fein gorum?
b worin fott jener fünftige Slid^ter, ber im Orunbe
ler me^r ift, weif er fein aU ber gegenwärtige,
feiner fein roiH unb nur feinen "Statf) ftatt f eine^^
•
rud^ö gibt? 3e^t, mitten im ©treit ber SReti-
txen, ift eine rid^terlid^e ©ntfd^eibung nid^t möglid^ ;
^ Sa^rtaufenben religiöfer ^ortbilbung wirb fie
)t me\)x notfiroenbig fein. 2)er 3Kd^ter, ben unfere
)et reben läjgt, fennt baö Urtl^eil beö roeiferen
mneö, ber erfd^einen wirb, wmn bie Seiten er?
t finb, aber er roitt bem 3lu§fprud^e beffelben
68
nU^ vorgreifen, ha bie 3^ ^o^ nid^, no^ lange
nid^t erfüHt tfi. 3)arum nennt i^n Sefjxng ^ben
befd^eibenen Snd^ter". SBaö tmrb ber rociferc
jagen? 6r wirb baö ©rgebnife ouöfpred^en, ben
3ufianb uerfünben, ben So^rtaufenbe einer fegcns^
reid^en SBirffamfeit ber Sleligionen gejeittgt ^aben.
SHefe fegenöreid^e JBSirffamfeit, bem Statte be§ be^
fd^eibenen 3Kd^terö gemäfe, xoax bie 6r jie^ung be§
3Kenfd^cngefd^led^tö, il^r HRittel ber ererbte
&lanbe, bie geoffenbarten, pofttioen, nad^ bem ©ange
beö SBöIf erlebend oerf d^iebenen Sieligionen, uergleid^bar
bem SHng unb ben 9Kngen. 2)ie reife 3^rud^t ifl
bie (Sinftdöt, bafe bie l^eilbringenbe ftraft nid^t bem
Sling ober bem ©tein inmofint, meber bem SRufier-
ring nod^ feinen SRad^bilbem, fonbem ber Selbji^
oerleugnung unb junel^menben Säuterung beö menfd^
lid^en ^erjens ; bafe nid^t ber 3Kng ober ber ©tein,
fonbem nur bie Steinzeit be§ JBSiUenö unb bie auf-
opferungsfreubige 2^^at bie Siebe (Sotteö unb ber
3Kenfd^en oerbient unb enoirbt. 3)ie pofttioen Sie^
ligionen finb bie ber S8erl^ei§ungen, fie forbem,
jebe in il^rer 2lrt unb gemäfe il^rer ©rjieljungöftufe,
ein geringeres ober l^öl^ereö SRafe menfd^Iid^er
Säuterung unb ©elbftüberroinbung: fie oerfpred^en
69
bafür ben ©d^afe, ben jeittid^cn ober cioigen ßol^n,
bic göttlid^e 5ßrämie. 35aö geläuterte ^erj, bie
%nx^t ber ftttlid^en 2lrbett unb aBittensumioanblung,
trägt feinen ßol^n in ftd^ felbfi unb bebarf feines
anberen, benn ber lefete SReft eigennüfciger ©elbjis
liebe ifi getilgt. @ö uerl^ält fid^ mit ben religiöfen
aSerl^ei^ungen, bie in unferer gabel finnbilblid^ burd^
bie Slinge perbürgt werben^ wie in einer anberen
gabel mit bem ©d^a| im SBeinberge, ben ber SBater
ben ©öl^nen perfprad^^ wenn fie fleißig fud^en unb
nad^graben würben; fie erfüllen biefe 35ebingung
unb finben ben perfprod^enen ©d^a^, nid^t ha ober
bort, fonbern in ber guten ®mte, ber grud^t il^rer
Slrbeit. Sefet oerftel^en fie, roaö ber 58ater unter
bem ©d^afce gemeint \)at: er wollte aus feinen
<Bö^nm nid^t ©d^afcgräber mad^en, fonbern tüd^tige
Arbeiter.
3)er roeifere SRid^ter fagt, raaö ber befd^eibene
benft, aber nid^t auöfprid^t, weil il^n bie ftreitenben
33rüber nid^t oerftel^en würben; fie foHen nur be?
J^erjigen, roaö er il^nen ratl^: oertraut euren
Slingen au^ ber ^anb beö 58aterö! ©eib gute
Srüber, me \f)x gute ©öl^ne wäret! aWit ben
Slingen jugleid^ möge ber oätertid^e ©eift unb mit
70
i^m bie toal^rl^aft brüberlid^e ©efinnung forterben
von ©efd^Ied^t ju ©efd^Ied^t. ^olgt betn SSorbilbe
beö 58aterd! „SBol^Ian! eö eifre jeber feiner m-
befiod^enen, pon SBorurtl^ilen freien Siebe nad^!
6d ftrebe pon eud^ jeber um bie SBette, bie Jlraft
beö ©teinö in feinem SÄing an Xa^ ju legen!*
^atin fommt ber ^ag, ber entl^ütten mirb, roa§
bie Sftinge bebeuten!
©er roeifere SRid^ter entläßt eö unb löfl boö
©eJ^eimniJB, er mad^t ben S^^^b offenfunbig, worin
bie friebfertigen unb guten 83rüber fd^on längft leben,
unb ber fid^ üon ©efd^Ied^ ju ©efd^led^t immer
tiefer, umfajfenber, fefter entroirfelt f)at Um il^n
ju erl^alten, bebarf eö jefet feiner Siinge
mel^r, fie finb entbefirlid^ geworben. 9!)ie
t)öttige 3lufflärung ift mit ,,berjßnigen SReinl^eit beö
ißerjenö gegeben, bie unö bie 5Cugenb um il^rer
felbft toiHen ju Heben fä^ig mad^t". „3)ie ©rjiel^ung
i)at i\)x 3ißl"- „aSaö erjogen wirb, mirb ju ©ttoaö
erjogen". 2)er befd^eibene SRid^ter rebet ate ©r-
jiel^er im aSorblid auf bie reifenben grüc^te; bet
meifere barf baö (Srgebnife auöfpred^en im ißinblid
auf bie gereiften, benn er fielet ben geläuterten
aSeltjuftanb t)or pd^.
71
VII.
<^cßn%^ ^etf^attm {n hm po^inm ^etinionm.
Sluö ber eingcl^cnben Setrad^tung beö Urfprungd
unb ber Umbllbung unfercr Parabel erließt beren
Sinn ol^ne alle fünftlid^e 2)eutelei, unb ber ©d^ein
eiheö SRät^felö perfd^roinbet. S^gleid^ finb bamtt
gemjfe ©inroürfe roiberlegt, bie in jflngfter Qeii
mit ntel^r Äedfl^eit alö ©d^arffinn [id^ geltenb gemad^t
unb ßeffings grabet nid^t blo§ für rät^feli^aft, fon=
bern für finnloö unb ungereimt er!lärt l^aben, für
ein t)erit)orreneö ©emifdf) aus ©tauben unb Qmti^d,
Drtl^oboEie unb g^reigeifterei, bargeftettt in Silbern,
bie t^eite fd^ief unb l^infenb, tl^eilö leer unb ol^ne
reale Sebeutung feien*). SEBenn man ben 5Ring
mit ber Äraft, bie burd^ ben ©lauben wirft, für
ein ©pmbol ber lutl^erifd^en SRed^tfertigungöle^re,
ben SWd^ter für ben SRepräfentanten ber ffeptifd^en
Slufflarung, ben SSater für ben lieben ®ott l^ält
unb über bie ^Realität beö @olbfd^mieb§ fid^ ben
Äopf umfonft jerbrid^t, mufe einem bie Parabel
♦) fHiä^axh Ttat)x: »ettrööe 8Ut «cutt^cUung ®. (5. ßcf=
fltifi«. (2Qßien 1880). <S. 4-36.
72
confuö crfd^eincn. 9hir liegt bic ©d^ulb nid^t im
S)id^ter, fonbern im ©rflärer. Unb ber ©runb-
irrtl^um beö (enteren befielet barin, bafe er fid& eim
bttbet, ber 3Hng mit ber Äraft l^abe in unferer
^abel einen character indelebilis, roaö mit bem
Sinn unb ben SBorten beö 35ici^terö ftreitet.
aWan f)at Seffing ben 58orn)urf gemacht, ba§
feine Urtl^eile über bie pofitipen ^Religionen fi(|
lüiberfpred^en, bafe er jefet in ber SBürbigung ber-
felben alß ein ©egner ber 2lufHärung, jjefet in ber
aSenoerfung alö ein gütirer beö Unglaubens erfd^eine.
@r war feines t)on beiben, er war, wie Berber
treffenb gefagt, fein greibenfer naä) bem ©efd^made
beö 3^i^ött^^^/ fonbern ein SRed^tbenf er , ber ben
©tanbpunft beö befd^eibenen Siid^terö fel^r mol^l mit
bem beö roeiferen ju vereinigen raupte, ^anbelt
eö fid^ um ben (Sang ber 3Kenf (^enerjiel^ung , fo
erfennt Seffing ben SBertl^ unb bie Sebeutung ber
pofitipen ^Religionen im pottften SKafee ; blidEt er auf
ben aSeg, ben ba§ SKenfd^engefd^led^t no(^ por fid^
^at, fo erfennt er bie SRotl^roenbigfeit i^rer g^ort-
bauer unb ben religiöfen SBeltmäc^ten gegenüber
bie Dl^nmad^t einer menf d^enunfunbigen Slufflärerei ;
auö bem ©efid^töpunft beö l^öd^ften S^eU^ erfd^einen
73
ite il^m afe an^QeUite enormen unb ungültig ge-
worbene SBertl^e. 9lte @r}iel^ungdtnittet finb fte
notl^toenbig unb bered^tigt, alö gefd^id^tlid^e SBolfö=
religionen „gteid^ roaf)x unb gleid^ ^olW\ afe ®nU
loidE lungöftuf en von nieberent unb l^öl^erem 3QBal^r]^eitö=
gel^alt, als bloö äufeerüd^e ©laubenöformen roert^loö.
Diefe Slnfd^auungen l^ängen genau juf ammeu unb UU
ben nur uerfd^iebene ©eiten einer unb berfetben SBai^rs
l^eit. Um ü^re l^arntonifd^e SBereinigung in einem 6]^a=
rafter barjuftetten, bid^tete Seffing Slatl^an ben SEBeifen.
3)ief eö ©ebid^t foHte feine ©d^ufef d^rift für bie vex^
nünftigen SBere^rer Ootteß fein. „SEBenn man fagen
wirb , bief eö ©tüdE tel^re , bafe e§ nid^t erft von
geftem l^er unter atterlei aSoIf Seute gegeben, bie
fid^ über atte geoffenbarte SReligion l^inmeggefefet
Ratten unb bod^ gute Seute geioefen wären; wenn
man {jinjufügen wirb, bafe ganj fid^tbar meine Abs
fld^t gemefen fei, bergleid^en Seute in einem weniger
abfd^eulid^en Sid^te oorsufteßen, ate in weld^em ber
d^riftUd^e 5pöbel fie gemeiniglid^ erblidft, fo werbe
id^ nid^t oiet bagegen einjuwenben liaben." ®r
Witt bie ©egner ber geoffenbarten SReligion unter
ben ©d^uß feiner ©ic^tung nel^men, ol^ne felbft ein
folc^er ©egner ju fein. „35enn beibe§ fann aud^
74
ein 3Renfd^ leieren unb }ur Xbftci^t l^aben tooDeti;
ber nid^t jebe geoffenbarte Sleligion, m^t jebe gatt}
üerroirft". Offenbar badete Sefpng an 3leiniaru§,
t)on beffen ©tanbpunft gänjHd^er SSerroerfung er
ben feinigen aud^ an biefer ©tette unterfd^ieben
toiffen u)offte. ©eine Sejal^ung ber poptit)en SReligion
ift in i^rer Art ebenfo aufrid^tig unb ungel^ud^clt,
ate bie Slrt feiner SBerneinung offen unb furd^tloß.
„SDlid^ ate einen fold^en" (ber bie geoffenbarten
^Religionen nid^t oertoirft) „ju ftetten, bin id^ ni^t
oerfd^Iagen genug, bod^ breifi genug, mid^ als einen
fold^en nid^t ju t)erftellen". 2)iefe fei^r d^arafterijHfd^c
unb mit epigramntatifd^er ©d^ärfe gefaxte ©rttärung
finbet fid^ in bem ©ntrourf einer nad^gelaffenen
58orrebe jum SRatl^an, bie nrit ben SBorten fd^liejst:
,,9lod^ fenne id^ feinen Ort in 2)eutfd^Ianb, too biefed
©tüdE fd^on jefet aufgefül^rt n)erben fönnte. aber
^eil unb &IM bem, wo eö juerfi aufgefül^rt loirb."
$iinliiun0 mh Ctritriiktere.
I.
SBaö in ber 5ßara6cl, bic wir fcnncn gelernt
l^oben, in fernfter B^^^^ft erfd^eint: bie SBieber^
t)ereini9un9 ber aJlenf(ä^l^eit ate g^rud^t il^rer reli-
giöfen ©rjiel^ung unb SReife, will un§ bie 2)id^tung
in bem Umfange einer gamilie oergegenwärtigen,
worin fi(ä^ geläuterte 6l^ara!tere ber brei einanber
feinblid^en ^Religionen nad^ langer 5Crennung ju=
fammenflnben. ©al^er mu^te eine ©efd^id^te er^
funben werben, bie eine fold^e aSereinigung oon
3ube, ei^rift unb 3KufeImann l^erfteifül^rt. 2)iefe
©efd^id^te ift nad^ Seffings ©rflftrung ,,bie inter-
effante ©pifobe", bie er ju ber gabel oon ben brei
SRingen erfonnen. ©o entl^ält bie tefetere nid^t
78
bloö bie 3bce bcr gefammten SJid^tung, fonbern
au(ä^ bcn Äeim ju ben Scgcftenl^citen , tocU^c bie
g^aftel be§ ©tücfs im weiteren ©inn auömad^en.
®ie ®rö§e ber moralifd^en Äraft mi§t jtd^ buri^
bie ©rö^e beö 3Biberftanbeö , ben fie finbet unb
ftefiegt. 3« einer ^tit, wo bie SBelt t)om ©laubenö^
l^a§ lebt unb aSöIferfriege fül^rt um bcö ©lauben«
willen, fann bie eiä^te 2)ulbung, bie lautere, auf
©elbftoerleugung gegrünbete 3Jienfd^enIicbe am el^e^
ften, roeil am f (ä^werften , erprobt merbcn, unb fie
wirb gerabe in fold^en 3^ten fi(ä^ in einjelnen
feltenen 6l^ara!teren erzeugen. ®d trifft fid^ barum
gut, baj5 ben ©(ä^auplafe unferer ©efd^id^te bie
Äreujjüge bilben, unb jwar in einem für ben
Srotä ber ®i(ä^tung boppelt günftigen 3^w"ft-
SBSenn bie ©laubenöleibenfd^aften mit ungemöl^nUd^er
ioeftigfeit angefpannt werben, fo ift eö eine natür-
lid^e unb nie auöbleibenbe g^olge, ba§ fie crfd^laffen
unb an bie ©teile ber erregteften Unbulbfamfeit
allmäl^Iid^ jene bequeme ©ulbung tritt, meldte bie
@laubenöt)erf(ä^iebenl^eiten anfängt ju neutralifiren.
älud^ biefer gegenüber l^at fid^ bie ed^te S)ulbung
ju erproben. Um bie Qät beö merten Äreu^ugö
gibt es fd^on einige bebeutfame S^^^^^^ i>ö§ wtit ben
79
Slaubenöleibienf(j^aftcn aud^ bic ©laubenöintcrcffen
xbnci^mcn unb bic Unterfiä^lebc ber ^Religionen in
nnigen glätten faum mel^r ein entfd^eibenbeö ®evoxä)t
joben. ©in Stemplet gel^t ju Salabin über, ein
j^riftli(j^er Äönig f(ä^lägt einen 3KufeImann, ber ein
ißetter be§ ©ultanö ift, jum SHtter, felbft eine
ißerfd^roägerung ift im 3Berte jroifd^en ©alabin unb
Jti^axh 2övDtrif)exi. ®ö ift bie ^eit, in weld^er auf
oer mol^ammebanif(j^en unb jübifiä^en ©eite bie Sit
)ung fo i)oä) fielet, bafe il^re 5ßl^iIofopl^en bie Seigrer
)er d^riftliiä^en 2^l^eologen in 3lü(ffi(ä^t beö 3lriftoteIeS
t)erben fönnen unb bie d^riftlid^e Silbung fel^r balb
)iefem ©inffuffe nad^gibt unb gel^ord^t.
Ueberl^aupt bilben unb etjeugen bie Äreujjüge
»ine große Ärifiö in ber ©laubenöoerfaffung ber
j^riftli(ä^en SBelt. ©ie wirfen auf bie religiöfen
äeibenfd^aften entjünbenb, abftumpf enb , reinigenb.
^i)xe fiauptwirfung fielet mit il^rem §auptmotit)
n einem fe^r bemerfbaren Sffiiberftreit. 3lu§ finn«
[id^er ©laubensfel^nfud^t finb fie l^eroorgegangen,
unb naä)hem fie biefe ©el^nfud^t geftillt, mußten
ie in einer jener großen unb frud^tbaren (BnU
äufd^ungen enben, bie man nie ju tl^euer erlauft,
oeil fie uns innerliiä^ ..bereid^ern. 2)er ©egenfafe
80
felbft jroifd^en bcr Sel^nfuiä^t jeneö 3^talterö unb
il^rer ©rfüllung lä^t fid^ mit einem einfad^en SBorte
exUu^ten: was bie Äreujfal^rer gefud^t l^aften, um
eö ju erobern, war baö ®rab ßl^rifti, unb was
fie gefunben, erobert unb roieber verloren ^aUn,
roax — ein ®rab! ©ie l^aben bie ©ntbedfung
gemad^t, ba§ baö @rab leer ift, unb fo mufete fwi^
burd^ bie ©rfal^rung biefer Reiten von neuem in
ber d^riftlid^en 3BeIt baö SBort t)om ©amariter-
brunnen erfüllen: ,,®ott ift ein ©eift unb bie i|n
anbeten, muffen il^n im ©eift unb in ber SJBal^r^cit
anbeten/' 9Kan fann von biefer großen J^ragöbic
fagen, ba§ fie bie ©laubensleibenfd^aften burd^ bie
pd^fte (Srregung jugleid^ gereinigt l^abe unb in
biefem ©inn, um einen 9lu§brudf beö Slriftoteleö ju
braud^en, eine mirfttd^e Äatl^arfid erjeugte.
2)urd^ feine Duelle felbft f anb fid^ Seffing l^im
gemiefen auf bie 3^^ imb 5ßerfon ©alabins, ber
gegen ba§ ®nbe beö jroölften '^a^t^unbext^, in ben
Salären 1187—1193, ^err t)on ^^rufalem toar.
Uebrigenö ift baö ©tüdf in betreff ber Batoer^olt^
niffe feineöroegö l^iftorifd^ unb mitt es nid^t fein;
bie d^ronologifd^en 3Biberfprüd^e, bie barin oor^
fommen unb bie Seffing ju rtermeiben gar ni<ä^t bie
81
Slbfi(^t l^atte, • erlauben nxä)t, baö ^^^i^ ber ^anbs
lung genau ju be[timmen*).
2)ie gamiliengefd^iij^te, bie Seffing ju ber ggbel
von ben brei 5Ungen erfinbet, fpielt in bem ^aufe
©alabins felbft. ®in jüngerer ©ruber be§ ©ultanö,
mit Flamen 9lffab, l^at vox ^af)xen feine gamilie
nnb feinen ©lauten uerlaffen; am Siebe ju einer
€l^riftin ift er felbft l^eimli(3^. ßl^rift geworben unb
f)at in ®eutf(3^lanb , bem Sßaterlanbe feiner grau,
unter bem 5Ramen 3BoIf von g^ilned einige Saläre
gelebt. S)a§ raul^e Rlima vertreibt il^n unb beibe
leieren in ba§ SJiorgenlanb jurüd; 3lffab nimmt
*) 3)a§ ©tü(f fe^t t)otou§; ha^ bct Söoffcnftiaftanb
3tDifd^en ©olobin unb ^iäjaxh Sötoen'^cr^ bot Äut^cm ab^
^laufen ift, bann toütbc bic ^anblung gegen @nbc be8
Sol^xeg 1192 ftottfinben; ober au bicfet geit toat W^^P
^uguft t)on i^xantxti^ nid^t mt^x in ^Palöfttna antocfcnb,
toaä naä) htm SBticfc ht^ ^^ottiard^cn bet Qfatt fein müßte.
3)icfc§ 3)atum ^aßt nut auf ba§ botl^ctgcl^cnbc 3ol^t. Slud^
muß 3)oia offcuBat öiel langete 3cit im §aufc 5^otl^an3
gelebt "^aben, aU fi(^ nad^ ben 3citongaben beS ©tüdS
beted^nen läßt; nad^ biefen toürbe Re etft 1189 na(3^ $oIäftina
unb tool^l erft xiaä) htm %obt i^xz^ 3Ranne8, ber mit Äaifet
gfticbtid^ etttinit; alfo um hie 9Jlitte be§ Sa^'^cS 1190, in
bag ^aug ^lat^anS gefommen feilt.
Äuno gfifd^cr, ®. (5. Selilng. II. 6
82
an ben Äämpfen ber (ä^riftli(ä^en SRitter 2^l^eil, Dcr-
tl^cibigt mit il^nen (Ba^a unb fällt bei 2l§calon.
6r . f)at in ® cutf (ä^lanb einen ©ol^n jurüd gelaffen,
ben fein mütterlid^er Dl^eim ßonrab t)on ©taufen,
ein S^empell^err, erjiel^t, unb in ^ßaläJHna eine
2^o(3^ter, bie er nacä^ bem 5Cobe feiner g^rau einem
feiner uertrauteften y^reunbe übergibt, eben bamafe,
ate er fid^ na($ ®aja werfen mujste, unb *bie mi)
bem 2^obe il^reö SSaterS biefem greunbe alö ^pffege-
finb jurüdbleibt. tiefer g^reunb 3lffabö, biefer
^Pflegeoater 9ie(ä^a§ ift ber 3ube 3lat^an in Sern-
falem. ©o macä^fen bie ©efd^mifter fem oon ein-
anber auf, ber Sruber in ®eutf(ä^Ianb bei einem
S^empell^errn, bie ©(ä^mefter in 3erufalem bei einem
Suben. SBeibe miffen ni(3^tö von einanber, nid^tä
von il^rer Slbfunft. 3n ber ^ßerfon Slffabö freujen
fi(3^ fd^on bie brei ^Religionen: er ift SUlufelmann
von ©eburt unb ßl^rift inxä) 33efel^rung, ber Sruber
©alabinö, ber aJlann einer ßl^riftin, ber g^reunb
eineö 3uben. ®ie ©efd^mifter jufammenjufül^ren
unb mit ©alabin unb 5Ratf)an ju einer fjamiüe
ju Dereinigen, ift ba§ 3i^tr worauf Seffing bie oon
ilim erfunbene' @e^ä)i^te anlegt ®r lä^t ben
Sruber ate S^empelfiertn nad^ ^paläftina fommen.
83
gegen ©atabin fämpfen, gefangen unb in bem 2lugen=
blid t)or feiner ^inrid^tung t)on bem ©ultan be^
gnabigt werben, weil biefen in ben ©efid^töjügen
beö 2^empelf)errn eine plö^Iid^ entbecfte 3lel^nlid^feit
mit bem verlorenen 33ruber ergreift unb rül^rt.
©in S^^dü füf)rt ben 2^empell^errn vorbei, afe
5Ratl^anö Qan^ in %e\iex ftel)t unb 3?ed^a fd^on in
ber äu^erften ®efal)r ju verbrennen f(^n)ebt. ®er
S^empell^err rettet baö 9Jläbd^en, aber allen Sitten,
il^r^n ®anf fi(^ gefallen ju laffen, bleibt er ver-
fd^loffen unb l)art roeift er jebeö SKnfinnen biefer
Slrt jurüd. ©eine Subenverad^tung ift ebenfo ent=
f(^ieben ate feine 2^obeöoerad^tung. ®o(^ wie er
enblid^, von 3latl^an gewonnen, baö aJläbd^en fielet,
ba§ er gerettet, fo entjünbet ber erfte 2lnblidE in
feinem ^erjen eine unroiberftel^lid^e Seibenfd^aft für
SRed^a. ®inen 3lugenblidE fönnte man fürchten, bajg
fid^ je^t ber X^empler unb bie S^bin in ©cene
fefeen. 2lber 3latl^an l)at f(^on biefelbe 3lel^nlid^feit
cntbedft, meldte ben ©ultan betroffen gemad^t l^at;
er al^nt ben 3wf^tnmenl)ang, vorfii^tig lel^nt er bie
ungeftüme Bewerbung be§ 2^empell)errn ab, forg=
fältig forfd^t er feiner 9lb!unft nad^, unb eö gelingt
feiner 33efonnenl)eit, ben Änoten glüdEli(^ ju löfen.
84
S)icö ifi in fut^en 3^9^^ ^i^ ®cf(ä^^te, bie
ßeffing für feinen 3^^* erbad^t l^at, unb bie ^
ni(ä^t ol^ne SJiängel in bie gorm einer bramatifii^en
^anblung bringen liejs. SBeld^er Unterf(3^ieb in
biefer SRüdffid^t jwifd^en ber ®milia ©alotti unb
3lat\)an bem SBeifcn! SBie ftraff ift bort ber bro-
ntatifd^e gaben gefpannt, wie fidler unb unauf-
l^altfam t)erläuft ber natürttd^e g^IuB ber Segeben^
l^fiten, me ift jeber 3^9 toal^rl^aft bramatifd^ mo-
tit)irt! dagegen l^ier, wie lofe unb fünftlid^ fxnb
bie einzelnen gäben oerfnüpft, bie fi(^ in baö
©eroebe ber ^anblung t)erf(3^Iingen ! S)ie SBegeben-
l^eiten l^ängen mit ben ßl^arafteren nid^t immer
genau unb unter einanber oft nur epifobifd^ ju^
fammen.
@ö gibt für ben bramatifd^en 35id^ter faum
ctmaö, baö weniger d^arafteriftifd^ ift, afe bie Sielen-
lid^feit jmeier ©efid^ter, bie burd^ feine 9lrt ber
^anblung, burd^ fein poetifd^e§ 9JlitteI einleud^tenb
gemad^t werben fann. 2)ie§ mujste ber aSerfaffer
beö Saofoon fel^r mol^t. Unb bod^ benufet er biefeö
3Kotit) in feinem SRatl^an jmeimal, nid^t als ein
beiläufiges, fonbem als ein mirffames unb ent^
fd^eibenbes aJloment. ©in ®lüdE, bafe ber Stempet
85
l^crr feinem aSater fo äl^nli(ä^ fief)t! ©in ©lücf,
ba§ ber ©ultan nod^ im legten Slugenblid biefe
2lel^nli(ä^feit erfennt, fonft mar ber S^empellierr rer^
loren unb dieä)a märe verbrannt! ©in ®Iü(f, bafe
5Ratl^an bei 3^^^« biefelbe 3lel^ttli(^feit entbedft,
fonft l^ätte nid^t blo§ ber S^empler bie Sübin, fon-
bem ber SBruber bie ©d^mefter frifd^meg jum SEBeibe
genommen! ©o f)ängt an ben ®efi(3^t§jügen beö
2^empelf)errn jule^t bie ganje ®efd^i(^te; fo ober^
fläd^lid^ im bud^ftäbli(3^en ©inne beö aBorte§ bürfen
bramatif(3^e 9Jiotioe nid^t fein. 2)iefer Swfammen-
l^ang jmifd^en ber ©efid^töbilbung beö S^empellierm,
ber Segnabigung ©alabin§, ber SRettung 3?ed^a&
ift gemi^ fel^r geeignet, um liier eine SReifie natür-
lid^er 33egebenl^eiten imSid^te einer munberbaren
gügung erfd^einen ju laffen «nb barin bie SEBege
ber göttlid^en Sßorfel^ung ju bemunbern ; nur fd^abe^
ba^ bie Äunft beö bramatifd^en ®id^ter§ in ber
aSerfettung ber Segebenl^eiten, bie fie bilbet, nid^t
benfelben ©tauben beanfpru(^en barf, afö bie SSor:^
fel^ung ©otteö.
2Bäre Seffingö 3lat^an nid^tö afe ein f^amiliens
brama, märe biefe gamiliengefd^id^te bie ^auptfad^e
ber ©id^tung, fo märe bie ßompofition an mel^r
86
afe einer ©teffe oerfe^It. SKber bie ©efd^id^te ift
l^ier nur 3JiitteI, toeld^eö Seffing im ©ienfte feinet
3bee hxauäjt unb biefer gemä^ ftel^anbelt, auf bie
©efal^r l^in, baj5 felbfi toiberfpred^enbe Sw W^
SBorfd^ein fommen. 3(3^ toill mid^ an einem Sei-
fpiele hmüiä) mad^en. "^üx bie 3bee beö ©tütfö
unb bie ©ntroidflung ber ßl^araftere, namentlid^ für
bie beö ^auptd^arafterö finb unter anbem Sögen
jwei burd^auö erf orberlid^ : ber 6ngelglau6e SRed^oö
unb bie ©d^roffl^eit, womit ber S^empell^err bie
3übin jurüdCmeift. 9l6er mie foH id^ biefe beiben
Büge mit einanber vereinigen? 3d^ laffe mir
ben ©ngelglauben SRed^aö gefallen, menn ber 2^em^
pell^err, ber fie rettet, plöfelid^ erfd^eint unb plöfe-
lid^ t)erf(^n)inbet. 2l6er er fommt mieber; 3iti)a
fielet il^n eine B^W^ng tägtid^ unter ben $ßalmen
beö ®rabe§, fie erfäl^rt, mie fd^nöbe er il^re Sotiii
mel^r afe einmal bel^anbelt, unb nun möd^te e§
fd^roer unb mel^r afe ©d^roärmerei fein, nad^ fold^en
Semeifen ber aJlenfd^Iid^feit ben meinen aWantet nod^
für einen gittid^ ju fialten! 2)iefe beiben 3^8^
fliegen nid^t von felbft auö ber ©efd^id^te, fonbem
werben in bie lefetere eingefül^rt, meil bie 3bee fie
forbert. 5Ratl^an foll 3led^a§ SBunberglauben be-
87
rid^tigen unb läutern; ba§ religiös erjielienbe ©e-
fpräd^, ba§ biefen S^eä erreid^t, ift für bic ^ax^
ftettung beiber 6f)araftere burd^auö bcbeiitfam «nb
für bie 3i>ee ber ©id^tung bur($au§ unentbel^rUd^.
Unb eben fo «nentbel^rlid^ flnb barin jene belel^renben
unb ergreif enben Sffiorte SRatl^anö, bie dit^a auf
il^re eigene fo wunberbar gefügte Siettung l^in^
n)eif en :
eine Sinic,
@tn SBtt(j; ein Söinlcl, eine Sfalf, ein 3RoI;
@tn ^Flid^tS, ouf cittcS toUbcn (^üxopütx^
^cftd^t: — unb hn entfommft htm Sfcu't, in 3lflcn!
3)a8 toöt» fein Söunbct, tounbctfü(3^rge§ fQoltl
35arum mufete ber S^if^^wtw^^^^^^ng ber Segebem
l^eiten, au§ bem 9ie(^aö -Rettung l^eroorgef)t, loder
genug gefügt fein, bamit bie göttliche aSorfel^ung
burd^fd^eine. Seffing brandete ein foI(^e§ SBunber
für ben religiöfen ^roed feiner ©i^tung, um e§
in jenem ©efpräd^ f o roirff am ju t)ern)ertl^en ; aber
id^ glaube f(^n)erti(^, ba§ er e§ in feiner ®rama=
turgie empfof)len l^aben würbe.
©ollte id^ bie 6f)araftere beö StüdC§ lebiglid^
nad^ il^ren ^anblungen beurtfieilen , fo würbe id^
fragen: voo roax SRatl^anö 3Wenf(^enfenntniB unb
88
pöbagogifd^c Sffieiöl^eit, aU er bic ®aj|a ju 9ie(i^a§
®cfellf(ä^aftcrtn maiä^te? Unb toic fonnte ber weit-
fluge 5ßatriard^ bcn elirlid^en Sonafibeö }u feinem
©pion braud^en?
yixä)t bie ^anblung, fonbern bie 3bee ift im
5Ratl^an bie ^auptfad^e; nid^t aM jener, fonbern
auö biefer wollen bie (Sl^araftere be§ ©tücfö erflart
fein, g^reilid^ foll im eigentlid^en S)rama bie S^nb^
lung ober, wie 2lriftoteIe§ gefagt l^atte, ber 3Rr|t^u^
bie ^anptfad^e anömad^en. 2lu(ä^ war, wie mir
nfiffen, Seffing barin ganj einoerftanben mit 3lri-
ftotete§ ; er fannte bie 9KängeI feiner ©id^tung fel^r
gut unb bejeid^nete beöl^alb ben SRatl^an nid^t afe
eigentliches ®rama ober ©d^aufpiel, fonbern afö
,,ein bramatifd^eö ©ebid^t" unb bie Segebenl^eit oi^
„ßpifobe".
II.
|>te treßgiSfe IgSotivüiiiig betr ^^ataUext.
@ö ift leidet ju feigen, ba§ ber ©runbgebanfe
beö ©tüdEs ben ©id^ter aud^ in ber SBal^l unb
SRid^tung feiner ßl^araftere beftimmt liat, bafe bie
festeren an^ bem ®efi(^tspunfte jener 3bee, bie in
89
ber ^Parabel oon bcn ^Ringen au§gefprod^en xoax,
betrachtet unb geroürbigt fein toollen. Snbeffen ift
eö niä)t eben fo Uiä)t, bie ©ad^e rii^tig ju fet)en
unb tiefer ju f äffen, alö fie geroöfinlid^ uorgefteHt
wirb. SRamentIi(^ in jroei .^punften ^at man bie
S3en)eggrünbe, vod^e ben ®i(^ter^ in ber ©eftaltung
ber ei^araftere geleitet l^aben, burd^ eine ju ober^
^ää)iiä)t unb enge 3lnfi(3^t üerunftaltet unb baburd^
falfd^e aJleinungen über baö ©tüd verbreitet.
6ö ift feineöroegö jutreffenb, baj5 in ben &i)axah
teren unferer ^id^tung bie brei ^Religionen perfoni^
ficirt finb ober fein wollen: im 5Ratl)an baö
Subentl^um, im ^ßatriard^en , ber ®aja, bem
S^empell^errn unb bem Älofterbruber baö 6f)riften=
tl^um, in ©alabin, ©ittal^ unb SlU^afi ber 3§lam.
©d^on wegen il^rer UnDoHftänbigfeit ftimmt bie
SRed^nung nid^t. SEBo bleibt SRed^a? Unb Süt^afi
mit feiner SSorliebe für bie 5parfen, mit feiner
©el^nfui^t nad^ ben ßel)rern am ®ange§ ift fd^roer^
lid^ ein bem Sölam gemäßer ^t)pu§. 'S^aiii fom^
men eine SReil^e anberer innerer ©rünbe, bie id^
fpäter erleud^ten werbe, um ju jeigen, wie wenig
Seffing baran gebadet f)at, in feinem 5Ratf)an nn^
©jemplare ber brei ^Religionen t)orjufül^ren. ^a^
90
mit fäHt oon felbft eine jroeite lanbläufige 3lnfi(i^t,
bie man gegen ben S)i(i^ter gefeiert unb mit bet
^artnädfigfeit eine« gepflegten SSorurtl^eite meber^
l^olt l^at, fie ift jener Slnfd^ulbigung äl^nlid^, gegen
meldte Seffing einft ben ßarbanuö l^atte retten
rooHen: eö l^eifet, er l^abe ba§ ßl^riftentl^um augen^
fd^einlid^ l^erabgemürbigt , ba ber befte &)axattn
feines ©tüdfeö ben jübifd^en, ber fd^led^tefte ben
d^riftlid^en ©tauben oertrete.
2)ie ßl^araftere im Jlatl^an finb religiöö motioirt,
aber nid^t fo, bafe fie nad^ jener feid^ten, vex^e^ßm
unb DöHig unpoetifd^en Sluffaffung bie brei formen
be§ monotl^eiftif d^en®taubenö unb beren ©d^attirungen
in einer bem ßl^riftentl^um feinblid^en 2lbfid^t ejem^
pliflciren, fonbern fo, ba§ fie ba§ SBefen ber Sieligion,
bie menfd^tid^e Statur berfelben in il^rem maleren
3lu§brudf, mie in ben Bügen, bie fie entfteHen unb
trüben, uerförpem foHen. SBie bie platonifd^en
Urbilber in ber ©innenmelt, fo mirb baö SBefen
ber SReligion in ber gefd^id&tlid^en SJlenfd^enroelt,
in ber ©rfd^einung ber aSoHöreligionen , in bem
bunten ©toff menfd^Iid^er Silbungö- unb ©t^iel^ungß^
juftänbe in mannid^faltigfter 2Beife getrübt, ja ber^
geftalt oerbunfelt, bafe oft nur bie äußeren 3^id^^^
91
übrig bleiben: ber SRing am ginger als S^aliöman
unb ©d^auftüdf, über bejjen ©eltung man fireitet.
®ö l^anbelt fid^ um ben Unterfd^ieb jwifd^en ed^tem
unb uned^tem ©tauben, SBefen unb ©d^ein, SReligion
unb 3iing: ba§ S^i^ema ber ^Parabel ift aud^ ba§
21^ema ber ß^araftere im Jlat^an, ber ©d^Iüffel ju
il^rem aSerftänbnife.
3)a§ Äennjeid^en be§ ed^ten ©laubenö ift bie
Säuterung, bie ©etbftoerleugnung, bie Ueberwinbung
ber ©elbftfud^t, bie Befreiung Don ben S3egierben
unb ber SBelt, bie jte näl^rt. 2)a§ ^ennjeid^en be§
uned^ten ©laubens ift baö ©egenti^eit ober ber
5Ulangel biefer Säuterung: bie DöHige, baare ober
bie nur jum S^l^eil überraunbene , jum 2^^eit nod^
ungetilgte ©elbftfud^t. Säuterung ift Umbilbung,
Slrbeit, fittlid^e SBiebergeburt. SBeil ba§ Siel er=
ftrebt, erarbeitet, errungen fein will, felien wir bie
aWenfd^en nur auf bem SBege bal^in, bie einen bem
3iele naiver, bie anberen ferner, je nad^bem bie
aWad^t ber nod^ ungeläutert^n unb wiberftrebenben
©lemente il^rer Statur fie feffelt unb jurüdff)ält.
©al^er bie mannid^fad^en 2^rü6ungen unb ©nt^
fteHungen, bie ba§ SEBefen ber SRetigion in ber
aRenfd^enroelt not^wenbig erfälirt. S)er ed^te unb
92
uned^te ©laube, jener in feiner l^öd^ften ©ntroidlung,
biefer in feiner niebrigften ©eftalt, bilben ben äufeer^
ften ©egenfafe, il^re ßl^araftere ftnb am roeiteftcn
t)on einanber entfernt ; bajwifd^en liegen bie aJiif c^^
ungen beiber, bie fid^ naä) bem ©rjiel^ungögange
ber ^Religionen unb aSölfer, nad^ ber 5Ratur unb
©emütl^öart ber Snbimbuen in einer Sleil^e oon
ßliarafteren abftufen. @§ gibt einen ©tufengong
religiöfer ©efittung unb ß^arafterläuterung in ben
©injelnen, wie eö einen ©tufengang ber Sieligionen
in ber ©rjiel^ung beö SWenfd^engefd^led^tä gibt, unb
e§ ift fel^r n)ol|l ntöglid^, ba§ ber ©injelne burd^
fein eigenfteö Streben unb feine perfönlid^en ©d^id-
fale über bie ©d^ranfen feiner SBolföreligion empor^
fteigt unb als 3Kenfd^ Isolier ftel)t, benn aU ©enoffe
feines aSolfö. Dl^ne fold^e 2lu§nal)nten, fold^e oom
©ängelbanb ber @efammterjiel|ung unabl^ängige
gortfd^ritte ©injelner wäre bie ©ntroidflung be§
©anjen nid^t möglid^. Sefftng liatte biefen 5ßunft
aud^ in feiner 6rjiel)ung be§ 3Kenfd^engefd^led^t§
n)ol|l . inö 3luge gefaxt, ^ier geigte er unö bie
Sieligton im ©tufengange ber 9Jienfd^l|eit, in feinem
Siatl^an jeigt er fte in einer ©tufenleiter üon
6l)araf teren , bie t)on ben geoffenbarten Sieligionen
erjogen finb, ben ©laubenöfrieg um bie SBelt^err-
fd^aft t)or fid^ feigen unb in il^rer eigenen ©emütl^ös
art, in beut, voa^ fie finb ober nid^t finb, ben Stufen-
gang ber ©taubenöläuterung barftetten.
III.
2Sn biefem bramatifd^en ©emälbe religiöfer
ei^araftere barf aucS) baö oöHige ©egentfieil ber
ed^ten ^Religion nid^t feilten, fie tritt burd^ il^ren
ßontraft in baö beutlid^fte Sid^t, bie 3Ba^rl^eit er=
j^eßt auö il^rent ©egentfieil, benn fie ift „index
sui et falsi". Unfere SDid^tung brandet einen
6{|ara!ter, ber ofine jebe ©pur ber ©laubenöinnig^
feit nur bie äußeren ©laubenäformen jur ©d^au
trägt, öier l^errfd^t ftatt ber ©elbftuerleugnung bie
©elbftfud^t mit allen i{|ren weltlid^en ©etüften, ber
(Staube bient if)r aU SEBerfjeug unb gutter, ftatt
fie ju t)erjef)ren, muj3 er melme^r ben ©toff ^ex^
geben, ber fie füHt unb aufbtäfit, auf baö Ueppigfte
gebeilien unb wud^ern lä§t: wir feigen ben ®Iaubens=
egoiömuö vox un§ in feinem 2)ünfel unb ^od^^
tnutl^. ®ö gibt eine 3lrt fd^nöbefter ©elbftfud^t.
94
bie ben äußeren ©d^ein ber SReligion annimmt mit
bem DoHen SBemujgtfcin ber 9Kaö!e: id^ meine bie
religiöfe ^eud^elei, bie fid^ im S^artüff e oerförpcrt.
S)er S^artüffe fennt \iä) felbft, er meijs, bofe et
l^eud^elt, er tl^ut eö mit SRePepon, mit mol^Iüber-
legter, raffinirter 3lbfid^t, er trägt bie Sieligion ote
Saroe, bie er bisweilen abnimmt, um freier ju
at{|men: barum fann er enttarot werben. Sfi bie
freiwillige ©d^led^tigfeit beffer ate bie unfreiwittige,
fo gibt e§ eine ©orte ^eud^elei, bie nod^ unter
bem S^artüffe ift: wenn fid^ ber ©goift in allem
®rnft für einen SWann ©otteö l^ält unb feine ^xotdt
für bie gottmo^ilgefättigen, wenn ber ©laube nid^t
ajJaöfe, fonbern gleid^fam bie ^anjerl^aut ifl,
worin ber ©goiömus wie in einer 3^eftung wol^nt^.
fidler, befiaglid^, fugelfeft, felbfi ber ©ntlaroung
unerreid^bar, vor weld^er ber bewußte ^eud^Ier
immer auf ber ißut unb in ber 3lngft ift. fiier
entfielet bie ©d^einreligion wie ein natürlid^eö ©e-
wäd^ö, eine 3lrt geborener, naiuer ißeud^etei, ein
©laubenöjuftanb, ber bie ©etbfterfenntntfe t)öllig
oerbunfelt unb bie f d^limmfte 3lrt ber ©elbfttäuf d^ung
auömad^t. Seute fol(^er aSerfaffung reben nid^t
bloS unwahr, fie finb e§ t)on ber SBurjel an^ unb
95
)cfinben fi(^ im Bwft^^i^ ^^^ d^ronifd^en Süge. ©n
Cppuö biefer 2lrt ©laubenöfalfd^^eit unb ißeud^elei
ft bcr 5patriard^ in unferer ^xd^tunQ, beffen
ßorbilb, tüenn überl^aupt t)on einem foli^en gerebet
Derben barf, nid^t ©oeje in Hamburg, fonbem eine
liftorifd^e ?perfon auö ber 3^^ ber Äreujjüge roax,
ler ?ßatriard^ Öerafliuö t)on Serufatem, berüd^tigt
lurd^ eine güHe t)on Saftern.
Unfer ^atriard^ ift ißeud^Ier burd^ 3latnx unb
Jüd^tung. ®r ift im Snnerften l^erjloö biö jur
Inmenfd^Ud^feit unb gegen alle ©mpfinbungen ber
Wenfd^enliebe unb ©rofemutl^ in einem ©rabe vex^
lärtet, bafe er t)oIl!ommen unfdl^ig ift, fie ju t)er=
te^en ober gar t)on il^nen ergriffen ju merben. @r
ebt unter bem grofemütbigen ©d^ufee ©alabinä unb
lat bem ©ultan gegenüber bie 9Wiene ber Untere
Dürflgfeit, aber l^eimlid^ finnt er il^m Sßerratl^ unb
öieud^elmorb ; er weife, bafe ©alabin bem gefangenen
tempelfierrn Seben unb greil^eit gefd^enft, aber
lad^ beö ^atriard^en 2lbfid^t foH ber Xempel^err
ien biefe greil^eit benufeen, um an ©alabin jum
Spion unb SWörber ju werben. S)enn 93ubenftüdE
lor 9Kenfd^en ift nid^t aud^ S3ubenftüdE oor ®ott.
ix f)bxt oou einem ß^riftenfinbe, baö ein Sube aufs
96
gejogen, afe ob eö fein Äinb xoäxe ; baö Äinb töar
eine SBaife, ber Sube ift il^m ber tie.bet)oIIfte SSotet
geworben ; aber in bief er rü^renben Segebenl^eit fie^t
ber ?patriard^ nid^tö ate einen ©eelenraub, eine
aSerfü^rung jur 3lpoftajte, eine Slettung jum eioigen
aSerberben; e§ wäre in feinen 2lugen beffer gewefen,
ber 3wbe l^ätte baö Hinb im ©tenb umfommen
laffen. 2^aub gegen jeben rül^renben 3^9 ^^^^
5!ßenfd^enliebe unb SBamtl^erjigfeit, bleibt er bei
feinem ©prud^: „XfjvA nid^tö, ber 3ube mirb t)er^
brannt!"
S)abei regt fid^ in feiner ©eele au(^ nid^t t)on
fern ein leifeö ©efü^l ber 3Kenfd^Hd^feit, baö er
etwa notl^gebrungen bem ftrengen ©efefe feiner Äird^e
opfern müfete. 6ö wäre barin bod^ eine 9lrt ©elbft-
oerleugnung. 3lein> er fü^lt nur feine 3Jlad^t, feine
2Bürbe, bie il^m wol^I tl^ut, unb ebenfo mol^l tl^ut
eö il^m, ju oerbammen. @r fagt unb mieber^olt
feinen aSerbammimgöfprud^ ungerül^rt, wie ein 2tuto::
mat, ben nur baö 2^riebn)er! ber Äird^e in Se^
loegung fefet, unb als fold^er möd^te er erfd^einen,
aU fold^er erfd^eint er fid^ felbft:' „3Wid^ treibt ber
föifer ©otteö lebiglid^. SBaö id^ ju oiet tl^u', tl^u*
id^ il^m!"
97
aSBöre er in ber X^at biefes blinbe aBertjeug,
fo tnöd^tc bie blinbe Unterwerfung no^ ein S^i6)en
jener ©elbftoerteugnung fein, wetd^e bie Äird^e grojs
gemad^t ^at aSon biefer ©elbftoerteugnung ifi nid^tö
in il^m, weber von il^rer 2)emutl^ nod^ t)on il^rem
©totj. ©eine perfönlid^en 3nteref[en finb il^nt bie
^auptfad^e, für biefe ift er fortroäl^renb beforgt unb
im ©tiffen auf ber Sauer mit jener unJ^eimlid^en,
fpionirenben 5Reugierbe, bie ein conftanter 3^9
pfäffifd^er ^errfd^fud^t ift unb fid^ überl^aupt bei
foId^enjK^oroR^n einfinbet, weld^e bie ©ud^t l^aben,
g64jtfofltiren. SBer t)or allem feinen ^In^en bebenft,
fpäf)enb, ob nid^t irgenbwo irgenbwaö für if)n ab==
fäHt, ber fümmert fid^ um alles, fud^t feinen 5ßrofit
bei jeber ©etegeni^eit unb verlegt fid^ barum noti)^
wenbig auf baö 3lu§fpüren ber S)inge, bamit er ja
nid^tö uerfäume. ©d^on bieö allein mad^t im n)iber=
lid^en ©inne beö SBortö neugierig. 3n ber guten
©tabt 3crufalem gefd^iel^t nid^t§, baö biefem ^atri=
ard^en lange verborgen bleibt * er l^at fogar bie gelb=
jugSpläne beö ©ultanö auöjpionirt unb fd^on baö
SBriefd^en bereit, baö fie bem Könige von granfreid)
oerratfien fott. ^alb t)ern)unbert, ^alb ironifd^ fagt
ber iWofterbruber :
Äuno gftfd^cr, ®. 6. Sejfmg. II. 7
98
2[(^ i^ab* intd§ oft getounbert,
SGßic bo(3^ ein ^eiliger, bct fonft fo gon^
3[m ^immel lebt, sugleid^ fo untetttd^tet
9[)on 2)tngen biefet SBelt ju fein l^etaB
6id§ laffen !ann. @§ mng il^m fauet toetben.
©0 l^at er, wie fid^ ber Ätofterbruber fel^r bejeici^'
nenb auöbrürft, bte 3Sefte „auögegattert", too ber
3Sater ©alabtnö bie ©d^äfee {|ütet; fo ntöd^te er um
jeben ?preiö wiffen, warum ber ©ultan ben Xempet
^errn begnabigt; unb bie @e\ä)xä)tt oom ©{iriften-
Ünbe im ^aufe beö ^^ben ift il^m ein Problem,
bem er tiefer auf bie ©pur ju fommen fud^en mufe.
6r i^afet ben ©ultan, beffen ^errfd^aft il^tn
natürlid^ fo angene{|m nid^t ift, aU bie eineö d^rift^
lid^en Äönigö, unb er fud^t burd^ aSerratl^ unb
3Weud^eImorb feine ßerrfd^aft toö ju werben. 2)ie§
aber {|inbert i{|n nid^t, bei bem ©ultan ©d^ufe ju
fud^en gegen ben ^uben, ber ein ß^rtftenfinb in
feinem, DieHeid^t in feinem (Stauben erjogen. ®r
wirb bem ©ultan leidet begreif (id^ mad^en, wie nü^-
lid^ ba§ ©tauben für b^en ©taat, unb wie gefäl^r-
lid^ baö ©egent^eit ift. ©o gilt il^m ber ©taube
atö ein unterwürfigem 3Kittet ber 9Wad^t, ein ge-
fügiges .SBerfjeug ber ^errf d^fud^t , unb er fetbft
99
ift julc^t tiid^tö afe ein fold^er mHiger ©iener, ber
fid^ ber 5Ulad^t beugt, gleid^mel toeld^er, bie il^m
geföl^rlid^ toerben lönnte^ fid^ i^r beugt, toenn fte
i^m auä) no(J^ fo vex^a^t ift. Äaum ^at er ge-
^ört, bafe ber S^empell^err ju ©alabin gerufen ift,
fo änbert er ben 2^on. Unb überaus d^arafteriftifd^
ift, roaö Seffing if)n fagen läfet:
ß; o! — 3d& toeift, ber $ctt :^at (Snabc funbcn
SSot ©alabin! — 3d^ Bitte mein ex nur
3m Bcftcn Bei il^m eitiößben! au fein.
aWan fielet, er würbe fried^en, menn ber Sultan
t)or il^m ftänbe.
S)iefer ^ßatriard^ l^at nid^t bie minbefte 3lnlage
}u einem SWärt^rer. 6r wirb fid^ n)o{|l lauten, fid)
jemafe preiöjugeben. 3lud& feine Unbulbfam!eit unb
fein ganatiömuö reid^en nur fo weit aU feine ©elbft-
fud^t. ©r fü^lt fid^ ^öd^ft e^rroürbig unb ^öd^fl
bel^aglid^ in feinem ^ßomp, n)ie er bal)er!ommt oon
einer Äranfencommunion; man fottte ii^n erft feigen
nad^ ^ofe fid^ ergeben. Unb me er felbft grunb^
jufrieben ift mit feinem 2)afein, fo ift biefer 3^9
ber ©elbftjufriebenl^eit in feinem ©efid^te ftel^en ge^
blieben aU freunblid^eö ©rinfen. ®r f)ai fid^ ben
100
©tauben tooi^l bcfotnmen laffcn, unb wir btaui^tn
ju feiner ßi^arafteriftif eigentlid^ nur bte paar SBofte:
,,2)er bide, rotl^e, freunblid^e ?ßrälat!"
3lber man fud^e fold^e ©l^araftere, wie ber ^a-
triard^ einer ift, nid^t bloö bei ben Prälaten, too
bie 3luölefe nid^t Kein fein mag, fonbem überall
ba, n)o allgemeine S^ede, eö feien religiöfe ober
poUtifd^e, eö feien ^xoede beö @anim ober einer
Partei, oon einzelnen ju il^rem Sßort^eil ausge-
beutet werben, ^ier ift bie 3luön)al^l am gröjsten,
unb ber S^^puö ift in ben oerfd^iebenften formen
immer berfetbe. SBenn fie bie SWad^t l^aben biefe
Seute, fo fann man fidler fein, ber ^be wirb
t)erbrannt; unb fo lange bie 9Wad^t beim ©alabin
ift, ben fie l^eimlid^ ^^affen, !ann man fidler fein,
ba^ fie mit il^rer ©rgebenl^eit gleid^ bei ber ^anb
finb: „^ä) bitte meiner nur im Seften bei ü^m
eingeben! ju fein!"
IV.
P a j a.
Sn bem ^ßatriard^en ift ber ©laubenöbünfet unb
©laubenöegoiömuö bloö 2)ünfel unb ©goiömuö.
101
haax jcber SKrt bcr f^tömtnigfett unb ©elbftoerleugs
nung. S)od^ tüärc e§ menfd^cnunhinbig ju meinen,
baj3 ber ©laubenöbünfel, fo befd^ränft unb uned^t
er ift, jeber beffem %oxm unb Sftegung oottfommen
unföi^g fei. S)ie 3Wenfd^en mai^en fid^ il^ren ©lau-
ben nid^t, fte empfangen ü^ mit finbüc^em ©e-
mütl^, unter bem ®inbrudf be§ Seften unb ©bei-
fien, baö il^nen ju 2^l^ei( werben fann: bie Ueber^
^ugung, ben beftcn ©lauben ju l^aben, ift barum
«ine unnnllfürli(^e SWitgift ber religiöfen ©rjiel^ung.
Sluf biefem 3Bege entfielet leidet eine ©laubenseins
bilbung> bie in befangenen unb unerfal^renen 5Raturen
bis }um öod^muti^ unb 2)ünfel fteigt unb fid^ 3bu
berögldubigen gegenüber gern in bie Sruft wirft.
35ie SRettgion wirb roie ein Sefife angefel^en, auf
ben man fid^ etwaö einbilbet, mit bem man Staat
mad^t, mie mit einem f oftbaren 9tinge. S)aö ift
oi^ne B^^if^I ^"^ f^^^ niebrige 2lrt religiöfer Sit
bung, aber fie ift, menn man bie menfd^Iid^e SRatur
bebenft, nid^t burd^aus falfd^, fie ift nur ftel^en ge-
blieben in ben erften, unmünbigen Slnfängen reti^
giöfer ©ntmidflung, mo bem ©lauben ber aSerftanb
unb bie ©nfid^t fel^It: eö ift bie finbifd^e, unmüns
bige, orbinäre f?orm ber ^römmigfeit, in i^rer
102
3lrt ganj xt)af)x unb aufrid^tig, fic tpeijs eö toirftiiä^
nid^t bcffer unb l^anbelt, fo gut fte cö üerfte^t.
SBaö l^ier bem ö^^J^n fel&tt, ift tocnigcr bcr gute
SBittc afe Jene ©nfid^t, ol^nc meldte aud^ bcr befte
SBittc unrid^tig unb t)crblcnbet l^anbelt. ®ö Iji
bie nid^t ber SBeiöl^eit, fonbern bcm SEBal^n con=
forme ßiebe.
ein S^^puö btefer fcl^r gcroöl^ntid^cn unb barunt
fcl^r verbreiteten gomt beö ©laubenö ifi in unferer
S)id^tung bie 2) a ja. 3^^^ 2^^^6febern pnb eö, bie
fie beftimmen : il^re Siebe ju SRei^a, für bie fie atteö
ju t^un bereit ift, pe würbe beren ^^ob nid^t über-
lebt l^aben unb l^ängt an bem il^r anoertrauten Äinbe
mit aller 2^reue unb Eingebung; jugleid^ l^ält fie
feft an bem ©tauben, ben pe weniger erlebt als
gelernt l^at: bafe nur in il^rer SReligion bie 3Kenfd^en
fetig werben fönnen. ©o wirb i^re Siebe für Sied^a
jur 3lngft um beren ©eelenlieil. 2)aö ßl^riftenfinb
ift atö Siubenftnb gro§ geworben, unb wenn 3)aia
pe nid^t bei 3^ten rettet, fo ift pe ewig verloren.
S)iefer ©ebanfe läjst il^r feine Siul^e unb befümmert
bie gute ?Perfon ganj ernftlid^. 3^r 3Rann war
ein Äreujfal&rer, ber mit Sarbaroffa [in baö gelobte
Sanb fam unb mit bem Äaifer jugteid^ fein fieben
103
Derlor. Sefet tft fie S)ienerin im ^aufe beö Suben,
fie cmpfinbet biefen if)ren gegenwärtigen ©tanb
toie ein SUhfeuerl^ältnife, in bem fie lebt, unb gefaßt
pd^ in biefer ®mpfinbung:
„SJlcint 3i^X cttoQ (bcmerh fit bem %tmptlf)tttnl
3d§ fü^tc meinen äBextl^ aU ßl^tiftin nid^t?
9(u(i^ mix toaxb*^ \)ox ber äßtege nid^t gefunden,
2)a6 id^ nnt barum meinem Sl^gemal^l
9la(i^ $aläfttna folgen toüxb\ um bo
(Sin 3ubenmäbd^en 3U etjiel^en.*
Sener atteinfeligmad^enbe ©laube, beffen fie fid^
rül^ntt, ift il^r angelernt unb anerjogen mit ben
©itten ber ^eimatl^ ; e§ ift ber ©laube, in bem fie
fid^ l^eimifd^ fül^ft, weniger auö innerem 33ebürfnife
afe aus überfommener ©ewol^nfieit, unb eö ift t)on
bem 2)id^ter mo^t angebrad^t, bafe er bie gute grau
^eimwel^ l^aben lägt, ©ie ift ber Hinberfd^ule nie
entwad^fen, unb bie Krone il^rer fpäteren ßebenö^:
erfal^rungen reid^t nid^t l^öl^er alö:
@9 toax
Titin lit^tx (S^gemal^I ein eblet i^ned^i
3n Äaifet gfriebtid^S $cct.
Snnere ®rlebniffe, meldte ben ©lauben auf bie 5ßrobe
ftetlen, il^n beftätigen ober läutern, l^at fie feine
104
(jcl^abt, and) nid^t bie gäl^igfcit ju fold^cn feUb*
niffen ; SBelt^ unb aRenfd^cnerf ai^rung l^aben fic nW^
uercbelt, ber ©inn für baö ßd^te im aWenfd^en ift
i^r ntd^t aufgegangen. So ift tlir @lau6e o^ne ade
aßenfd&enfenntnijs geblieben, ©ie fielet ni(^t, roeld^
ein ©efd^öpf biefe SRed^a in ber fianb biefeö 3uben
geworben, fie fielet nur baö ß^riftenfinb in ber ^anb
eineö Suben.
3n einem fold^en ®emüt^ fommt bie ©elbfioer-
(eugnung nid^t über bie ©d^ranfen l^inauö, roeld^e
Unuerftanb unb ©telfeit i^r fefeen. 2lu§ Siebe toill
fie aied^a retten unb fü^lt nid^t, bajs biefer bie
^irennung t)on SRatl^an baö ^exi bri(^t. 3lud^ ifl
e$ für eine fo gläubige ß^riftin etmaö ©erbäd^tig,
baj5 fie SRed^a oor bem 3uben bewal^ren roiH burd^
bie ®l^e mit bem ^^empellierrn! 6ö gibt atfo
einen gaU, in bem ber ©laube biefer SJaja fo tole^
rant wirb, bajs er fid^ über d^riftlid^e Drbenöge^
lübbe ^inioegfefet: wenn e§ gilt, ein ^ärd^en ju
mad^en !
Unb id^ ^abe fie n)ir!li^ im SSerbad^t, bafe i^re
©elbftliebe nod^ immer ebenf o gro§ ift als il^re fetbfl^
t)erleugnenbe Siebe ju ^ed^a, bafe i^re Meinen 3n^
tereffen aud^ babei il^re SRed^nung finben. SEBas i|at
105
ixe bcnn in bem ißöufe bc§ Suben fo lange geJ^dten
unb \JI)x ängfilid^eö ©eioiffen immer wieber befd^toui^^
tigt unb ftumm gemad^t? 3latf)an fennt bie S)aia
beffer als fie il^n. SBie fie von il^rem ©eroiffen rebet,
fprid^t er von ©efd^enfen:
2)QiQ, lai
Soor oßcn S)inöcn bix crjäl^Icn —
toag in ^aB^lon
fjüx einen fd^önen ©toff id^ bit gcfouft.
@o teid^; unb mit (S^efd^madt fo teid^l 3^ bringe
g^üt Sled^a felbfl faum einen fd^önetn mit
Unb wie fie i^r ©eroiffen nid^t länger betäuben fann,
fä^rt 3latf)an fort:
Unb toie bie Spongen, toie bie Ol^rgel^enfe,
2Bte 9ltng unb ^ette bit gefallen toetben,
^ie in 2)amQgfug td^ btt auSgefud^t,
^etlanget mid^ ju fe^en.
3(j^ bin überjeugt, fie werben i^r fel^r gefallen, unb
baö fd^öne Äleib wirb il^rer ©itelfeit eben fo rool^l
t|un, als baj5 i^r tiebey ®l^gema^l ein ebler Äned^t
in ftaifer g^riebrid^s fieer gewefen.
^i)x wärmfter SBunfd^ ift, SRed^a in ibren ©lau^
ben unb i^r aSaterlanb nad^ @uropa jurüdEjufül^ren.
aber a\xä) babei ift il^r eigenem Sntereffe nid^t ^er^
106
geffcn. 3)ad lefete SBort, baö fie bcm ^entpel^erm
juruft, nad^bcm fic biefcm baö g^amilicngd^eimmS
SRcc^a« oerratl^cn, enti^üHt tl^rc SBünf(§c: „SBenn
3l^r aber bann fie nad^ ©uropa fül^rt, fo tafetSl^r
mid^ bod^ nid^t jurüdE?"
©0 ift il^r ©laube rote i^re Siebe jur fiälfte
©etbftliebe, unb romn rotr fie nttib beurtl^eilen, fo
nel^men roir fie, wie SRed^a fie ber ©ittal^ fd^ilbert:
^eine gute Böfe 2)ajiQ lann
3)a3 tooKen, — toitt baS fönncn. — 3a, bu fcnnfl
äBol^l btefe gute böfe 2)aia ntd^t?
9lun, ©Ott öctQcb* c3 i^r! — Bclo^ e« i^t!
©ic ^ot mir fo biet (Sutcä, — fo biel S5öfc8
@¥toiefen !
V.
3)er ©taubenöbünfet nä^rt ben ©goiömud, weil
er il^nt rool^Itl^ut, unb unter biefer 83ebingung fann
bie ©elbftoerleugnung nid^t gro^ werben, igeben
roir biefe ©c^ranfe auf, roeld^e baö lautere ©treben
irüdft unb t)erfümmert, bamit baö uneigennüfeige
^erj fid^ in feiner motten ©tärfe entfalte. ©e|en
107
Töir junäd^ft an bte ©teile ber ©taubenöeitelfeit ifir
©egentl^eil: einen ©l^arafter, ber fid^ innerlid^ ba-
.t)on befreit \)at, bem ber ©laubenöbünfel l^öc^ft iin-
gereimt, l^öd^ft oertoerflid^ erfd^eint, ber bie ganje
Äraft eines uneigennüfeigen unb grojgbenfenben ^er^
jenö unb jugleid^ bie leibenfc^aftlid^fte aSerad^tung
baroiber erl^ebt. 3« biefer leibenfd^aftlid^en SSer^
ad^tung liegt bie ©efal^r. 3)en ©laubenöroafin t)er=
ad^ten, ift ber ©tolj, i^n nid^t ju l^aben. 3)iefer
©tolj ift aud^ eitel, aud^ unreif unb menfd^en^
unfunbig. ®ö ift ber ©tolj be§ g^reigeiftes, ber fid^
empört über bie Unbulbf amfeit unb ben g^anatiömus
ber aRenfc^en, unb ber in biefer Empörung fid^
felbft bis jur Unbulbfamfeit unb jum eJanatiömuö
üerfteigt. ®er Sßiberfprud^ biefer fe^r verbreiteten
®eifte§art liegt am 2^age. Seffing fannte i^n mol^t
unb mar felbft bat)on ganj frei, er mar fein e^rei-
benfer, fonbern ein SRed^tbenfer. 3)er i^ifeige ^Jrei^
geift bünft fid^ unenblid^ beff er, alö bie im ®laubenö=
bünfel 83efangenen, bie er t)era(^tet unb befonberö
barum verad^tet, meil jeber von i^nen fid^ unenblid^
beffer bünft, als ber 2lnber§gläubige. 3Kit biefem
©egenfaft finb mir offenbar menig gebeffert. Unb
mo bie g^reigeifterei, auö einem reinen S^riebe ent=
108
fianben, biefe SBenbung nimmt, ba ifl bie ©^anfe,
an ber bie Jtraf t ber ©el6fit)erleugnuiig ju ©d^anben
mirb wnb fid^ in ein falfd^eö ©elbftgefül^l tjerfe^rt.
©in mol^lgettöffener unb bramatifd^ belebter
X^puö biefer ©eifteöart ift ber 2;empcll^err. ©ein
©tanb l^at i^m bie Steffeln angelegt, bie er mit
SBiberftreben trägt unb jule|t innerlid^ abwirft ; bie
©taubenölriege , in benen er lebt, l^aben i^n ben
©laubenöl^a^ erf al^ren laffen ; ber ®eift, ber % in
feinem Drben ju tjerbreiten anfängt, begünftigt bie
©laubensinbifferenj, bie er innerlid^ annimmt unb
leibenfd^aftlid^ auöbred^en läjjt, roo er ben ©laubens-
wal^n trifft ober t)orauöfe6t. 9Bo fönnte biefer
jiärfer fein, afe bei bem 33oH, baö in feiner ©lau?
benöeinbilbung fid^ baö auöerroäl^lte ber @rbe ju
fein bünft? ©al^er feine leibenfd^aftlid^e Subem
uerac^tung. 3)aö SBort, ba§ er ungereimter unb
unfunbiger SBeife auf SRatl^an gemünjt l^at, pofet
genau auf i^n f eiber: „@ö finb nid^t atte frei, bie
il^rer Äetten fpotten".
S)odm finb biefe 3ö9^ in ber Snbimbualitöt bes
S^empeli^errn fo wol^l angelegt unb gered^tfertigt, ba§
man fie nic^t anbers erwartet, faum wäufd^t. ©eine
©rlebniffe l^aben i^n nur mit ben ©d^attenfeiten
109
ber ^Religionen befannt gemad^t, fie l^aben i^n nur
biß ju biefer leibenfd^aftUd^en Slbneigung gegen bie
religiöfe „3Renf(^enntäIeIei" fommen, fie l^aben il^n
nid^t tiefer blid en taffen ; er ift nod^ jung unb nad^
3ltt ber Sugenb fd^neU entfd^loffen , ganj ju vtx^
toerfen, roa§ il^m afe ungerecht ober ungereimt oon
einer ©eite l^er einleuchtet. ®in unoerborbeneö,
leibenfd^aftlid^eö fiet^, eben fo fd^nett unb entfc^ieben
in feiner Siebe wie in feinem fia^ ! SBie lönnte e§
anberö fein? @r ift, wie 3lat^an fagt:
@tn 3üngltng, toic ein 9Wonn. 3d^ mag il^n too^l,
S)cn guten, tto^'gcn 33Iid! ben btaKcn (Song!
S)ic ©d^ole fonn nur Bittet fein: ber Äetn
3fl»S fid^ex nid^t.
®er ^patriard^ unb ©aja finb orbinäre Seppen,
bie man ju ©ufeenben finbet; ber STempellierr ift
eine feltene 5Ratur. ®r l^at einen 3"Ö/ ^^^ ^^ ^tt
feinem 3)id^ter tl^eilt, unb ber, fo einfad^ er ift,
bem 3Jlenfd^enfenner l^öd^ft feiten unter 3Benfd^en
begegnet: er ift ganj wal^r, er roiH nur fd^einen,
maö er innerlid^ ift, unb felbft feine 33lenbungen
finb fo offen unb aufrichtig in ilirer 9Irt, bafe fie
balb ber beffern ©infid^t meid^en. Unb romn wir
ben ©laubenSjmang bei ©eite laffen, ber übrigens
110
bic Stemplet wenig beengt ^at, fo pajjt aud^ bcr
wei^e SWantel mit bem rotten Äreuj t)ortreffU(i^ }u
jetner SRatur. 3)ie großen menfd^lid^en SH^f ^^^^^
ben Drben gewaltig gemad^t fiaben, entfpred^en ganj
feinen perföntic^en Steigungen: ber öelbenmutl^, bie
2:obedt)erad^tung, bie SEBeltentf agung ! ®r ift in
biefem ©inn ein ed^ter 2^empet^err. ©teid^ feinen
erften SBorten im ©efpräd^ mit bem Älofterbrubcr
ift biefer ß^arafter, bem bie ©ntbel^rung leidet toirb,
ber fid^ in ber 3BeItentfagung frifd^ fül^lt, fo eigene
tfiümlid^ aufgeprägt, bajs, fo oft id^ mir ben Stempel-
l^errn t)orftelIe, biefe SBorte mir einfallen:
30; guter SBtubct, tocr nur fclbft tooS l^ättc!
»et ©Ott ! Bei (Sott ! iä) ^oBe nid^tS. —
Unb wie er baö ^pWgerma^l ablel^nt, baö ber Älofter-
bruber ifim anträgt:
2öoau?
3d^ l^oBc 3flcifd^ 3toor longe niä^t ßegeffen;
mdn h)Q§ tl^ut'S? 2)ie 2)Qtteln fmb ja tctf.
3)ie frü^e SBeltentfagung mac^t il^n ernft, ob-
gef(^loffen, unjugänglid^. ©in Jüngling, für ben
bie SBelt feine Sleije, feine ®üter ^at ! ©ine folci^e
aBeltentfrembung bei einem fo leibenfd^aftli(§en ©m-
111
)finben! SBic fann eö ba anbcrö fein, als ba§ et
ctbcnfd^aftlid^ bie Sißelt von fid^ ftöfet, fid^ gern
)er ®infamfcit l^ingibt, bie 3Benfd^en meibet, reijs
)ar ift gegen jjebe jubrtnglid^e 33erü^rung, mitten
m aSoHgefü^l ber ^ugenb t)on einem £eben§über=
)ru§ unb einer 5Reigung jur ©d^wermut^ befd^Iid^en
üirb? 3ln einigen ©teilen wirb burd^ ein ^inge=
t)orfeneö SBort biefe ©timmung erfennbar. 2Bie i^n
)er Äloftetbruber t)of ben Satteln toarnt, bie me^
and^oüfd^eö (Sebtüt mad^en, weift er il^n mit ber
3emerfiing jurüdE: „SBenn id^ nun meland^olifd^
;etn mi(^ füllte?" — Unb roie er 5Ratl^anö 3)anfs
arfeit loöroerben roill, fu(^t er feine 2^fiat n)ert^=
o§ ju mad^en mit einer SBenbung, bie id^ jroar
rineöroegö für ba§ SUlotit) feiner ißanblung, aber
ud^ nid^t für eine bloße ©rfinbung fialte. @r f agt :
^ein Seben toar mit ol^nebem
3tt bicfcm Slugcttblirfc läftig. (Sctn,
©c^t gern cxgtiff idft btc (Sclcgcnl^cit,
<§S für ein anbteS SeBen in bie ©d^anje
3u fd^logcn: für ein onbtc§ — tocnn'8 oud^ nur
3)a8 SeBen einer 3übin toSre.
5o würbe ber S^empel^err nid^t fpred^en, wenn er
tod^ nie baö Seben alö Saft empfunben ^ätte. @§
112
ift in biefem Süngünge ein jlarfer ^an^ jut
aRenf(J^cnt)erad^tun9, ju ber aRcnfd&cnüerad^tung,
beten innerfier Orunb jurüdgebrängte Siebe ifl,
bie [xä) vox bem Unroertl^e ber SRenfd^en t)er^
fd^lie^t.
3lu§ biefer ©l^atafterjUmmung beö S^entpell^erm
erflären fic^ feine ^anblungen. 6ö ifi begreifli(|,
bafe er bie SJaja, bie wirllid^ jubringtt(§ ift, f(^nöbe
bel^anbelt ; ba§ er 5Ratl^an, ber eö nid^t ift, für p-
bringtid^ l^ält unb feine 3iwbent)erad^tung an i^m
ausläßt; ba§ er gegen ba§ 3tnfinnen beö ^patri-
ard^en, ber il^m ein feigeö 33ubenflü(f jumutl^et, in
©ntpörung aufbrauft; ba§ il^n bie ©eelengrofee
3laif)an^, wie er fie erf ennt, ganj überwältigt ; ba^
bei bem 2lnbti(fe SRed^aö biefeö gtül^enbe unb gc-
TOaltfam t)erf(^toffene ^erj plöfelid^ ergriffen toirb
unb in ber feurigften Seibenfd^aft auflobert.
®ie grunbfäfelid^e aRenf(ä^ent)erad^tung ift nie
gerecht, unb eö gibt ein fid^ereö B^^^^^f ba§ fie
falfd^ ift; benn fie ift attemal mit einem iiber^
triebenen ©elbftgefül^l uerbunben, entmeber ate i^tet
Urfad^e ober ate il^rer 3Birfung. ©ie tl^ut bem
©elbftgefül^I rool^l, unb ber in ber 3Kenf(äöent)erad^'
tung unmiHfürlid^ empfunbene Äi^el gel^ört jum
113
©efd^led^te beö ©goismuö. ©ine foIc|e jugcnblicl
entfd^loffene SIKcnjd^cnüerad^tung, roie bic bcö XermpeU
i^crrn, rerfel^lt baö rid^tigc 9Wa§ in jwei ^ßunftcn:
fic l^at }u mcl ©clbftgefü^l unb ju wenig SUlenfd^ens
fcnntni^. ®r benft: fie finb alle ©goiften, fie finb
eö felbfi ba, roo fie e§ am wenigften fein foHten,
in il^rer Sleligibn, gerabe l^ier finb fie eö am
meiften, unb bie fd^nöbeften von allen finb bie Suben,
bie t)on il^rer SReligion felbft t)erpf[id^tet werben,
@goiften ju fein, fie finb eö, weld^e bie ^IRenfd^ens
mäfelei juerft getrieben, juerft baö auöerwäl^lte
aSolf fid^ nannten, juerft ben ©laubenöbünfel l^atten,
nur il^r ©ott fei ber redete ®ott. S)amit ift ba§
Subenti^um alö fold^eö von bem ^empell^errn üer^^
n)orf en unb jugleid^ alle, bie bief en 5Ramen fül^ren ;
er urtfieilt, wie bie ©d^olaftil feines B^italterö : bie
Gattungen finb bie Singe.
3)afe 5latfian, ber i^n anrebet, ein 3ube ift,
reid^t l^in, um il^m mit ber betonteften SBegroerfung ju
begegnen. Unb mie nun ber 2^empell^err in bem
©efpräd^e mit 5latfian enttäufd^t mirb, wie il^n bief e
©nttäufd^ung innerlid^ trifft unb ifim baö igerj
öffnet, ift für beibe gleid^ auöbrudföüoH unb c^arafc
teriftifd^. S)iefe SBenbung ift einer ber ergreifenbften
Runo gfifd^er, 0. 6. fiejllng. II. Ä
114
aRomente bcr ©id^tung. 2)aä S3enel^mcn bcö S^cmpet
l^crm ift auf bcn glawbenöeitcln , gctoinnfüd^tigen,
mit einem SBorte gemeinen Suben gemünjt, ben
er im ©inn f)at ®enn in feinem ©inn ift einer
mie atte. ®r läjjt i^n unbarml^erjig eine Sfteü^e t)on
S)emütl^igiingen empfinben bis jum oeröd^tlid^ften
^of)n. 3lat^an lommt, um i^m ju banfen. ®a
er ben S)anf beö ^wben t)erfd^mä]^t, fo bittet biefer
ben J^empeli^erm, roenigjienä feine ©ienfte ju braud^en,
er fei ein reid^er aWann. Slber ber reid^e 3ube ift
im ©inn beö ^^empell^erm ol^ne weiteres aud^ bcr
l^abfüd^tige unb niebrig geijige. Unb biefe blofee
SBorftettung, bie er fid^ mad^t, ift ü^m genug, um
ben 3iwben, ber vox ifim ftel^t, mit ber aSerad^tung
JU bel^anbeln, bie bem ©eijl^alfe gebül^rt. aSieHeid^t
werbe er i^n beim SBort nel^men, fid^ einen neuen
SUlantel von i^m — nid^t f dienten taffen, fonbem
borgen; boc^ braud^e 5Ratl^an nid^t ju erfd^reden,
es fei nod^ lange nid^t fo meit, nod^ fei il^m ber
neue SDiantel nid^t nötl^ig, ber alte l^abe nur eine
fd^abl^afte ©teile, ben 33ranbfledE, ben er befommen,
als ber 2^empell^err bie 2^o(^ter beö Suben burd^
baS geuer trug. 2)aS ifi eine unoerbiente, fafi
bosliaft auögefud^te ®miebrigung, unb romn SRatl^an
115
fie l^innimmt, fo joHten mx meinen, er fei mit bem
S^empeliierrn quitt.
yiati)an erraibert nid^tö auf bie Äränfung. SRur
t)on ber 2lbfid^t erfüllt, i^m ju banfen, bemüt^igt
er fid^ felbft tief vor bem 2^empel^errn. ®r banft
bem Sranbfleö, auf ben er fid^ l^erabneigt, um ifin
JU füffen; er bittet um Sßerjeitiung, ba^ er mit
einer 2^1^räne ben 3Bantel benefet t)abe, er bittet um
bie ©unft, feiner 2^od^ter ben 9)iantel ju fd^idfen,
bamit aud^ fie bem 33ranbf(edE banfen fönne.
9luf bie ©emütijigung, bie 5Rati)an t)om XemptU
l^errn erfährt, antwortet er mit einer nod^ gröfeern
freimittigen ©emütl^igung. ^n feiner aSorjieHung
fiel)t ber 2^empeli)err ben eigennüfeigen Swben, ber
fd^on über bie entfernte Sluöfid^t erfd^ridft, 3^WÖ P
einem 3Jlantel borgen ju fotten; — vor fid^ fielet
er ein 33ilb ber größten ©elbftt)erleugnung. tiefer
®inbrudf, ber feine SSorfteHung Ireujt unb oerroirrt,
bringt i^n au^er S^affung; er erfäl^rt eine ©nt-
täuf($ung, bie ifin befd^ämt unb entwaffnet, ©in
gemeiner Swbe ift SRatl^an nid^t, bod^ immer einer
auö bem aSoIf, baö fid^ für auöerroäl^It f)ält. 2)iefe
©d^eibemanb fielet ber SRitter nod^ jroifd^en fid^ unb
bem ^ixien.
116
Slatl^anö Sluge burd^jc^aut ben S^empell^crrn, er j
erfcnnt in i^tn ben ®bclmutl^, bcr bis jur @clbi"t=
t)crlcugnun9 gctit, t)erbunfelt burc^ ben ©tolj, ber
fid^ leicht bis jur ©elbftübcrl^ebung fteigert. 3n
biefe Büge läjst er ben SCcmpell^errn bliöen. 6r
beJennt, bajs er il^m bie ebelftcn SBetüeggrtinbe jii=
traut, unb jugleic^ gibt er il^m ju oerftel^en, irie
tl^örid^t bie ©etbftüberl^ebung :
SJltttcIgut, tote toit,
gftnbH ftd^ l^ingegen üBetaK in ^enge;
9lut tnu^ bet eine nid^t ben anbetn ntäleln,
3^ut muß bet Änott ben ÄnuBBcn l^übfd^ bcxtiagen,
3flut muß tin ®t^fcld|cn fid^ nid|t bcrmeffen,
3)a^ e§ olleitt bet @tbc ntd^t cntfd^offen.
3)iefe SEBorte finb nid^t ot)ne perfönlid^e Sejiel^ung.
SDie 3Jlenjd^entttäfeIei, bie 3lat^an rügt, bie ^m-
weifung auf ben unberechtigten 2^ugenbftoTj) bcr
leife barin anftingenbe 5Born)urf bringt ben ^^empcl-
l^errn auf fein S^^ema. 6r antwortet mit bcm
offenen 3Sorn)urf beö ©laubenßftoljeö, beffen
größte ©d^ulb bie ^uben tragen ; fie finb ben SBöI-
fern bamit oorangegangen , fie tiaben biefen ©toi}
auf ßiiriften unb 5!JlufeImänner »ererbt, bie unfeüge
©aat ift aufgegangen in ben ^reuäjügen, beten
117
commc SRafcrei bcr 2^empcl^crr t)crabfd^cut. Sein
anjcß ^erj ergicJBt fid^ in bie SBorte:
2)a§ id^, ein ßl^tift, ein %tmpzttjzxx, fo xcbc?
SOßann l^at unb too btc ftommc 9flofctct,
^ctt Bcffcttt ©Ott ju 1)dbm, bicfcn Bcffctn
3)ct ganjcn SOßclt al§ Bcftcn oüfjubtingcn,
3n tl^tct fd^toarjcftcn ©cftolt ftd| mcl^t
©ejctöt oI§ l^ict, alä jc^t? 2öcm l^ict, tocm jc^t
^ie ©d^up^en nid^t t)om ^uge fallen . . . 2)o(^
©et Htnb, toet totll! — SSetgefet, toa§ id^ gefagt,
Unb laßt ntid^!
Inf bicfcö SBort lä^t 5Ratl^an bie ©d^eiberaanb fallen,
mb beibe finben fid^ in berfelben ©efinnung reiner,
om ©laubenöegoiömuö freier SUlenfd^enliebe oer-
inigt.
®ie Säuterung ift im Xempell^errn noc| lange
ti(§t t)oIIenbet; fie fämpft mit ben Sßallungen ber
Jeibenfc^aft, bie it)n jefet t)erfd^Ioffen bi§ jur ißärte,
efet t)ertrautid^ biö jur Eingebung , balb mieber
nifetrauifd^ biö jum 2lrgn)ofin unb argmöl^nifd^ gegen
len g^reunb biö jur 5BerfoIgung mad^en. 9Iber feine
:ble SRatur brid^t burd^, fie crfennt bie Sßerirrung,
Domit bie Seibenfd^aft fie t)erblenbet l^at, unb finbet
Dieber ben SBeg ju fid^ felbft. 6r mirb nod^ oft
118
irren, aber ber S^t^um wirb i^n beffern. ©ettft
über ben ©laubenöbünfel wirb er menfd^enfunbiger
unb milber urtl^eilen lernen. 3lm @nbe ift e§ raemger
ber ©laube, ber egotftifd^ mad^t, aU ber ©goiämus,
ber ben ©tauben anfteöt unb barum aud^ ben
©laubenöbünfel überlebt. SBenigflenö eine ©r^
fal^rung biefer 3lrt l^at ber S^empellierr an \xä) fettft
mad^en lönnen. 2)er menfd^Iic^e ©goiömuö nä^rt
fid^ t)on allen ßeibenfd^aften, unb wer il^n nur in
ber ©eftalt beö ©laubenö befiegt Iiat, ber ift m(i^t
einmal fidler, itin aud^ nur in biefer ©eftalt befiegt
ju l^aben.
VI.
5er ^foflerßtttber;
3)ie ©elbftöerleugnung beö 5Cempelt)crm ift be-
fangen in ben ©d^ranfen einer leibenfd^aftlid^eu
3Bett= unb 3Kenf(^ent)erad^tung ; er wirft fid^ inner-
lid^ bem felbftfüd^tigen ©laubenöftolj entgegen, ben
er in ben ^Religionen ber SBelt lierrfd^en fielet : liier
entfielet feine 9Jienfd^ent)era(^tung, bie feinen ©tolj
erjeugt, am bem bie ®elbftüberl)ebung entfpringt,
bie il^n unwilHürlid^ befällt unb mit feiner ©elbft-
Verleugnung ftreitet.
119
3lel|men toir bcr ©elbftoerlcugnung bicf e ©darauf e,
)tc fic brürft unb ocrbunf elt ; f cfecn wir an bic ©tcHc
)et ©elbftübcrl^ebung bcrcn äußcrftcö ©cgent^eil,
)te ©elbftt)erflcinerung, bic am Hebften ganj
n ba§ Unfd^einbare fid^ t)erlieren möd^te: einen
Sl^arafter ber bemütl^igften 2lrt, einen ber ©eringen,
)ie fid^ felbft nid^t flein, nid^t gering genug fein
'önnen, bic am liebftcn fem von ben 9Wenfd^cn in
)cr üctborgcnften ©infamfeit leben, bie unter ben
Dienfd^en am liebftcn nur bienenb unb gel^ord^enb
ein TOoHen. SBir l^abcn in unferer ©id^tung ben
xnentbeiirlid^en unb n)of)lgetroffenen 2^t)puö biefer
Krt im Älofterbruber.
®r I^at aud^ in ben Äreujjügen gebient, nid^t
tlä SRitter, fonbern afe 5Weitfne(^t, unb t)or aä)U
et)n Satiren ba§ Äinb SCffabö, feines ^errn, als
•iefer (Saja t)ert{)eibigen mu^te, bem "^n'otn 3laÜ)an
iberbrad^t. ^n fanft für ben ©laubenöl^aß unb
u friebliebenb für baö n)ilbe Äriegötreiben, ift ber
Reitfned^t ein (Sremit geworben, er t)at in einem
infamen ©otteöl^äuöd^en bei S^rid^o gelebt, biö
^n arabif(^e 5Wäuber von bem fußen 5piäfe(^en vex-
rieben. S^fet ift er Saienbruber im Älofter von
Jerufalem unb wartet, biö eine ©infiebelei auf
i
120
Xahox frei wirb, bic il^m ber ^ßattiard^ t)erfpro(i^cn.
Untcrbcffen mufe er tl^un, Toaö ber ^atriard^ il^m
befiel^lt. „3<^ vexlaxiQt beö S^agä tool^l l^unbert-
mal auf 2^abor, benn ber 5ßatriard^ braud^t mid^
ju atterlei, rooüor id^ großen 6fel l^abe!" 3Ba§
anä) fott er biefem ^atriard^en nid^t atteö tl^un:
ben J^empell^erm auöl^ord^en, ben Suben mit bem
ßl^riftenfinbe auöfpäl^en, atterl^anb Äunbfd^afterei
treiben, bie ber ^atriard^ für feine ^roede braud^t!
@r n)irb ein SBeri^eug ber fd^Ummften Jleugierbe,
ein ©pion werben, menn er fid^ braud^en lä^t.
@ef)orfam unb bienftroittig ift unfer SBonafibeö ge^
roife, aber nid^t fo blinb unb einfältig, alö ber
^atriard^ il^n roäl^nt. 6r ift menfd^enfunbig genug,
um beH ^atriard^en üottfommen ju burd^fd^auen,
JU lauter, um ben fd^led^ten S^tden beffelben }u
bienen, ju fein, um fo fein unb fo flug ju fein,
afe jener il^n 'f)aben möd^te. 6§ gelingt tl^m nid^tö,
n)aö ber geiftlid^e ^err il)m aufträgt, meil er fid^
nid^tö baoon gelingen laffen roiH:
3q, Ja! et ^ai fd^on iRcd^t, ber ^Pottiatd^!
@8 l^ot mix frctlid^ nod& öon ollc htm
^ilid^t öiel gelingen toollen, toaS er mir
©0 oufgctragen. — äöarum trägt er mir
121
2(ud& lauter fold^c ©od&en auf? — 3^ waö
3^t(^t fein fein, mag nid^t üBcrtcben, mag
3Jlcin ^^läSd^cn ntd&t in SllleS ftecfen, mog
ÜJlcin ^änbd^cn nid^t in Slllcm l^aBen. — S3tn
2^d^ barum auS ber SBelt gefd^teben, id^
gilt mid^, um mid& für ^ilnbre mit bct SQßclt
3^od^ etft tcd^t ju öcrtoidfcln ?
•
T Älofierbruber l^at bte SBeft gerabe genug fennen
icrnt, um ju rotffen, roaö pfäffifd^e ^ettfd^fud^t
^t. SBenn er t)om ^atriard^en fagt: „®ö tnufe
ti fauer werben, in ©ingen biefer 2Be(t fo unter-
^tet iu fein," fo trifft er mit biefem feinen SBorte
ie§, ben fetbftfüd^tig n)e(tlid^en ©inn beö ^räs
en unb . beffen frommes ©etl^ue. ®r fennt bie
iffifd^e ^errfd^fud^t toeit beffer, alö ber J^empet
rf, ber fid^ fo l^eftig bagegen ereifert. . ©iefen
ibert bie leibenfd^aftlid^fte Slbneigung nid^t, ben
itriard^en aufjufud^en, um fid^ gegen 5Ratl^an von
n beratl^en ju laffen. „3l)r ben ^atriard^en ?"
}t ber Älofterbruber, „ein Stitter einen ^fafs
n?" Unb Toie ber J^empetl^err glei(^fam ent^
utbigenb antwortet: „Sa — bie ©ad^' ift jiems
^ pfäffifd^," fo gibt il^m ber Ätofterbruber einen
^mplarifd^en Sffiinf, ber jeigt, toie tief er in baä
•affentl)um geblidft ()at:
122
(&UiäirDo^ fragt bei $faffe
2^en 9titter nie, bie Baä^ fei aud^ noci^
Sei bcm Äloftcrbrubcr iji bic größte 6l^rK(i^fctt
juglcid^ bie größte Älugl^eit. ©r toitt nid^t, bafe
il^tn bie 3lufträge beö 5ßatriard^en gelingen, unb
baö befte 9Kittel, fie ju freujen, iji, bafe er fie auf
baö ©l^rlid^fte auötid^tet. ®er 5ßatriard^ trägt il^m
auf, ben J^entpel^erm auöjul^ord^en, i^m auf ben
3al^n ju fül^len. ®er Älofterbruber fagt cö bem
2^entpelf)errn gerabe tierauö, mit ber unfd^ulbigfien
3Kiene, unter beut ©d^eine ber ©nfalt. 6r roiH
ben 2^empeltierm ftufeig tnad^en, unb baju ift biefe
Dffenlieit baö unfetilbarfte aJIittel. „3d^ fott mid^
•
bloö nad^ @ud^ erfunben, auf ben S^f)n @ud^
füllten." 2)eutlid^er fann er itim nid^t fagen, bafe
er mit einem bebenfltd^en 3luftrage fommt. Unb
n)ie er ben lefeteren auörid^tet, fo tiört man aus
jebem SBorte l^erauö, wie wenig fein ©inn ju feinen
SJBorten pafet. ®amtt er ja nid^t ate ba§ gleid^^
gefinnte, oielmel^r ate ba§ roiberroitlige SBerfjeug
beö ^patriard^en erfd^eine, fann er nid^t oft genug
mitten in feinem 3luftrage wieberl^oten : „fagt ber
5Patriard^." 6r legt aUeö barauf an, ben ^^empel^
123
l^errn bem platte, für ben er ifin geroinnen foU,
<
abtoenbig iu tnad^en. Unb tt)ie biefer felbft baö
3lnfinnen mit ©tnpörung üerwirft, nimmt ber Älofter^
bruber mit erleid^tertem ißerjcn Slbfd^ieb. „^d^ gel^'
unb geti' oergnügter, afe iä) fam."
&kxä) in ben erften SBorten, bie er mit bem
2^empe(l^erm wed^felt, erfennen wir ben 9Jiann, ber
bie ^anbtungen ber 3Jlenfd^en na6) ü)xex ©efinnung
fd^äfet. ®er S^empelfierr glaubt, ber Älofterbruber
gel^e if)m naä) um eineö 3llmofenö willen, unb wie
er bebauert, il)m nid^tö geben ju fönneti, weit er
felbft nid^tö f)abe, antwortet biefer:
Unb boä)
9lcd§t toarmen 3)anl! @ott geB* @ud^ taufenbfot^
2öa§ 3^x gern geben toolltet! 2)enn ber SQßiEe
Unb nid^t bie @aBe mad^t ben ®eBer.
Sl^m gilt in ber Sietigion Eingebung, 9JiitIeib,
33armf)erjigfeit, Siebe ate ^auptfad^e: in biefem
©inn ift ber Ätofterbruber ein ed^ter ßfirift. 3n
ber Unterrebung mit 5Watf)an, ben er vor bem
fpionirenben ^patriard^en warnt, offenbart fid^ fein
innerfteö ©emütl^. 25er 3ube f)ätte fid^ beö ßfiriften'
finbeö erbarmt, bie 3[Baife liebeooH aufgewogen, unb
foHte bafür bem unbarml^erjigen ©laubenörid^ter
124
oerfaQen? ^ad mQ bem einfad^ menfd^U(|en unb
roal^rl^aft frommen ©innc beö Älofterbrubcrö ni^t
einleud^ten, bcr rocife, ba§ in ber ©cfinnung attcin
©laubc unb ßl^rifientl^um leben.
S)er 5ßatriard^ unb ber Älofierbruber,
einer ber l^öd^fien unter ben SBürbenträgem ber
Äird^e unb einer ber niebrigfien unter ben Saien!
®d l^anbelt ftd^ um baö ©d^idf al eines fiinbeö : me
urtl^eiten jte beibe entgegengef efet ! 3)er 5ßrälat will
baä Äinb lieber im ©lenb umlommen ate von einem
Suben gerettet fetien. dagegen ber Saienbrubet
mit feinem rül^renben Sluöfprud^ : „Äinber braud^en
Siebe." Seibe fül^ren ben 5Wamen be§ Gl^rijient^ums.
SBer von beiben l^at ba§ ©leid^nife uom barml^et^igen
©amariter unb bie SEBorte: „Saffet bie Äinber ju
mir lommen!" roirfÜd^ bel^erjigt? 3)a§ Sßorbilb
beö ^atriard^en in bem d^rifUid^en ©leid^nife i|i
nid^t ber ©amariter, fonbem ber Set)it.
®er Älojierb ruber unb ber S^empell^err:
beibe bem ©laubenöfanatiömuö innerlid^ fremb unb
abgeneigt, ber ®ine ein Silb ber bemütl^igen, ber
3lnbere ein Silb ber floljen Söeltentfagung ! Um wie
oiel erleud^teter aber ift ber Ätofterbruber burd^
feine einfädle unb reine g^römmigfeit, aU ber
125
SCempcd^err burd^ feine leibenfd^aftlid^e unb ftolje
g^retgetfterei! 2)iefer oerad^tet ben jübtfd^en ®Iauben§=
ftotj unb fommt babei bem d^riftUd^en Subenliafe
fo natie, bajg er beim ^patriard^en Statl^ fud^t roiber
3lati)an. Ser STempelfierr fielit in bem 3uben nur
baö '^nbtnt'f)Vim, ben Sleligionömal^n, ben er
Derabfd^eut; ber Älofterbruber fie()t in bem d^rifttid^en
Subenl^afe nur ben ißajg im äufeerften SBiberftreit
mit bem SBorbilbe unb ber ^erfunft beö ^eilanbeö :
Unb tft benn ntd^t ba^ sanjc ß^tiftcnf^um
5lufg S^übcnt^um geBaut? @g ^at mid^ oft
(Geärgert, l^at mir X'^räncn gnug gefoftct,
SQßenn ßl^tiftcn gar fo fe^r bcrgeffcn tonnten,
2)a6 unfer §err ja fclBft ein 3ube toar.
3)er ^lofterbruber imb 3iatt)an, ber ßl^rift
unb ber 3ube: beibe barin einig, baJ3 ©elbfioer^
leugnung unb Siebe beö ©laubenö unb ber 3^röm=
migfeit innerfter Äern finb! 3Bie ?latl^an it)m
erjäl^It, in roeld^em 3lugenblicE er baö ßtiriftenfinb
empfangen, roie eben bamalö fein SBeib unb feine
fieben ©öl^ne von ben 6f)riften erfd^Iagen waren, wie
er ba§ Äinb genommen, gefüjgt, @ott bafür gebanft
l^abe: „3luf fieben bod^ nun fd^on eineö roieber!"
ba ruft ber Ätofterbruber:
126
3^t fcib ein ß^rift! - SBci (Sott, 3^t fcib ein €^#1
ein beffrcr ßl^tift toat nie!
Unb 5Rattian erroiebert:
SBol^I unS! i)enn mi
^id§ @ud§ 3unt ^l^ttften maä^i, ha^ ntad^t @U(]^ mit
3um 3uben!
Snbeffen, fo rein unb ed^t bie g^römtntgfeit bc§
Älofterbruberö ift, bod^ l^at fie etwas ©ebrücftes.
@r ift auf ber %hiä)t vor ber SBelt, er fürd^tet
ilire SBerül^rung. ©eine ©etinfud^t gel^t naä) ber
©infieblerl^ütte auf bent 2^abor, wo er bem ntenf(i^'
(id^en 5Creiben entrüdft ift unb ®ott in ©infam-
feit bi§ an fein feiig ®nbe bienen fann. „^i)
verlange beö 2^agö wol^l fiunbertntal auf 5Cabor!"
Sl^nt ift nur rool^l, wenn er mit f einerlei fingen
unb ©efd^äften ber SBelt ju ttiun tiat. Sorgfältig
get)t er allem auö bem SEBege, womit bie 3BeIt i^n
beunrul^igen fönnte. ®r l^ätte fo leidet üerl^inbem
fönnen, bafe ber 2^empelf)err ben ^patriard^en um
9tatl^ ftagt; ber S^empelfierr toitt il^m felbft bie
©ad^e anoertrauen, er ift fd^on im 33egriff, fein
^erj bem ^(ofterbruber auöjufd^ütten, ba fällt i^m
biefer ängftlid^ in bie JRebe:
i
127
Sfltd^t tocttcr, §crr, nid^t tocttetl
äöoau ? — S)cr §ert öcrfennt mid^. — SQßcr öicl toeife,
^at t)icl ju forgcn; unb td& l^albe Ja
3yiidö einer ©orge nur gelobt.
5Die Sffielt ift if)m unl^eimlid^ , baö ^anbeln
ängftet it)n, er fül^It fid^ unfid^er in betn ©etriebe
bcr 3Kenfd^entt)elt, bie felbft bie befte 2^l^at fo leidet
in fd^ttmme g^olgen t)er!etirt. S)a§ ®ute ift l^ier
mit bem 33öfen fo fein unb bid^t in einanber gewebt,
baJ3 fid^ beibe laum fd^eiben laffen unb, um ba§
SBöfe nid^t ju tl^un, man felbft vov bem ©uten fid^
in 2ld^t nel^men muffe:
2)enn fe^t, id& benfc fo: tocnn an ha^ @utc,
S)a3 i(^ JU tl^un öermcine, gar ju na"^
2ößa8 gar ju ©d^linimeS grenzt: fo f^u it^ lieber
^ag ®ute nid^t; toeil toir ba^ ©d^limme jtoar
©0 aienilid^ äuöcrldffig Icnnen, aber
S5ci tocitem nid^t ba^ ®utc.
S)od^ roo wäre in ber 3[BeIt ein ®uteö ol^ne biefe
gefäl^rlid^e 5Rad^barfd^aft ? ®a wirb freilid^ ber
Ätofterbruber am beften tl^un, fid^ mit ber SBelt
gar nid^t einjutaffen, ba§ praftifd^e Seben ju flief)en
unb befd^autid^ auf bem 2^abor in menfd^entofer
©infamfeit ju leben. S)aö ift bie SBettentfagung,
128
lüeld^c bic SBelt ntd^t übcriütnbct! Unb l^icr ijl
bcr SKangel, an bem bcr cl^rlid^c Sonafibeö leibet.
vn.
©0 fd^roer tft cö, in ber SBeftcntfagung baö
SRid^tige ju treffen! 3n bem Stempell^erm ftö^t ^u
\i6) an bem ©tolj, ber il^r ju ®runbe liegt, an
ber Seibenfd^aft, momit fie ergriffen mirb; in bem
Älofterbruber an ber ^emuti), au§ ber fle (lenjor-
gel^t, unb bie in il^rer g^lud^t t)or ber SBett siim
Äleinmutl^ l^erabfinft. ®en ^empell^errn mad^t bie
SBeltentfagung fd^roermüttiig, ben Älofterbruber ma$t
- fie fraftloö: fo erfd^eint fie in beiben gebunbcn
unb unfrei.
@ö gibt eine SBeltentfagung, bie nid^t t)on fol-
d^en ©d^ranfen gebrüdft ift, eine üoHfommen uner-
fünftelte, unerjwungene, nam, in ber bie ©eelc
il^r t)oIIeö Äraftgefül^I unb ba§ SBolilfein ber grei=
l^eit empfinbet. 3n biefer g^orm mirb fie nur im
Orient geboren; if)r glücElid^er 2^t)puö in unferer
2)id^tung ift ber ©erroifd^ 9ll=^afi.
®a ift nid^tö in ber Sffielt, ba§ biefen S)em)if(i^
129
fcffclt, feine Seibenfd^aft, bie il^n beftridt, fein Out,
ba§ il^n lodft, fein ^err, von bem er abl^ängt. 6t
befifet unb begetirt nid^tö, er l)at bie 3lmiutl^ eines
35ettler§ unb bie Unabl^ängigfeit eineö Äönigö. 6in
freies, t)on feinem ©(aub^näbünfel beengtes ^erj,
ein freier, oon feiner ©iteßeit ber SBett t)erblen=
beter ©inn! SBas l^at biefen ©erroifd^ t)ermod^t, fein
befd^aulid^es Seben ju Dertaffen unb ein aJlann bei
^ofe ju werben, ©efterbar bes ©ultanS: — er,
ber Settler, ©alabins ©d^afemeifter? ©twa bie ^ab=
fud^t, bie babei geroinnen möd^te? S5iefe unterfte
Seibenfd^aft ift bem 2)ern)ifd^ fremb, wie bem
Älofterbruber unb bem 2^empell^errn, fie bleibe in
unferer 5Did^tung bem 5ßatriard^en unb in ber
SQBelt jenen niebern ©eelen, beren ^^^ Segio ift,
bie ber l^od^benfenbe ^piato auf bie le^te ©tufe feiner
9Benfd^enorbnung gefteHt tiat: ben ßl^rematiftif ern !
3)a giebt es t)iele, bie fid^ ju unferem ^patriard^en
uerl^atten, wie biefer ju bem Suben mit bem 6]^riften=
finbe: „3Jlid^ fd^aubert!" — unb bie unter bem
©d^eine entgegengefe^ter ^ugenben innerlid^ eben fo
fd^led^t finb. Dber l^at ber ©ultan in bem ©erroifd^
meHeid^t •einen verborgenen ginanjminifter entbedft,
wie er i()n braud^en fönnte, ber fid^ auf bie Äunft
130
bcö ©parenö Derftel^t? SRcin! ©r ^at im 2)emrif(|
nur ben ©erroifd^ gcrooHt, ber bte S^ugenb bcfilt,
ntd^tö l^aben ju wollen unb ntd^tö ju beimaßen; er
\)at ben Settier gewollt, ber für bie Slmtutl^ am
beften werbe ju forgen rotffen, ber feiner fönig(i(i^en
^reigebigfeit bie t)oIIen ©egel gönnt:
(5in aScttlct toiffc nur, toic f&tülnn
3u 3Rutl^c fei; ein SBctttcr l^abc nut
®elemt, mit gutet SGßeifc Settletn geben.
,,3)etn SJotfal^t/ fprod^ er, „toar mit biet au !alt,
3u raul^. @r toar fo un^olb, toenn et gab;
@tfunbigte fo ungeftüm ftd§ etft
9la4 bem @m^fönget ; nie auftieben, ba^
@t nut bm Mangel !enne, tooUV et aud^
3)e8 ^Ulangelg Xltfad^ toiffen, um bie ®abc
^aä) biefet Xltfad^ filjig abjutoögen.
3)ag toitb 5l^§afi nid^t ! ©o unmtlb milb
SGßitb ©alabin im §afi nid^t etfd^einen!
Sll^^ofi gleitet t)etfto»)ften 9löl^ten nid^t,
S)ie i^te Hat unb ftitt emipfangnen Söaffct
©0 untcin unb fo f^tubelnb toiebetgeben.
9ll=§aft beult, m=^afi fü^lt tote id&!"
Defonomifd^e unb politifd^e Seweggrünbe waren eö
nid^t, atö benen ©alabin ben 3)erwif(ä^ jum ©d^a|^
meifter gemad^t l^at, eö waren rein menfd^lid^e; unb
gerabe beöl)alb l^at fid^ ber S)erwifd^ jum ©d^a|^
131
rtfter btefeö ©ultanö maä)m laffen. ©in fotd^er
iiltan unb ein fold^er S)efterbar! SBenn in biefem
tinbe nid^t bie 3ibee ber SIBol^ftl^ätigfeit oerförpert
rb, ganj unb unt)erlümntert, fo wirb fie bie SBelt
e in il^rer SSoHfommenl^eit feigen.
Slt^afi gel^t ben 33unb mit ©alabin ein, bas
)eal ber SBol^ltl^ätigfeit in feiner ©ee(e: ber «n=
jennü^igfte 2)ern)ifd^ mit bem freigebigften ^err?
)er! Slber 9ll:=ißafi ift ein ju fd^arfblidfenber unb
H)er61enbeter ©eift, um fid^ burd^ ein 3bea( täus
)en ju (äffen. ®r mad^t fel^r balb bie ©rfatirung,
iJ3, um einen ©taatöfd^a^ ju üerroalten, fid; an^
te Sebingungen vereinigen muffen, afe bloö bie
ceigebigleit beö Äönigö unb bie 3Wenfd^enliebe beö
d^afemeifterö, bajg bie beften ©igenfd^aften beö ^er=
n§ fel^r fd^Ied^te g^actoren finb, wenn eö fid^ um
lö ©efämmtroof)! l^anbelt, bafe fid^ baö menfd^en=
eunblid^e Sbeal in 2:i^orl^eit unb SEBiberfinn vex^
f)xt, raenn man mit ©eben unb SBol^ltl^un ben
taatöfd^a$ t)ergeubet. SEBaö man allen abplagt,
irb an einjelne üerfd^roenbet: man mu§ ade be=
ildfen, um einjetnen rool^tjutl^un ; man mu§ auö=
ugen, um fid^ roieber auöfaugen ju laffen. ©o wirb
r mol^lttiätige unb freigebige ^önig, bei Sid^t be=
\
132
tra(ä^tet, eine ^lage ber JDlenfd^en, um julefet eine
93eute habgieriger ju werben. „6ö taugt nun frei^
lid^ nid^tö, roenn g^ürften ©eier unter Slefem finb,
bod^ finb fie Slefer unter Oeiem, taugt*ö nod^ je|n=
mal weniger!" ®er 3)ern)ifd^ fielet ben 83Biberfpru(5
flar ein, bie S^l^orl^eit, ju ber il^n ©alabin m^
fü^rt ^at:
@t toaS ! — cg todr* nid^t ©crfetci,
^ei ^uttbetttaufenben bie ^Ulenfd^en btücfen,
%uSmäx^dn, :plünbent, maxUxn, toürgen, unb
(Sin ^Ulenfd^enfteunb an (Sinjeln' fd^etnen tooKen?
es toät» nid^t ©cdcrei, beS ^öd&ften «ülilbc,
2:ie fonber ^uStoa^l üBer $ö{' unb ^ute,
Unb gflut unb SOßüftenet in ©onncnfd^ein
Xlnb iRegen ftd^ öcrbrcitct, — nad&auöffen,
Unb nid^t be§ ^öd^ften immer \)oUe Qanb
3u l^aBen?
®iefe ©infid^t mad^t il^n unroirfd^ unb unjufriebcn
mit fid^ felbft. „^d^ ©ecf, ic^ eineö ©ecfen ©edf!" (St
muJ3 bie Xi)ox^ext üerbammen, ber ©ad^e ben redeten
9lamen geben, feine ©elbfttäufd^ung gut mad^en
burd^ ba§ offenfte Sefenntnijg; er ift ju n)al^rl^eit§5
Uebenb, um fid^ blenben ju laffen, um bie er!annte
33(enbung ju fd^onen. Unb bod^ ift in ©alabinS
e^reigebigfeit ein großes 6erj, bem fid^ Slt^afi
133
t)em)anbt fül^It; er tann nid^t anberö als an ber
©eiferet, wie er ed nennt, bie gute ©eite bennad^
auöfpüren, unb bafe er e« tl^ut, ba§ er bie "^ox-
l^eü, bie er perroerfen mufe, im ©tiHen nod^ liefet,
verbriefet il^n t)on neuem:
Saftt meiner ©edctei
3Riäi boä^ nux aud^ ettoäl^tten ! — SöaS? eg toäte
9lid^t @ecfetei, an fold^en ^etfeteien
3)te gute Btik bennod^ auSjufipüren,
Um Slntl^cil btcfet guten ©ettc toegen
Sin btcfet ©etfetei ju nehmen !
©0 finb in unferem ®ern)ifd^ Äopf unb ^erj
jefet in offenem 3«)iefpalt; fie waren, el^e er S)efter:=
bar rourbe, in t)ottem ©infiang. @r fetint fid^ nad^
bem 3)ent)ifd^ jurüdE, ber ni(^tö alö 3)ern)ifd^ mar.
33alb l^ängt baö ©l^renfleib, ba§ ©alabin il^m gafe,
in Sierufalem am 5WageI —
Unb
S^ Bin am ^angeS, too id^ leidet unb batfug,
2)en l^ciften ^anb mit meinen Sel^tetn ttete.
6r pafet nid^t an ben fiof. ©elbft baö einjige
SSergnügen, baö er leibenfd^aftlid^ liefet, baö ©d^ad^=
fpiel, wirb il^m perleibet, ©alabin oerliert an ©it^
tal^ ungel^eure ©ummen: baö möd^te nod^ gelten.
134
bcnn ©ittal^ fpart fie, unb bie r>exlomen ©d^ad^
pdrtien bcö ©ultanö finb an bicfem ^ofe bie cinjige
l^etmltd^ getriebene ginanjnnrtl^fd^aft, bie nod^ auö^
^ilft. 316er affeö l^eimlid^e treiben ift nid^t mi^
ber 3lrt beö ©ernnfd^, unb er finbet ftd^ nur not^-
gebrungen in bie fiift unb baä aSerl^eimlid^en ber
guten ©ad^e. 3lber ©ittal^ gewinnt nid^t bIo5 ba§
@elb jum ©d^ein, fonbem aud^ bie ?ßartie auf bem
©d^ad^brett. ®er ©erroifd^ ftnbet fie beim ©picl,
©atabin öat bie 5ßartie nod^ nid^t uerloren, er
brandet ben Äönig nur an ben Sauer ju rüdfen, fo
befommt ber ^l^urm ^Jelb, unb bie ^Partie toirb gc-
Wonnen; er jeigt e§ beut ©uttan, unb biefer wirft
gleid^güttig baö ©piel über ben Raufen. SH-^afi
foH (Selb fd^affen, er fotl bei 5Rat^an, feinem
greunbe, borgen, b. 1^. er foH, wie er bie ©ad^e
fielet, ben g^reunb auöplünbern l^elfen.
Slffeö ©d^ein ! g^reigebig!eit unb SBSo^It^un unb
©d^ad^fpiet! ©ittal^ gewinnt, ©alabin oerliert jum
©d^ein. ®aö foH ein anberer ertragen, ate ber
©erwifd^, ber ben ©d^einweftl^en ber SBelt fo grünb-
lid^ e?^inb ift. aSerftimmt unb ärgerüd^ ift er fd^on,
er ift fid^ fd^on entfrembet, er wirb nod^ ein SRen^
f4)enfeinb werben, wenn er nid^t bei Seiten in fein
135
freies ©lement jurüdfel^rt. Unb mit einö ifi er
auf unb baoon. ?ßur t)on 3iatl^an nimmt er ab«
fd^eb, am liebften näl^me er iljn mit fi(3^ in bie
pl^ilofopl^ifd^e ©infamfeit.
@$ gibt SBorte, bie ben aWenfd^en auöfpred^en,
fo mal^r unb eigentl^ümlid^ fommen fie auö bem
Snnerften ber ©eele. Unb roenn id^ mit einem
feiner SBorte biefen S)ern)ifd^ bejeic^nen fottte, mit
einem SBorte, baö ganj er felbft ift unb baö i^n
mir fo lebenbig t)orftettt, als ob iä) ü)n l^örte, fo
ift eö ber Sluöbrud feiner ©eJ^nfuc^t, wie er t)on
3lat^an Slbfd^ieb nimmt: „21 m ©angeö, am
©angeö nur gibtö 9Jienfd^en!"
3a, Slatl^an l^at SRed^t, roenn er i^m nad^ruft:
äöUbcr, gutcx, cbicr —
2öic nenn' iä^ il^n? — SDcx tool^rc SBcttIcx ift
350d^ cinjig unb allein bct toa^xe Äönig!
35od^ l^at aud^ in bem S)ern)ifd^ bie SBeltent^
fagung nod^ etraaö, baö fie läl^mt unb bei attem
Äraft' unb g^rei^eitsgefül^l unpraftifd^ mad^t. 3n
einer geraiffen SRüdfid^t muffen wir aud^ biefen ^Cppuö
ber Sffiettentfagung nod^ neben ben Älofterbruber
unb ben 2^empel^errn ftetten.
136
Die ^JJrobe echter ©elbftoerlcugnung ift bie SSelt^
überiDinbung, nid^t bie SBettentfrembung. @i(i& b«
3Belt entfremben Reifet im ©runbe bie ©elbftoet^
leugnung fiel leidet mad^en, unb ha^ ift juleftt ein
3Wangel an ©elbftoerleugnung. Unb barin, fo w-
fd^ieben fie finb, gleid^en fid^ biefe brei ß^araftere,
ber Xentpel^err, ber Ätofterbruber unb ber S)er=
roifd^: bafe fie bie ^robe ed^ter SBeltentfagung niii^t
beftel^en, ba§ il^re ©elbftüerleugnung in ber SBett-
entfrentbung befangen bleibt, ba§ fie bie bem
3Wenfd^enIeben abgeroenbete ©infamleit begierig auf-
fud^en. 35er 2^empell^err liebt bie einfamen SBege:
„aWad^* mir bie ^ßalmen nid^t t)erl^a§t, worunter id^
fo gern fonft roanble!" S)er Älofterbruber oerlangt
beö 2^ag§ too^I ^unbertmal auf S^abor. Unb ber
©ertoifd^ ruft ooffer ©e^nfud^t: „2lm ©angeö, am
©angeö nur gibts aWenfd^en!"
Öier ift bie SBeltentfagung nod^ auf ber glud^t
oor ber 3Bett. Unb in biefer SRid^tung uerl^ält fid^
bie aWenfd^enliebe gerabe umgefel^rt, ate in ber
Äörperroelt bie Slnjiel^ung, bie mit ber ©ntfemung
abnimmt: biefe aWenfd^enliebe raäd^öt mit ber QnU
fernung, fie wirb erft frei in ber SBBüfte; mitten
unter SWenfd^en, roo bod^ i^r eigentlid^eö g^elb fein
137
ottte, tmrb fie ocrfHmmt, fo ocrftimntt, ba§ fie
dü^t in xf)t ©cgcntl^eil umfd^lagen fönnte. 2)ad
P, toaö ber tnenfd^enfunbige 5Rat^an bei feinem
Jreunbe ffirci^tet:
^I^^afl, mad^e, bag bu Balb
3n bcine SBüftc toicbcr fömmfl. 3* föxd^tc,
(Stab' unter ^enfd^en möd^tefi btt ein ^enfd§
3u fein Verlernen.
VIII.
^afabiit nitb ^iita^.
SBtr nJoHen bie ©elbftoerleugnung unb bie SBelfc
mtfagung nid^t in einem SBinfel ber SBelt, nic^t
in menfd^enfd^euer ?Jtud^t, fei eö naä) bem Xahox
ober naä) bem ©angeö, fonbern auf ber ^öl^e ber
JBelt feigen, unter i^r baö menfd^lid^e 2;reiben. S)ann
Mft fönnen nnr bem äuöfprud^e 3lat^aM ganj bei*
ptimmen: „S)er raal^re Settler ift bod^ einjig unb
tittein ber roal^re Äönig!" 5Diefe föniglid^e ^Jorm ber
Selbftuerleugnung ^at il^ren 2;9puö in bem l^err=
lid^en ©alabin. _
3loä) bet)or bie ©id^tung iijn felbft t)or unfere
äugen fül^rt, läfet fxe unö be§ ©ultanö ärt burd^
^
138
einige Süge erfennen, bie fie il^m erjäl^Ienb Doraus-
fd^idft. ©r f)at bem Xentpell^erm baö Sebcn gc^
fd^enft, TOeil il^n bie 2lel^nli(i^feit mit bem löngft
verlorenen Sruber gerührt ^at : fo lebenbig ift in
feiner ©eele baö. Sitb beö Sruberö geblieben, jo
treu ^at er baö 3Inbenfen an feinen Slffab beroa^rt!
S)ie brüberlic^e ©mpfinbung ©alabinö ift mäd^tiger,
ate ber ^a^ gegen feine ärgften g^einbe. 6r ifi
järtlicl unb ^ingebenb für bie ©einigen, aufopfemb
unb TOol^lt^ätig für alle. ,,©ein ^au§ ift grofe/'
fagt SRatl^an ; ber S)ern)ifd^ ^at eö erf al^ren : ,,Unb
größer als 3l^r glaubt, benn jeber Settter ift Don
feinem ÖÄufe."
SBeld^es anmut^ige a3ilb geroöl^rt unö biefer
©ultan, wie er mit feiner ©c^raefter ®^a^ fpiett,
in traulichem ©eplauber, mit bem ©piele faum be^
fd^äftigt, il^r jeben SBortl^eil laffenb, ^alb aus 3^-
ftreuimg, l^alb aus ®ef allen, von i^x befiegt ju
werben, aus bem SBunfd^, an fie ju verlieren,
©old^e 58erlufte finb i^m roittfommen. 5!Kit t)otten
^änben geben, ift feine £uft. ©d^äfee bebarf er
nur, weil feine g^reigebigfeit fie brandet. 6rft wenn
bie ®bbe eintritt, fommt bie ©orge, bie il^n wenig
brüdt.
139
2öo8 fc^U?
SDßoä fonft, als toa§ iä^ faum ju nennen toütbige?
2öa8, toenn id^'a i^abe, mir fo ükxftüffig,
Unb -^ob* id^'g nid^t, fo unentbc^rlidft fd^eint.
3lux eine ©orge quält tl^n ernftlid^, nur fie attein
bringt i^n an§> ber g^affung, nid^t bie ©bbe im
©d^afe, nid^t ber Ärieg üor ben 2^^oren:
äÖQg \)on je
9Jlt(^ immer au§ ber gfaffung ^at gebradgt:
3d^ toar auf Sibanon bei unfcrm SBatcr;
@r unterliegt ben ©orgen nod^.
S)iefeö ben järtlid^en Steigungen fo offene Qeti
mag im ©ttHen aud^ feine ©d^idffale unb SSerlufte
erbutbet ^aben, eö ^at fid^ männtid^ gefaxt unb
fd^nett TOieber aufgerid^tet. ®ö roaxtn nur feine
SSerlufte. 9Kit einem leidsten SBort ftreift er barüber
l^in. Söie ©ittal^ i^m bie Äönigin laffen raitt, bie
fie nel^men fann, f agt ©alabin : „3iein, nein, nimm
ttur bie Äönigin, id^ war mit biefem ©teine nie
ted^t glüdflid^. — g^ort bamit! — 35aö tl^ut mir
nid^tö!"
3n ©alabin erfd^eint bie ©elbftoerleugnung in
il^rer ©röfee, burd^ feine ©d^ranfen beengt unb ge=
brüdft. auf ber ^ö^e ber 3Äad^t ift er bebürfnife^
140
lod unb einfad^. ©eine ©elbjtoerleugnung ift gc^
wältig, bie qani ungefünftelte unb ungejroungcne
©etbfibel^errfd^ung, in ber fid^ feine ©eele
mäd^tig unb frei fü^It. SBon l^ier fommt il^m bie
Äraft, 5Wenfd^en ju bel^errfd^en. gür jeben 3^9
in ©alabin l^at Seffing ein SBort gefunben, baö
i^n ganj unb unnad^al^nttid^ au§fpri(|t. S)ie 3Borte,
bie feiner unabl^ängigen, von ben ©ütern ber SSelt
ungefeffelten ©eele ben er^abenfien Sluöbrud leiten,
fotten TOirflid^ fein Söal^lfprud^ geroefen fein:
ein StU\h, ein ©d^tocxt, (Sin ^fetb — unb ©inen (Sott!
äßaS BtQud^' id^ mel^r? äöenn Iann'§ an bem mit f eitlen?
3n biefer großen 3latux ift nici^tö flein, nid^ts
eng unb ^ä)VDää)ixä). 3n jebem .3^9^ atl^ntet ein
freies ©entütl^, baö befreienb wo^ltl^ut unb burci^
feinen ©chatten bünfell^after ©elbftfuci^t getrübt
TOirb. ©ein ©inn ift offen unb empfänglici^ für
alles menfd^li(i^ ©rofee; baö (Sble, wo eö fi(j^ regt/
wirb t)on il^m willig unb freubig wiHfommen ge«
l^eifeen afe etwaö il^nt SSerwanbteö: im SJerwifd^
bie eä)te Uneigennüfeigf eit, in 3iatl^an bie tief blid enbe
SBeiö^eit, in SRic^arb Söwcnl^erj bie ritterliche gelbem
gröfee. S)a ift feine ©d^eibewanb jwifd^en bem
141
Äönig unb bctn Setticr, jroifd^en bem 3Äufcltnann
unb bem 3iuben, }n)if(|en bem ritterlichen ©ultan
unb bem ritterlichen ß^riftenfönige. ,,SBenn bu
beinen 3W(|arb nur loben fannft!" fagt ©ittal^.
Unb ©dabin:
aOßcnn utifcrm Sriiber 9Jlclcf
SDann 9^t(^Qrb§ 6c^toefter toäx' au ^l^eil getoorben:
^a! tocld^ ein ^au8 aufammcn! ^a, bcx crftcn,
SDct Bcftcn ^äufcx in bcr äöclt boS Befiel —
SDu l^öxft, id6 Bin, tnid^ felBft ^u loBen, anä^
^iä^i foul. 3d6 bünf tnid^ meiner fjreunbe toertl^.
35q8 l^dtte 9Jlenfd^cn geBcn foKen! bo^!
Unb berfelbe 5Wann, ber fo warm für ben d^rift«
tt(ä^en Äönig empfinbet, fann jum ©erroifd^ fagen:
„Sltöafi benft, at^afi fü^It, wie id^!"
(Sin fold^er, für baö ec^t 9Kenf(ftlid^e, too eö fid^
jeigt, tief empfänglicher ©inn ergebt fid^ leidet über
bie 5ßorurtl^eile unb Sefangenl^eiten ber 5Wenfd^en.
©old^e ©d^ranfen finb. nid^t für il^n. ®r burd^^
fd^aut bie 9Wenfd^en, barum brandet er fie nid^t ju
fürd^ten nod^ ju meiben; er gönnt jebem feine
SBeife; lebenöüoH, roie er felbft ift, roitt er Seben
um fid^ verbreiten unb nähren. ©ieg^üHe beöSebenö,
bie SWannid^faltigfeit feiner g^ormeh ift il^m nid^t
142
brüdcnb, fonbern exqnidliä), @r i)at ba§ %akni
ed^ter, neiblofer S)ulbun9. S)aö ®ute in atten
formen pflegen unb entroideln, ift il^m SebürfniS
unb Seruf. ©in roal^rl^aft fürftlid^eö SBort, ba§
er bem S^entpel^errn fagt, ein SBort, in bem i^
mir am liebften biefen ©ultan uergegenm artige:
SBIicbft bu too^I bei mit?
Um mid^^ 5118 ^xi% aU aRufcImann: ßlcid^bicl!
3m tocijcn Tlanid, ober ^amcxlonf;
3in jtulban ober bcincm gfil^c: tote
S)u toittft! (SIetd^t)iel!.3(3^ l^abe nie t)etlangt,
35a6 allen SBöumen eine 9linbe toad^fc.
Unb treffenb ift, waö ber ^^empel^err i^m entgegnet:
©onft toärft bu oud^ too^l fd^toctlid^, ber bu Bifl:
2)er ^elb, ber Heber (SotteS ÖJärtner toöre.
S)en 2^itel, ben il^m feine fierrfd^ermürbe gibt,
möd^te er nid^t 6Io§ jum ©d^ein fül^ren ; er möd^te
fein, maö er l^eifet : „SSerbefferer ber SBelt unb be§
©efefeeö/'
Um biefen ©ultan ganj ju uerfte^en, muffen
wir il^n belaufd^en in feinem ©efprdd^ mit SRatl^an,
wie biefer il^m bie ©efd^id^te t)on ben brei SHngen
erjäl^lt. Slud^ ben poetifd^en 3ug in bem morgen-
länbif(ä^cn JJürften ntöd^te iä) nid^t überfe^en, ber
fid^ fo navD auöfprid^t: „3d^ bin ftetö ein ejreunb
geroefen t)on ©efc^id^ten, gut erjäl^lt." ®ö ift in
unferem ©alabin etroaö von Qaxnn SltSRafc^ib.
Sluö eigenem Slntriebe mürbe ber grofeben!enbe
©alabin, ber unter ben ntannid^fattigen Sebenö-
formen aud^ bie ©laubenöformen gern geroäl^ren
Iä§t, fd^roerlid^ auf ben ©infatt gefommen fein, an
Slat^an bie etroaö peinlid^e g^rage ju rid^ten, roeld^er
©laube il^m ber befte fd^eine? (Sine fold^e g^rage
liegt nid^t in feiner 9lrt, am wenigfien, ba§ er fie
wie ein 3lefe auöroirft, um ben Suben ju fangen,
ba§ er fie alö aJlittel ju einer 3wang§anleil^e brandet.
6ö ift fe^r fein von Seffing angelegt, bafe er nid^t
©alabin, fonbern ©ittal^ biefeö ©piel auöbenfen
läfet. ©ie möd^te bem SBruber auö ber ©elbnotl^
Reifen. ®a faßt il^r Jlatl^an ein, ber g^reunb
3ß=ieaftö, ber 3ube, beffen SReid^t^um fie fennt,
beffen S^ugenb unb 3Bei§l^eit man i^r gerül^mt l^at;
Slt^afi mad^t fie irre, er möd^te fie übeneben, bafe
3iatl^an fo geijig als reid^ fei, unb für biefen gaU
l^at ©ittal^ bie oerfänglid^e ^rage erbad^t. ©ala=
binö brüberlid^e Siebe läßt fid^ bie SRotte gefatten,
bie feine $Ratur mit SBiberftreben annimmt. 6r
144
tl^ut eö ©itta^ iu Siebe. Site eipe gatte roirb et
bie g^rage ttid^t braud^en, er nimmt fie w)n ü^rct
ungetoöl^nHd^en , menfc^Iid^ bebeutenben Seite als
einen großen ©egenftanb, ber il^n interefjtrt. 3«
ben Kriegen, bie er filiert, gilt bie SReligion ate
eine ^rage ber SKac^t; in bem ®efpräd^e nrit
3lati)an, in ber ^rage, bie er il^m vorlegt, töitt et
fie gelten laffen nur t)on ©eiten il^reö aBert^ö.
@ine fold^e auf bie ©ad^e felbft gerid^tete gtage
fd^eint il^m eines ^errfd^erö nid^t unroürbig.
®r ift gefpannt, n)ie ?ßatl^an fie löfen toitb.
3n biefer ©pannung ^ört er bie ©rjäl^lung Don
ben SRingen. 35er SRing von unfd^äfebarem SBert^
bebeutet bie Sfteligion. 3lur eine lann bie roa^te
fein. ©0 fd^eint eö bem ©ultan. 3l^m ift atte§
einleud^tenb, fo lange bie ©efd^id^te nur von einem
SKnge weife. Slber bie brei SRinge in ber öanb
ber brei ©öl^ne, bie ber 58ater gleid^ geliebt, biefe
brei 3Wnge, bie nid^t ju unterfd^eiben feien, biefe
SBenbung auf bie brei SReligionen mad^t il^n be-
troffen. 35er ed^te SRing fei nid^t mel^r enoeißli^
faft fo unenoeiölid^ als un§ jefet ber redete ©laube:
biefe Söfung roitt i^m nid^t gefallen, fie ifi fo gut
als feine.
145
S)cm ©ultan in ber italienifd^en SRooeHe roat
cö nid^t utn bic ©ac^e, bloS um bie SBejrtrfragc ju
Üfm, bie ben ^uben in bie glatte bringen foH; er
ifi begierig, wie fid^ ber gube aM ber ©d^linge
jiel^en wirb, barum genügt biefent ©ultan bie ge-
Wate unb fein erbad^te SBenbung. 5Rid^t fo ber
©alabin unferer ©id^tung, bem eö auf bie ©ad^e
anfomntt, ber auf bie Söfung brennt, auf bie ®nt-
fd^eibung ber großen ntenfd^lid^en g^rage. ®as
©leid^nife lööt i^m bie g^rage nid^t. ®x fie^t ben
5ßunft, tt)o ©inn unb SBilb einanber wiberftreiten :
bie SRinge feien nid^t ju unterfd^eiben, bie ^Religionen
finb eö, fie finb t)erfd^ieben bis auf bie Jlleibung,
bis auf ©peif* unb Xranf! 2)od^ in einem
?ßunft finb fie gleid^: jebe SReügion glaubt fid^ bie
ed^te, biefer ©laube rul^t in ber SRatur be§ menfd^s
lid^en ©emütl^ö auf fel^r tiefen ©runblagen. 5Wit
einem einzigen Söorte jeigt 3iatl^an bem ©ultan
biefe natürlid^e ©laubenöqueffe, meldte in allen
^Religionen biefelbe ift: „3Bie fann id^ meinen
SBätern weniger als bu ben beinen glauben?"
S)ie ©laubenstreue l^ängt auf baö Snnigfte ju*
fammen mit ber g^amilienliebe, ber 2lltar mit bem
Öeerb. 2)iefes SBort greift in bie ©eele ©alabins,
ftuno fjfifd^er, ®. Qt. Sefjlng. II. 10
146
ber felbft fo järtltd^ bie ©einigen liebt ; fein ©laube
ift ber ©laube feiner SSäter. ,,a3ei bem Sebenbigcn!"
fagt er ju fi(| felbft, ,,ber SIKann ^at xe^t, i^
mu§ üerftummen !"
2)ie ©laubenötreue, l^artnädig unb auöfd^Iielcnb
auf jeber ©eite, bringt bie ^Religionen in ©treit,
bringt bie ©öl^ne mit il^ren SRingen in 3tt^i^h:ö(i^t
unb julefet vov ben SRid^ter. ®a§ ift bie Sage ber
SBelt, in ber ©alabin lebt, felbft ein Kämpfer für
ben ©iauben ber ©einigen, ^iex ift ber ^unft,
roo er SRatl^an mit feiner ©rjä^lung erwartet. Sefet
Rubelt e§ fi(ä^ um bie mirflid^e Söfung ; ungebulbig,
in ber gefpannteften ©rraartung, fäHt er il^m in
bie SRebe:
Uttb nun bcx Slid^ter? Tiiä^ bctlattöt au l^örcn,
2BqS bn ben ^iä^itx fagen Idffcft. Bpxi^ !
@r l^ört, maö feine erweiterte ©emütl^öart fd^nett
unb freubig begreift. 2)er ©treit ber ^Religionen
entbinbet alle bie ßeibenfd^aften, meldte ba§ 2Befen
ber ^Religion tJoßfommen üerbünfeln. ©o lange bie
©öl^ne il)ren ©lauben t)on gegenfeitigem öa§ näl^rcn,
finb i^re SRinge alle brei nid^t ed^t. ,,S)er ed^te
9Kng permutl^li(^ ging verloren." — „ö^trlid^!
^errlid^!" ruft ©alabin.
147
Unb wie nun bcr 6cf(^eibene SRid^ter ftatt feinet
©pru($eö feinen SRatl^ giebt : jeber möge feinen SRing
ben ed^ten glauben, möge bie Äraft beö ©teinö in
feinem 9ling beweifen, burd^ feine Siebe bie Siebe
ber anbern erweöen, bann werbe ber ^ag ber
5ßerföl^nung fommen unb mit i^m ber roeifere
SRid^ter , ' ber niä)t mel^r nötl^ig l^at, ein SRi(^ter
}u fein, — fo wirb eö bem ©ultan Sid^t unb eö
bringt in feine ©eele wie bie ©timme ©otteö. ®r
fann nur ausrufen: „(Sott! ®ott!"
3n biefem 2Sorte fül^lt fid^ SRatl^an ganj vex^
ftanben. S^fct wenbet er fi(^ unmittelbar an beu
©ultan :
©alobin !
SCßenn bu bid^ fül^Itcft, biefcr tocifcre
SSctfprod^nc Tlann ju fein —
Unb l^ier jeigt fid^ bie reine Söirfung feiner ©r^
jäl^lung in ©alabinö ©eele. ©r ift ni(^t beraufd^t
von biefer 3lu§fid^t auf baö große S^d ber Seiten,
t)on ber 2lufgabe, bie il^n l^erauöforbert ; er ift
überwältigt, ergriffen, baJ3 il^m baö SBort tjerfagt,
er fielet nur, wie weit er unb feine 3^i^ ^^n bem
3iele entfernt finb, er fül^lt biefem ^kU gegenüber
nur feine 5Rid^tigf eit :
148
3d6 ©touB? 3di g^id^ts?
O (Sott! ^aif)an, lieber 9lat^n!
SDte taufenb taufenb ^al^te betne§ Stid^terS
©inb nod^ nid^t itm. — ©ein 9lid^tcrftul^l ift nid^t
Set meine. @el^ ! (Sel^ ! ^Ber fei mein gfreunb.
S)ief c ©ccnc jiüif d^cn ©alabin unb 3laÜ)an tfl
ein SBorbilb geworben, ba§ bramatif(ä^e S)id^ter jur
Slad^a^ntung gereijt l^at : biefeö 9Jiotit), toeld^eö ben
SBeltbel^errfd^er unb ben SBeltweifen einanber un-
mittelbar gegenüberftettt. ®ie größte ^Rac^bilbung
biefer 9lrt ift bte berül^ntte ©cene jn)if(j^en ^l^ilipp
unb ^ßofa in ©c^iHerö 2)on 6arIo§, jn)if(|en betn
SBeltbefpoten unb bem SBeltbürger. ^d^ gebe ber
©cene im 5Ratl^an ben SSorjug. 3^ weiter bie
beiben ßl^araftere ll^rer SRatur nad^ auöetnanber
liegen, um fo gema(^ter unb imaginärer wirb ü^re
Serül^rung. Seffing erreicht mit ben einfad^fien
^Mitteln ftufenweife bie größte SBirfung, unb wenn
fid^ julefet bie ©eifteötjerwanbtfd^aft jwifd^en SRatl^an
unb ©alabin entl^üHt unb alö ^reunbfd^aft befefUgt,
fo fommt bod^ nur jum 3Sorfd^ein, wa§ in bcr
©runbftimmung beiber ©l^arattere angelegt ift.
S)arum ift bie SBirfung be§ ©anjen unwiberfte]^li(]^.
S33ie t)ortrefflid^, wie meifterl^aft l^at Seffing biefeö
149
®efprä(ä^ eingeleitet! S)er ©ultan, ber juerft bie
^age toie au§ bem ©tegreif l^inrairft, mit ber Saune
beö öerrfd^erö, mit einem fürftlid^en 2)ilettanti§mu8,
ber biefe fd^roerfte unb umfaffenbfte aller fragen
nid^t bloö ol^ne weiteres beantwortet l^aben will,
fonbem au(| in aller Äürje^. fo fd^neH ate möglid^ :
• @o xcbe bod^t
@^tid^! — ober toittfl bu einen ^IngenBIitf,
SDid^ 3U Bebenfen? (5Jut, i^ geb' i^n hix. — 2)enf nod^!
®ef(^totnb ben! na^l
Seber 3ug — ein ©ultan ! Unb nun von ber
SBebeutung ber ^Jrage ergriffen, wirb er immer tiefer
in bie ©ad^e ^ineingejogen , je weiter 3latl^an in
feiner ©rjäl^lung f ortf d^reitet , bis il^m jutefet ber
©ultan ganj üerfd^winbet unb er ausruft: „3d^
©taub! id^ 5Rid^tö!"
2)iefe ©cene l^at eine feltfame 5ßrobe beftanben.
2lls ben 26. mä^ 1842 Sefftngs 3lat^an in einer
gried^ifd^en Ueberfefeung ju ©onftantinopel tdov
©ried^en unb 2;ürfen aufgefül^rt mürbe, munberten
fid^ juerft bie 2;ür!en, ba§ ber Sube mit bem
©ultan fo freimütl^ig umgel^e, unb julefet brad^en
fie in Subel aM über bie ^rjöl^lung t)on ben bret
SRingen.
150
3lo^ ein SBort über ©ittal^, bic neben Sa-
labin, für ben fie lebt, in i^rer weiblid^en Slrt fo
eigentl^ümlid^ l^eroortritt unb von bem ®id^ter fo
fpred^enbe 3^9^ empfangen l^at, bajs wir biefcn
ß^arafter gern etroaö naiver beleu($ten. 3" ©ö-
labin ift aUeö großartig ; ©ittal^ liebt i^n, wie nur
eine ©d^roefter einen» fold^en SBruber lieben fann;
fie l)at i^re ©eete naci^ biefem SSorbilbe gerid^tet,
unb ber üerwanbte ©eifteöjug ift in ber ©d^roefter
unoerfennbar. ®od^ l^at i^n bie 3^atur nad^ lueib-
Ud^em 9Ka§e etroaö üerHeinert, unb gerabe iahnxi)
wirb ©ittal) eine anmutliige ©rgänjung ©alabinö.
3n feiner großen SBeife ju benfen unb ju empfinben
überfielit ©atabin (eid^t baö steine, ba§ i^m in
ben SBeg tritt unb ju geringfügig fd^eint, um be^
ad^tet ju werben. (Serabe l^ier, wo e§ fid^ um eine
rid^tige ©d^äfeung ber SDinge unb aSerliältniffe
lianbelt, ift ©ittal) fd^arfblidfenber, menfd^enfunbiger,
flüger. 5Die SCäufd^ungen unb 5ßerlegenl)eiten bleiben
für ©alabin nid^t auö; ©ittal^ läjst fid^ weniger
täufd^en, ilire 5ßorforge, ilirUrt^eil unb Sftatl^ fommen
bem S3niber l^ilfreid^ entgegen unb juoor. ©o fül^rt
fie im Äleinen eine SKrt ^errfd^aft über ©atabin,
weld^e biefer fo gern erträgt unb einräumt, ©ie
151
taufd^cu beibe i^re ©d^roäd^en au§, unb baö giebt
bem gcfd^tDiftcrlid^en 5ßerfel)r, ber nid^t inniger fein
fann, ben liebenöroütbigen, lierjlid^ ^umoriftifd^en
Xon. ®ie SBerbrüberung mit Slid^arb Söroenl^er}
Toar ein Sieblingögebanfe ©atabinö; ©ittal) l^at
be§ fd^önen 5Craumeö gleid^ gelad^t, fie fennt bie
©Triften bejfer unb ifiren @lauben§ftotj, fie fie^t
bie 3)inge fd^drfer afe ©alabin, jugleid^ empfinbet
fie Heiner, fie ift über ben ß^riftenftolj erbittert,
n)a§ ©dabin nid^t ift, ber biefe 2lrt be§ ®ünfelä
unter bie Dielen „2lnnfe(igfeiten" red^net, bie er
überfielit.
3«it ©alabinö g^reigebigfeit fd^Iiefet ©itta^§
©parfamfeit einen ^eimtidöen, bem 33ruber felbft
verborgenen 33unb. 2Bie fie i^re.Defonomien mad^t,
ift d^arafteriftifd^ genug, ©ie legt jurüdf, mas
fie bem Sruber im ©piele abnimmt, unb ba§ roeib«
Ud^e SCatent ju fparen gel)t bei i^r ^anb in ^anb
mit ber roeiblid^en 5Reigung ju gewinnen. 3Kit bem
©piele felbft nimmt fie e§ ebm nid^t fe^r genau,
bie 3^^ft^^iitf|eit ©alabinö fommt i^r ju ftatten,
unb am @nbe lä^t fie fid^ gern gefallen, bafe ber
83ruber feine Partie Dor ber 3^^ für verloren l)ält;
fo gewinnt fie mit einem fleinen Setruge, in ber
152
tieften m^xä)t ber SBett, batnit ®elb in bie ©pat^
faffe fliege.
©ittal^ö &)axattex ift bei roeitem fo einfad^ niii^t,
ate ber ©alabinß. ®ine SDlenge weibli^er 3^0^/
bie fid^ faum bemerfbar mad^en, fpielen in i^te
SDlotioe liinein; fie l^anbelt fo, bofe fie unter einem
ißauptintereffe ber ebelfien Slrt einige fleine SReben-
intereffen mitbefriebigt. ^n biefer Ätugl^eit befte^t
il^re Sift. Unb eö gehört ju il^rer SBefriebigung,
mit einiger Sift ju lianbeln. SBir l^oben fd^on eine
^robe baDon fennen gelernt. SDer ©etbDerlegen-
l^eit ©atabinö mufe abgel^olfen werben. S)ieö ift
im Slugenbliif il^r ^auptjwedf, ber fid^ am teid^-
teften burd^ eine Snleil^e bei 5Ratl^an erreid^en liefee.
3ugtei^ intereffirt e§ ©ittal), bei biefer ©etegen-
l^eit ben SJlann fennen ju lernen, von bem fie fo
met geliört i)at; fie roeife bereits, bofe er fo thm
t)on weiten Steifen jurüdfgefel^rt ift; id^ glaube, bei-
läufig gefagt, fie ift etwas neugierig. — 2lber wie
SÄl^^afi i^n barftettt, fd^eint ber 3ube in ©elbfac^en
f(^wierig ju fein, ©ittal^ mad^t fd^neU il^ren ^tan,
ber auf beibe ©eiten pafet, auf ben weifen 5Ratl§an
ebenfo gut alö auf ben geijigen: fie erfinnt jene
grage, bie ©alabin il^m vorlegen foll, ate eine
153
galle für bcn geijigen, ate eine Slufgabe für bcn
weifen Suben. Unb wie nun SRatlian felbft erfd^eint,
mö(i^te fie am liebften im SRebenjimmer l^or(3^en.
SBo ü^r 3ntereffe erregt ift, erwogt ifire 9leugierbe,
SSei bem ©efpräd^ jwifd^en ©atabin unb bem
2^empell^erm bleibt fie jugegen, unter ilirem ©(3^teier
joerborgen. ©ie will fetbft bie QüQe be§ SCempet
l^erm mit bem 83ilbe 3lffabö üergleid^en. ©o er^
fäl^rt fie, was ber S^empelfierr bem ©ultan an^
t)ertraut, bie Oefd^id^te 5le(3^aö unb bie Seibenf^aft,
weld^e ben Slitter Derjel^rt. 5Diefer l^at SBoliIgefallen
in il^ren Slugen gefunben, fie wirb feine Seiben?
fd^aft begünftigen, unb bamit SRat^an nid^t ein SRed^t
geltenb mad^e, baö er ni^t liat, wiH fie Sled^a felbft
in il^ren ©d^ufe nelimen, ©alabin foH baö 3Käb^en
Idolen taffen, bamit fie bem unred^tmäJBigen SSater
entjogen werbe. 33to§ beöliatb? ©ittal^ liat babei
nod^ ein anbereö Sntereffe, ein ed^t weibtid^eä, baä
ganj ju i^r pafet: fie möd^te baö 3Käbd^en felien,
baö ber SCempell^err liebt, fie geftelit es aud^ offen :
2)te Itcl6e 9fleul6egiex
%xdhi mi^ aÖetn bit biefcn ^aif) ju gel6cn,
®cntt öott getoiffctt 9Jlännctn mog td^ got
3u gctn, fo 16alb toic möölid^, totffcn, toaS
©ic für ein SJläbd^cn licBcn fönncn.
154
Unb ©alabin fann feiner ©ittal^ ntd^tö abfd^tagcn.
„3lnn, fo fd^icf* unb taff' fie Idolen!" 3ln biefem
Suge erfenne i^ ©ittaf). SBäre fie jünger, fo fönnte
jber 2^empelf|err i^r gefätirtid^ werben, benn er ge-
l^ört ju ben „geroiffen 9Wännem". '^e^t will fie
nur baö SWäbd^en fennen lernen, bas er liebt, um
fie U)m ju geben, bamit er nid^t vox Siebe ftirbt.
Unb liier entbecft fid^ in unferer ©ittal^ nod^ ein
liebenöwürbigeö 5Calent, baö bein S^empell^erm }u
gute fommen möge: fie roirb eine t)ortrepd^e
5Cante fein!
Unter bem @inbru<fe ©alabinö, ber unö bie
©eele erweitert, l^aben wir faum bemerft, bafe biefe
großartige 5Ratur aud^ i^re SWängel l^at, i^ meine
nid^t jene allgemeinen 9Wängel, meldte bie menf(|^
lid^en ©d^ranfen überliaupt mit fld^ bringen, fon-
bem fold^e, bie in biefer eigentliümlid^en ©l^arafter-
art liegen, bie eine 3Jlitgift biefer ©röjse finb,
einen natürlid^en S3eftanbt^eil berfelben bilben, unb
oline meldte ©alabinö 5ßerfönlid^f eit nid^t ben Räuber
t)ätte, ber unö erquidft. Snbeffen motten mir uns
aud^ oon ©alabin nid^t blenben laffen.
@r l)at fid^ bie ^errfd^ergröße errungen, bie für
fein JiatureH pafet. ©d^idffal unb 2lnlage finb liier
155
in üolletn ©inflang, er barf feinen Steigungen freien
Sauf taffen unb folgt if)nen, oline t)iet ju grübeln,
©eine natürlid^e ©rfiabenl^eit nimmt von felbft bie
Siid^tung inö ©rofee. SDie SBurjel feineö 6^ara!s
ter§ ift julefet biefer natürlid^e 2lbel feiner ©e^
finnung. 5ßon liier gel)t feine ©etbftoerteugnung
au§; tiefer entfpringt fie nid^t. SBaö feinen natür-
lxä)en Steigungen roiberftreitet, baju würbe \xä) biefer
©alabin f aum entf d^Ue§en f önnen ; an biefer 9Wad^t
enbet, wie mir fd^eint, feine ©elbftoerteugnung. SDie
Freigebigkeit ift feine Steigung, feine Seibenfd^aft.
35iefe Seibenfd^aft ju liemmen, würbe er fid^ über^
roinben muffen; bie ©parfamfeit, id^ meine bie
weife, würbe liier eine ^robe ernftlid^er ©etbft=
üerleugnung fein: id^ glaube nid^t, ba§ er biefe
^robe beftelit.
SDie. menfd^tid^en Seibenfd^aften finb ma^toö,
aud^ bie ebelften. @ö ift baö rid^tige 9Ka^, baö
mir bei ©alabin oermiffen: auö Steigung ift er
freigebig inö SJla^Iofe, auß Steigung ift er bulb-
fam; er ift eö, meil er nid^t anberö fann, meil eö
in beiben glätten feiner Statur miberftreiten mürbe,
baö (Segentl^eU ju fein.
3n feiner g^reigebigfeit l^at er feine ©rünbe unb
156
loiD feine l^aben; im ©egent^eil, er roill einen
©d^atmeifier, ber giebt, ol^ne nad^ ber Urfad^e be§
SWangefe ju fragen. 3lad^ bief er Urf ad^e bie @abe
abwägen, nennt ©alabin „füjig^f.
3n feiner ©ulbfamfeit ifl er ftd^ ber ©rünbc
ni^t beiDugt. 6ö ifl lool^I }um erflenmal in feinem
©efpräd^e mit Jlat^an, bafe er bie grage aufroirft
nad^ bem inneren SBertl^ ber ätetigionen. SBenn er
JU Slatl^an fagt: „2dß mid^ bie ©rünbe imffen, bie
beine SBal^l gelenft, bamit id^ pe ju meinen mad^e/
— fo ifl er im 6mfi biefer ©rünbe bebürftig, uub
jugleid^ jeigt biefe grage, ba§ er x)on ben ©runb-
lagen unb ber 3latur beö menfd^Ud^en @lauben§
bie unreiffic SSorftettung l^at. 3[fe ob ber ©taube
ein S)ing wäre, baß man erfi begutad^ten, bann
wälzten fönnte! Unb roenn 9lat^an in feiner ©t-
}ä]^Iung bie ed^te ^ulbung aud ber Du^De ber
SRetigion rechtfertigt, fo würbe biefe große SBa^r-
l^eit ben ©ultan faum fo tief erfd^üttem, wenn fie
il^m nid^t ganj neu wäre.
SBaö biefem ©alabin felilt unb nad^ feinem ganjen
©liaraltertppuö felilen muß, ift bie 2^iefe ber ©im
fid^t, bie SBefonnenl^eit, weld^e bie SReigungen be-
meiftert, bie ©opl^rofpne, wie fie bie 3llten nannten:
157
SBciSlicit, beten ^Kangel aud^ in ber ebelftcn
ur eine Unreife ift, an ber bie g^rüd^te leiben.
®ine SRatur, bie auf SReigunflen berulit, fie feien
I fo großartig, ift nie fo fidler, ba§ fie nid^t in
;en6IidEen fid^ fetbft entfrembet werben fönnte,
wenn id^ liörte, bafe biefer ©ultan aud^ feine
jotifd^en Slnroanblungen liat, feine gewatttliätigen
brüd^e, xoo ilin bie Seibenfd^aft beroättigt unb
jur Ungered^tigfeit fortreißt, fo würbe id^ auf
mb biefeö 6l)arafter§, wie id^ il)n liier fennen
cnt, nid^t wiberfpred^en. ^at bod^ ben ge=
\enen 2^empell)errn Dor ber SRad^e ©atabins
ts gefd^üfet, aU bie 3lel)nfid^feit mit ©atabinö
;ber. Unb er fetbft fagt t)on fid^:
Selber Bin
3luc^ iä^ tin 3)tng bon öielcn Seiten, hu
Oft nid^t fo ted^t ju ipaffen fc^eincn mögen.
IX.
^atf^an unb %c^a.
S)iefe eine SBebingung fel^It nod^, um bie @elbft=
eugnung unb 9Jlenfd^entiebe auf fidlerem ©runbe
feigen: fie foll nid^t auf beroegttd^en Steigungen,
\
158
fonbcrn auf ed^ter 2Bei§l^cit unb 9Jlcnfd^enfcn
berul^en, bic fid^ fclbft nid^t nntxtn tocrben
®ann erft ift bie ©elbftuertcugnung eine roh
J^ugenb, burd^ if)re 9Kenfd^enfenntni§ gefd^üfet
bie aOBeltentfrembung , butd^ il^re SBeiöl^eit \
jebe SBerbtenbung ber Seibenfd^aft, gegen jebei
ma^ ber Steigung, gegen jebe ©ntartung in 5
l^eit. 2Bir erl^eben un§ bamit auf bie ^öl^
©id^tung. SDer ß^arafter fielet Dor unö, au
bie anbern roie in einer Stufenleiter l^inro
2Baö in ber Slufopferungsfä^igfeit beö Stempel
unb in feiner g^rei^eit t)om (Slaubenöbünf et ,
in ber S5emutl) be^ £lofterbruber§, in ber Um
nüfeigfeit unb SBeltentfagung be§ S)enr)ifd^, i
3^reigebig!eit unb (Sro^eit ©alabinö ©d^teö
lialten ift: alle biefe 3üge Dereinigen fid^ in 3ia
unter ber ^errfd^aft ber ©infid^t unb SBeiöl^e
9lur mit einem ßfiarafter unferer S)id^tur
SRatlian nid^tö gemein, mit bem 5ßatriard;en. i
bie glaubenöeitle SDaja, bie auf ben "^xiben l
fielet, mu^ if)n berounbern : „2öer jweifelt, 3lc
bafe 3l^r nid^t bie ©firlid^feit, bie ©ro^mutl^
feib?" S)ie anbern alle roerben unmiberp
von i^m angezogen unb fügten fid^ jeber in
159
SBctfe il^m Derroanbt. „2Bir muffen g^reimbc fein/'
fagt ber 2^cmpell^etr. „©ei mein g^reunb!" bittet
ber ©ultan. „3^^ fßib ein ß^rift, bei @ott!
3l)r feib ein 6f)rift!" ruft ber Älofterbruber. ^n
allein möd^te 3lU^afi mit an ben (Sangeö nel^men ;
feine greunbfd^aft für 3^atl)an ift fo gro^, ba§ ber
grunbel^rtid^e SDenoifd^, um il)n Dor ber 2lnleil^e ju
fd^ü^en, fogar biefe g^reunbfd^aft oor ©alabin unb
©ittal^ Derteugnet, 2lu§Püd^te mad^t unb jroeibeutig
von SRatlian rebet. SDod^ läjst er an^ ber 3Jta§fe
beö ®eije§, momit er il^n fd^üfcen will, ben reinen
3Kenf(ä^enfreunb l^ert)orbIiden, ben er gar nid^t vtt-
i)e\)Un fann, fo erfüllt ift er t)on biefem eblen
Silbe:
®a fc^t nun öleid^ ben 3ubcn totcbct,
3)cn ganj gemeinen Subenf @IauBt nttr'g boä^l
(5t ift aufs ©eben eud^ f o eif etfüd^tig,
©0 netbifd^! 3ebe§ Sol^n t)on @ott, bo8 in
2)et Söelt gefagt tottb, jög* et liebet gana
Mein, ^^lut batum eben let^t et feinem,
2)omtt et ftetS an geben ^obe. SCßeit
2)ic Tlilb* t^m im ®efc^ geboten, bk
©efäHtgleit il^m übet nid^t geboten ; mad^t
»2)ie 9JltIb' il^n ju bem ungefättigften
©efeKen ouf bet SCßelt. 3toot bin iä^ feit
©etoumet geit ein toentg übet'n guft
160
Wi il^m (jefipottttt; bod^ bcnft nur nid^t, bog i^
31^m batuin nidfet (Sfctedfetigfcit etgctgc.
@t ifl 3U Quem gut: BIoS ba^u ntd^t;
©iefct 9latl^an bcfifet bte Äraft bcß ed^tcn SWingeS:
bic ißerjen ju gewinnen, ©r fennt bie aWenfd^en,
er weife fie auöjufinben, er burd^fd^aut ilire 9c^
fangenl^eiten, il^re SSorurtl^eile unb ©d^ranfen; unb
weil er fie uerftel^t, barunt fann er fie bulben. 3ebe
SBefangenlieit ift ein Sülangel an Säuterung, biefcr
3WangeI wedft baö Sebürfnife, geläutert ju werben;
ein fold^es SBebürfnife ift eine e?äl^igfeit, unb biefc
gäliigfeit barf matt lieben. S)ie aJienfd^en läutern
l^eifet fie erjielien.* SQBie wäre eine fold^e ©rjiel^iing
ntöglid^, wenn fie nxä)t jeben in feiner SBeife p
nelimen, feinen 3Jlangel in SBebürfnife unb g^äl^ig-
feit ju uerwanbeln wüfete? 2Ba§ wäre ©rjiel^ung
oline S)ulbung unb Siebe ? SQBir wiffen, bafe ßeffing
in ber Sieligion bie ©rjiei^ung ber aWenf^l^eit er-
blidfte. Ein SliaraftertppuS ber Sieligion in biefem
©inn ift 3lati)an. 3n il^m uerförpert fid^ bie er-
jiel^enbe ®infid^t, bie mit ber ©ulbung unb Siebe
notl)wenbig ^anb in ^anb gel)t; in ü^nt ift bie
S)ulbung nid^t bloö ©ad^e ber SReigung unb beö
161
©efaUcnö, fonbcm tnncrftcr SBitte, ßl^arafter, \)o\)e
fittUd^c Sitbung. ®inc foI(3^e SBUbung ift bie g^rud^t
einer ooHenbeten unb reid^en 3Bett= unb £eben§=
erfal^rung, fie ift beren reiffte grud^t. ^n jebem
aOBort unb jeber ©eberbe 9latl^an§ foH mir biefer
Sluöbrud ooHfommenfter SReife, rooburd^ ba§ el^r=
roürbige 3lÜer jugleid^ unbefd^reibtid^ üebenöroürbig
wirb, entgegentreten, ©eine Urtlieite finb aus
ber %Mt ber ©rfalirung gefd^öpft, feine -©entenjen
finb erlebte SQBal^rlieiten, bie aus bent ^erjen f ommen,
einfad^, natürlid^, fidler. SBenn e§ eine SBeiöi^eit
gibt, bie lier jlid^er 2lrt ift, fo ift eö bie SBeiöl^eit
3lafi)aM. ®iefen (Srunbton ber ißer jlid^f eit , ber
gar nid^t§ von ber ®mpfinbfamfeit l^at, will id^ in
jebem feiner SBorte liören. 3lm beften befd^reibe id^
ben 5Con, ben id^ ^erjtid^ nenne, burd^ bie SBirfung,
bie er mad^t: eö ift ber2^on, bem man glaubt,
ber in unferem ©emütl) unroiHfürlid^ feinen SOBieber^
Hang finbet.
3leu^ere SQBelterfalirungen !önnen unö mifeigen
unb flug mad^en, fie allein fönnen mit allem SReid^-
tl^um eine fold^e fittlid^e SQBeislieit ni(^t erjielien: fie
ift baö $EBerf ber ©elbftläuterung, unfer eigenfteö
innerftes SBerf, an bem ba§ @lüdf feinen %\)nl \)at
Äuno Sfifd^cr, 0. 6. Sefrtnfl. IL - 11
162
©icr bcrülite iä) in 3latf)an W 3BurjeI feines 6^cu
rafterö. - 3^ ^^^/ ^^^ ^^ ift/ ^^^ ^^ fi^ f^l^P ^^'
jogcn ; er ^at ben Äompf ber ©elbfioerleugnung ht-
ftanben unb tl^re fd^ioerften groben Regen l^inter i^m.
®r tft Qu§ ben Prüfungen be§ Sebenö geläutert l^cr-
vorgegangen, unb naä) bem, was er in fid^ erfal^ten
unb erbulbet liat, barf man über biefen Sl^arafter
iid^er fein : il^m fann bie SBelt nid^tö mel^r anl^obcn.
®ie ßliriften liaben il^nt fein SBeib unb feine fieben
lioffnungöoollen ©ö§ne getöbtet; feine Slad^e roax,
ba§ er fid^ eines 6l)riftenfinbe§ erbarmte. ®r l^at
nie von biefer Xl^at gefprod^en, nur bem Älofier-
bruber vertraut er fie an:
@uc^ oKcin cradl^r ic^ fic. S)et ftomtnen (Einfalt
Slllein crjä^r id^ fie. SQßcil bic aKcin
Sßcrftc^t, toag jt(^ bet gottetgcbnc 9Jlcnfd^
gut 2:^atcn olbfictoinncn faitn. —
3^t troft ini(^ mit bim Äinbc au 3)otun.
3^x toiftt tool^l übet nid^t, bog tocnig jLoqc
3ut)or in Q^ai^ bie ßl^tiften aKc 3uben
9Rit SCßetl6 unb Äinb etmotbet l^atten; toi^t
äßol^t ni(^t, bag untet biefen meine gftau
^it fteBen l^offnungSt)oIIen @öl^neu ftd^
SBefunben, bk in meines SBtuberä $aufe,
3u bem id^ fic geflüd^tet, inSfiefommt
SBetBtennen muffen. — %U
163
^f)x lamt, ^aiV id& btci %aQ' unb mä^V in ^W
Unb StQUl6 \)f>x &oit gelegen unb getoeint.
{^etocint? S3eil^et mit @ott oudfe tool^i getcd^tet,
@c5ütnt, getobt, ntic^ unb bic SQßcIt öcrtoünfd^t;
S)et ß^riftenl^cit bcn untJcrfdl^nlid^ftcn
©06' augefc^tooten —
2)o(^ nun foni bk SBernunft attmäl^tid^ toicbct.
©ie fpradfe mit fanfter ©timm': „unb bodfe ift ®ottt
5Dodt) toar aud^ ©otteS Siat^fd^Iuß bo8! SBol^Ion!
Äomm! übe too§ bu löngft begriffen l^aft;
3Bog fidfeetlid^ au üben fd^toetet nidfet
%U 3u begreifen ift, toenn bu nur toiöft.
©tel^ ouf!" — 3^ ftanb! unb rief au ®ott: iä) toiH!
äBittft bu nur, baß iä) toiß! — 3nbem fticgt i^r
S3om ^ferb unb überreichtet mir ba§ Stinb,
3n euren 9Jlontel eingel^üßt. — SDßaö il^r
2Jlir bamolg fogtet; toa§ id^ eud^: ^aV iä)
Sßergeffen. @o öiel toeift id^ nur: id§ na^m
2)a8 Äinb, trug*g auf mein Sager, fü§t' eg, toarf
^id^ auf bie Stnit nnb fd^Iud^a^^* @ott! auf Buhtn
2)od^ nun fdfeon @ine§ toieber!
^icr fönnen wir biefen ßl^arafter burd^fd^auen.
©eine ©elbftüerlcugnung ift fein SöiHe, bcr in bcr
fd^roerften SSerfud^ung ni^t unterlegen l^at. 3laä)
biefer aSerfud^ung gibt e§ feine jroette. S)iefer aOBiUe
fällt nid^t in glüdfUd^em ©inflange mit ber SReigung
jufammen, er ift nid^t natürltd^e ®rl)ttbenl)ett, wie
bie ©elbftüerleugnung ©alabinö, fonbern moralifd^e.
164
3n 9lat^an l^at bte ©elbftocrleugnung allcö Unt^tt
abgeftreift; [xe ftrau(^ctt wcbcr über ben ©tolj mä)
über bie gur^t, fie oerirrt fid^ roeber in bte SBelt-
Derad^tung nod^ in bie SBeltentfrembung. 3Bem ber
©laubenötittfe fo nal^e gelegt war, wer il^n ft)bi(|t
an feinem bergen empfunben, ber wirb felbfl ben
©(aubenöl^afe in anbern nid^t liod^mütl^ig t)erbammen,
fonbern mi(b beurtlieilen : fie l^aben bie SSerfud^ung
nid^t ober nod^ ni(^t beflanben. SEBer fo mit ^xi)
unb feinen Seibenfd^aften gerungen l^at, bem finb
bie menfd^tid^en Seibenf(^aften Derftänblid^, um fo
üerftänblid^er, je weniger pe x\)n nod^ befangen,
©ine fold^e @elbftt)erleugnung ifl borum bie lau-
terfte Duelle ber 3Jlenfd^enfenntni§ unb 3Renfd^enIiebe
in bem großen ©inn unb Umfang ber d^rifUid^en
SCugenb. 2luf bie S3efenntniffe SRatl^anß burfte ber
Älofterbniber fagen : „SRatlian, ^i)x feib ein 61^rift,
bei ©Ott, 3^r feib ein 6§rift! ein beffrer ßl^rifi
mar nie!"
SBarum l^at il^n Seffing bennod^ jum
Suben gemad^t?
S)ad ift bie g^rage, bie man immer mieber auf-
geworfen unb fel^r häufig bem ®id^ter als 2;abel
oorgerüdft l^at. ®er ^atriar^ — ein ©l^rifl, unb
165
5Rotl^an — ein Sube! ©o fel^r l^abe ßcffing auf
Äoftcn beä ©l^riftcntl^imö bas Subcntl^um l^erDor-
lieben, fo tief jenes burd^ biefeö erniebrigen unb
befd^ämen wollen. 3m ^ßatriard^en l^abe er feinem
^aj3 roiber baö ßl^riftentiium , im 5Rati|an feiner
5BorUebe für boö Subentl^um ©enüge getl^an; bei bem
?ßatriard^en l^abe er offenbar an feinen geinb, ben
?ßaftor ®oeje, — bei 5Ratiian an feinen e?reunb,
ben jübifci^en ^iiifofopiien 3Rofeö aßenbetefoiin, ge^^
bac^t. Unb fo erffäre fid^ jutefet bie SBal^t biefer
©l^araftere an^ perfönfid^en Stimmungen unb Seiben-
fd^aften beö 5Did^terö, ber nad^ alle bem gegen baö
eiiriftentl^um äl^nUd^ gefinnt war, afö in feiner
35id^tung ber SCempetl^err gegen bas S^bentl^um.
©0 fd^ief muffen bie Urtl^eife ausfallen, wenn man
t)on einer (o fd^iefen S^^ee auögel^t, bafe in biefem
©ebid^t bie brei ^Religionen perfonificirt finb. SDlan
bringe bod^ biefen 5Ratl^an t)or eine red^tgfäubige
©pnagoge unb taffe fid^ fagen, ob ber ein SReprä^
fentant beö S^bentl^umö ift? Unb bod^ ein Sube!
3d^ mürbe eä ßeffing ju einem großen poetifc^en
gel^ler anred^nen, menn er feiner roäre.
aSarum ift 5Ratl^an ein ^wbe? S)iefe g^rage
rid^tig ju beantworten, brandet man meber Seffingä
\
\
166
grcunbfd^aft mit 3Kenbetefoiin nod^ bie jubcnfrcu
fid^e SRid^tung, bie mit ber Slufftärung jener \
oerbunben toar; man brandet bloö ben ßl^ata
ju perftel^en, ben unö bie ©id^tung t)orfü^rt : ei
ß^arofter in roetd^em bie 2)utbun9 aus bcr ©el
Verleugnung l^crt)ot9el^t, in bem fie eigenfte, inm
X^at, im mirflid^en ©inne beö SBortö 2:u9
ift. ©ie tritt ate folc^e um fo beutfid^er l^er
je weniger fie von 5Ratur unb ©d^idffal unb o
ben äußeren SWäd^ten, von benen ber 3Äenfd^
l^ängt, begünftigt roorben. (£ö ift leidet tole
fein, wenn id^ nie einen ©runb jum ©egen
^abe! 5Die S^ugenb ift nid^t leidet, fie roitt
fämpft unb errungen fein, fie ift um fo ed^tei
fd^merer ber Äampf ift. ©oH fid^ bie 3)ulbunc
DoUften ©inne beä SJBortö aU S^ugenb .jeigen
roill id^ fie auö biefem fd^roerften Kampfe l^ex
gelten feigen, au§ bem Äampfe mit SRöd^ten, bi
ben größten SEBiberftanb leiften ; id^ mill feigen,
fie bie ^robe befiehlt.
Unb nun nel^me id^ eine SReligion, bie
9Jotur unbulbfam unb ftolj ift, ber ©tolj ift
l^artnädEiger, aU wenn er unterbrüdEt mirb ; id^ n
von allen ^Religionen ber SBett biejenige, roeld^
167
gleid^ bie ftoljefte unb bie untetbrüdtefte ift, unb
je|t jtoeiflc iä), ob aM biefen SSebingungcn mä)
©ulbung ^crt)orgcl^en fann? 3d^ benfe mir einen
aRenf(ä^en, bem feine Slleligion ertaubt, fi(^ für auö-
erroöl^It t)on ®ott ju galten, — ben bie aSelt ©er^
bammt, fid^ t)on ben 3Kenfd^en üerroorfen unb Der-
ad^tet JU feigen : wenn feine ©eele biefem jn)ief ad^en
35ru(fe erliegt, fo mu§ fie fid^ nad^ bem natürlichen
Sauf ber menfd^tid^en ßeibenfc^aften ganj in iea§
unb SRad^e uerjel^ren; eö mirb fid^ l^ier ein SRad^e-
burft entjünben, ber bämonifd^ unb in niebrigen
SRaturen fo beftialifd^ wütl^et, bafe er baö g^leifc^
pom iQerjen beö g^einbeö tofereifeen möd^te, fei eä
aud^ nur, um „g^fd^e mit ju föbern". Sluf biefem
SBege fommt eö ju einem ©l^plodf. Unb menn
eine grofee ©eele biefe Seibenfd^aften, bie in il^rer
niebrigften unb l^äfelid^ften Ungeftalt einen ©^plodE
bilben, überwältigt; wenn fie il^rem ©lauben, ber
jugleid^ ber ftolgefte unb ber unterbrüdEtefte ift, bie
35ulbung abringt, fo fommt eö ju einem 5Ratl|an.
35iefe 35ulbung l^at ben fd^merften Äampf beftanben.
Unb loaö märe aud^ bie S)ulbung, roenn fie nid^t
gebulbet unb gelitten l^ätte? ^ier fel^e id^, maä
fid^ ber gottergebene aWenfd^ für 2:i^aten abgewinnen
168
!ann. aRit bicfer ©ulbung toirb er frcifid^ nid^t mc|r
biefcn ©tauben repräfentiren, aber bie ©ulbung
Toäre leidet, fie toäre nid^t Toaß fte ifi, wenn er
biefen ©lauben gering fd^äfete, wenn er innetU(|
nid^tö mit il^m gemein iiätte. 6r fül^tt i^n immer
nod^ afe ben feinigen, ate ben ©lauben feines aSolfe
unb feiner 5Bäter, mit bem er burd^ taufenb um
lösbare 33anbe uerfnüpft ift: er repräfentirt ba§
Subentl^um nid^t, aber* er ift ein 3ube unb bleibt
einer. SRid^t weil baä ^ubentl^um bie Sic-
ligion ber 35utbung, fonbern meil eö boö
®egentl^eil ift: barum ift 5Ratl|an ein Swbc.
9Ber möd^te biefen SRatlian, menn er il^n rid^tig
t)erftel^t, nod^ anberö motten? 3l^n bejeid^net ber
bemunbernbe 3luöruf beä 2^empetl^errn :
mtW ein 3ubc —
Unb ber fo ganj nur 3ubc fd^eincn toitt!
2)ie ©elbftuerteugnung miß id^ uor mir feigen
unter Sebingungen, bie fie auf baö Sleufeerfte cr^^
fd^roeren unb barum erproben, bie ©elbftfud^t ba-
gegen unter Sebingungen, bie fie begünftigen. ©oll
ein ßl^arafter bargeftettt werben, in metd^em ber
©laube bloö alö SBerfjeug ber ©etbftfud^t erfd^eint,
169
fo ift jebe Slletigion ate folc^c ju gut, um burd^
einen 3Dlenf(ä^en biefer 9lrt bargeftellt ju werben.
6r repräfentirt nid^t eine 9lrt ber SReügion, fonbern
eine Slrt bes (ggoiämuö, ber ftd^ l^inter ben ©tauben
t)erfd^an}t. ©old^e ßl&araftere l^atten eö nur mit
bem, roaä iierrfc^t; ber ©taube, bei roeld^em bie
äußere 3Kad^t ift, biefer ©taube ift ber il^rige. Unb
fo wirb fid^ ber Xi^Tpu^ einer fotc^en ©etbftfud^t am
el^eften in einer SRetigion finben, roetd^e baö größte
anfeilen l^at, befteibet ift mit ber impofanteften
3Wa(^t, fetbft eine ßtaffe jur ^errfd^aft primtegirt
unb l^ier bie Sebingungen auäbitbet, metd^e teid^t
ben fetbftfüd^tigen ©inn antodfen unb begünftigen.
3n einer SRetigion, roetd^e l^errfd^t, in wetd^er bie
5ßriefter l^errfd^en, unter biefen fetbft finben fid^
tei(^t bie SBebingungen, metd^e bie ©etbftfud^t nid^t
etwa erzeugen, fonbern wetd^e biefe ergreift unb fid^
bienftbar mad^t. SBir werben beöl^atb nid^t meinen,
bafe eine fotd^e SRetigion btoö ^riefterl^errfd^aft, ba§
eine fotd^e ^riefterl^errfd^aft nid^tö fei ats ®goiömuö.
SQäir miffen ju gut, ba§ bie ^errfd^aft in ber SBett
ein fel^r bemegtid^eö 35ing ift, bafe bie ©etbftfud^t
biefem 3^8^ f^tfl*/ i^fet i" ^i^f^^ SRid^tung, jefet in
ber entgegengefefeten, ba^ berfelbe ®goi§muö in
170
bcnfelben aWenfd^en fid^ l^cute l^ierard^ifd^ geberbet
unb morgen fd^on eben fo breift unter bem Seifatt
ber l^errfd^enben 2^age«meinung bie Stoffe beS
äufeerften ©egentl^eilö annimmt. SBir erleben genug
fold^er SBeifpiele ber (^arafterlofefien Slrt unb fmb
meit baoon entfernt, für biefe ©orte oon ^ßatri-
ard^en, bie \xä) nxä)t btoä bei einer 5ßartei finben,
irgenb eine (Slaubenöform t)erantn)ortH(i^ ju mad^en.
@6 ift mir barum feiir !lar, marum Seffing ben
l^erjlofen ®lauben§egoiften jum ^atriard^en unb
9latl^an jum Suben gemad^t i)at ©o forberten e§
bie ßl^araftere, bie er barfteffen moffte. S)afe er
babei manche il^rer ^üqt nad^ bem Seben jeid^nen,
namentlid^ in ber SSerfefeerungöfud^t beö 5ßatriard^en
aud^ an ben Hamburger ^auptpaftor benfen fonnte,
biefe eigenen ©rfal^rungen famen bem bramatifd^en
2)id^ter ju gute, ol^ne fein 3Berf potemifd^ ju Der^
unftalten.
5Dod^ feieren mir ju 5Ratl^an jurüdE. SBaö er
begriffen unb geübt l^at, wirb er in bem Äinbe er^
jiel^en, baö il^m bie fieben l^offnungöooffen ©öl^ne
erfefeen foff. 35ie grud^t biefer ®rjiei|ung ift SRed^a.
©ie ift, maö 9latl^an auö il^r gebilbet, moju il^re
empfänglii^e unb reine ©eete fi(^ unter feiner ^avh
171
enttoidelt l^ot. 3)tc roetfe unb rid^tigc ©rjiel^ung
mad^t unfrc jroeite SRatur aM ber Slnlagc ber crften,
fic toiH nid^t abrid^ten, fonbcrn cntiöidEeln, fie roiH
bod 6d^te in ber mcnfd^Ud^cn ©cefe t)on allem Un=
ed^ten, womit e§ üermifd^t ift, befreien unb vex-
ebelt jum SSorfd^ein bringen, ©o i)at 3lati)an biefe
SRed^a erlogen. 3n i{)r erfd^eint bie ©elbft-
t)erteugnung, bie in ber Siebe aufgellt, aU
il^re jroeite, unjerftörbare 9latur: aU eine
9Jatur, nid^t alö eine im fd^weren Äampf errungene
S^ugenb. SBaö 5Ratl^an quo ben ungünftigften Se-
bingungen in fid^ felbft l^ert)orbringt, baö entroidfeft
fid^ unter ben günftigften Sebingungen in ber ©eete
9led^a§. SRatl^an§ 2^ugenb entfpringt au^ ber größten
©etbftüberroinbung, auö bem ©iege über bie gfaubenä^
ftofje unb unterbrüdfte SReligion, bie il^n erlogen,
über ben natürlid^en SRad^eburfi, ben leibenöüoHe
©d^idffale in il^m entflammt l^aben. SRed^aö 2^ugenb
folgt t)on Slnbeginn ber ©timme be§ järtlid^ften
unb liebreid^ften SBaterö, ber aHeö tl^ut, um mit
loeifer unb forgfamer ^anb biefe Sfütl^e ju pflegen,
©ie mirb nid^t afe ^i^bin, fonbern alö bie S^od^ter
5latl^anö erjogen. ©ie fennt Jlatl^an nur ate il^ren
SSater, fie fennt bie SBelt nur in il^m. 3l^m ift fie
172
flanj ergeben, in feiner ^anb fül^lt fid& ^^^ ®^^
flanj l^eimifd^ unb allen SSorftellungen fremb, bie fie
von 3latf)an abjiel^en, für einen anbem ©lauben, für
eine anbere ^eimatii geroinnen möd^ten. Sebem Sffiorte
3latf)am öffnet fid^ Slled^aö ^er j unn)illf ürlid^ ; untöiH-
fürlid^ t)erf daließt eö fi(^ ben 5BorfteQungen 2)aia§:
äBenn mein Spater bid^ \o l^ötte!
2öa8 if)ai et bit, mit immer rtut mein @lürf
@o toeit t)on il^m al3 mögltd^ botsufpiegeln ?
äBag tl^ai et bit, ben ©amen bet ^etnunfi,
3)en et fo tein in meine ©ecle ftteute,
^ii beincS SanbeS tlnfvaut obet S3lumcn
@o QCtn 3U mifd^en? -— 2ieht, liebe 3)aiQ.
(St toin nun beine Bunten S3lumen nid^t
?luf meinem Soben! — llnb id^ muft bit fogen,
3d^ felber fül^Ic meinen S3oben, toenn
Sie nod^ fo fd^ön il^n Ileiben, fo entfr&ftet,
@o auggejel^rt butd^ beine S3lumen ; fül^le
3n il^tem 2)ufte, fauetfüjem 3)ufte
«mid& fo betäubt, fo fd^hjinbelnb !
3lati)am üäterlid^e Siebe für Sfted^a läfet fi($
erfennen auö ber ©egenfiebe, bie fie erzeugt, auö
SRed^aö finbüd^er Siebe ju il^m: fie lebt in il^rem
3Sater, in il^m i)at fie itire aSelt, il^ren ©tauben,
il^re ^eimatl^; fie empfinbet il^n wie i^ren ®eniu§.
aWit il^m t)ereinigt, fül^It fie fid^ l^eimifc^, geborgen.
173
glüdlid^; t)on il^m getrennt, ift fie wad^enb unb
träumenb mit il^m befd^äftigt, il^re ®inbilbungö!raft
folgt bem ©ntfernten auf feinen Steifen, il^re ©eele
jittert bei ben ©efal^ren, bie iiim brol^en, ber ©e-
banfe an 3laif)an fteigert il^r (£mpfinbungst)ermögen,
fic al^nt feine 5Räl^e, fie fül^lt feine SRüdfeiir fc^on
vorauf unb iiire ©eele eilt, gleid^fam ben Äötper
jurüdlaffenb, il^m entgegen.
liefen 3Jlotgcn lag
Bit lange mit bctfd^Ioffcnem 5lug' unb toax
SBie tobt, ©d^nell ful^t fie auf unb tief: „^otd^! l^ovd^!
2)a lommen hit i!ameele meines S^aierS!
$otd&! feine fanfte ©timmc felbft!"
3n ber 3Biebert)ereinigung mit il^m iiat SRed^a
nur einen SBunfc^: „ad^, mein SBater! lafet, Ia§t
eure SRed^a bod^ nie roieberum allein!"
SEBir fönnen fd^on l^ier bie ®emütl^§t)erfaffung
unb ©runbftimmung SRed^aö beutlid^ erfennen. 3)er
3ug ber ißingebung unb ©elbftt)erleugnung ift jin
il^r fo naturmäd^tig , bafe er bis jum SBerlufte beö
©elbftgefül^fe fortgel^t, ba§ fie fid^ ganj in il^re
©el^nfud^t verliert, in il^re ©mpfinbungen mit bem
innerfien ©elbft aufgellt, mit allen Gräften einer
jugenblid^ aufbfül^enben ^l^antafie an bem ©egem
174
ftanbc i^rcr ©ci^nfuci^t i^&ngt, nur für biefen ©egem
ftanb lebt, bcr in i^rcr loögebunbenen ©nbilbungs-
fraft fid^ über alleö anbere erl^ebt. ®inc fold^e Ms
jum aSerlufte beö ©elbftgefül^lö gefteigerte Eingebung
ift f(i^on eycentrifd^; in einer fofc^cn ©emütl^öDer-
faffnng l^ört ba« nüd^teme Seurtl^eifen ber 2)inge
auf unb weidet jenem gefteigerten ^l^antafiren, wtU
d^eö bie SRid^tung ber ©d^roärmerei nimmt.
Unb nun benfe man fid^ biefe SWed^a ptöllid^
bebrol^t t)on ber ©efal^r be§ g^euertobeö, auö biefer
©efal^r plöfefid^ gerettet burd^ einen ^rembfing, in
einem SlugenblidE, mo alle menfd^lid^e ißiffe umfouft
fd^eint: fie gel^t auf in bie ©mpfinbung einer un^
begrenzten 35anfbarfeit, biefeö ©efül^l bemäd^tigt fici^
il^rer frommen, jur ©d^roärmerei geneigten ©inbil-
bungöfraft, il^re £eben§rettung erfi^eint i^r alö ein
aSunber, baö @ott an il^r getl^an, nid^t burd^
3Jlenfd^enl^anb, fonbern auf munberbare SBeife, burd^
einen (£ngel/ben er ju il^rem ©(^ufee gefenbet. 60
fteigert fid^ in il^rer ^l^antafie ber ^empetl^err ju
einer ©ngelöerfd^einung, in ber ®ott fid^ il^r gnäbig
bemiefen; unb il^r l^eifeefter 3Bunfd^ ifl, biefe 6r^
fd^einung möd^te il^r nod^ einmal mieberfe^ren, unt
i^ren S)anf ju erl^ören.
175
3Hän mu§ fid^ in bie ©cdc 5ted^a§ Iiincinbenfcn
fönnen, um an biefet ©teile il^ren Qngelglauben
rid^tig ju beuten, ©old^en reinen 9kturen tl^ut e§
rooiil, ban!6ar ju fein, mit einer bem ©efül^le na^-
giebigen ^l^antafie il^re ®an!6arfeit ins Unbegrenzte
ju fieigern, bie empfangene aSoi^Itl^at über bie ge=
möl^nlid^en Sebingungen, unter benen SBol^ftl^aten
gegeben unb empfangen werben, l^od^ ju erl^eben.
6§ liegt in ber 9latur ed^ter S)an!barfeit, ba^ fie fid^
ben SBol^Itl^äter uerebelt; fie empfinbet eine ©enug-
tiiuung barin, ba^ fie il^ren ©egenftanb erl^öl^t, in
ber reinften unb iiöd^ften ^^orm üorfteHt, bie SJBol^l^
tl^at aus ben ebelften unb feltenften Duellen l^er=
leitet. 2)iefe SSorfteHung felbft ift eine 3Birfung
unb ein Seweis ber banfbaren ©efinnung unb
barum bem banfbaren ©emütl^e fo mol^ltl^uenb.
SCus biefer Duelle ftammt fd^on in ben Äinbern ber
©laube an bas ß^riftünb. S)ie Äritif ber Sffio^t
tl^at mirb leidet bas SBormort bes Unbdnfs. deiner
unter ben menfd^lid^en ©mpfinbungen fielet es fo
mol^l, unfritifd^ ju fein, als ber ®an!bar!eit.
SRed^aS ®ngetgtaube, rein menfd^lic^ beurtl^eitt,
ift bie ©d^märmerei il^rer 35anfbarfeit. 3Rit
biefem 2:riebe mifd^t fid^ in il^rer ©eele fein anberer.
176
aBcnn fic btcfen 3)rang befricbigt, fo wirb i^re
©ecte rul^ig toerben. 3n biefer ©ecle, finbüd^ toie
fic cmpfinbet, ift e§ banim unmögltd^, bafe fid^ auß
bem (glauben an ben ©ngcl eine Seibenfd^aft für
ben S^empell^erm entroidelt. SBäre bieö möglid^, fo
würbe in jenem ©lauben fd^on ein 3w9 biefer Seibem
fd^aft vexioxQtn fein, unb bie 3)anfbarfeit xo&ct
nid^t mel^r bie einjige Duette: bann ro&tt \ift
©ngelglaube fomifd^, eine ©d^wämieret, bie mit
ber ^dxaff) aufl^ört; jefet ift er rül^renb. ^a\a,
rod^e SRed^a nid^t ©erftel^t, fielet in il^rem ©ngefc
glauben eine Seibenfd^aft für ben 2^empell^errn auf-
feinten unb möd^te jene ©d^n)ärmerei gern in biefe
SRic^tung lenfen, mit ber il^re. eigenen SBünfd^e ju-
fammenftimmen, aber fie t)erred^net fid^ ganj in
ber SRatur SRed^aö. 3)iefe felbft fülilt üorauö, ba^
il^re ©el^nfud^t geftittt fein wirb, vomn fie il^rem
ßebenöretter gebanft liat. 35ie 35anfbarfeit toirb
bleiben, bie teibenfc^aftlid^e ©e^nfud^t mirb aufl^ören;
fie fül^tt eö Dorauä, unb in ber ^l^at, fo ift ed.
Unb tocnn et nun
(Sciommcn biefer ^IjigenHicf; hienn benn
9lun meiner SQßünfd^c toärmfter innigfier
erfüllet ift: toa^ bann? — hiaS bann?
177
2Ba3 toixh bann
3n meiner SBruft an beffen ©teile tteten,
2)ie fd^on betlernt, o^n' einen l^crrfd^enben
aOßnnfd^ atter Söünfd^e fid^ a« bel^nen? — 5flid&i8?
%äi, id| erf(i^re(fe!
Unb toie fic i^n gefeiten, gcfprod^cn, ift fie fclbft
befrembet, „wie auf einen fotd^en ©türm in il^rem
^erjen fo eine ©tille plöfelid^ folgen fönnen."
@r hjirb
3Jlir ttoiq tocrt^, mir etoig toeril^er, qI8
SJlcin ßcben bleiben, hienn aud^ fd^on mein $ul8
^flid^t me^r "bzi feinem bloßen ^flamen hied^felt,
5^id^t mel^r mein ^erj, fo oft iä^ an il^n benfe,
@efd^h3inber, ft&rler fd^lößt. -
^lun hjerb' id^ aud^ bie ^almen hiieber fe^n:
5^id^t il^n bto8 unteren ^almen.
SRed^aö ©d^iüärmerei ift ber aufrid^tige 3lu§brudf
il^rer ©elbftüerleugnung unb Eingebung unb bod^
jugletd^ ein ^l^antafiegenu^, ber bie ©elbft=
Verleugnung entfräftet, voexl er il^r bie ^robe er-
fpart. ^n ii)xem ©ngefglauben ift bie S)anfbarfeit
baö innerfte SRotio ; aber gerabe in btefem ©lauben
wirb bie S)anf barfeit, roaö fie am roenigften fein
möd^te, n)irfungölo§ unb ol^nmäd^tig. Sewäl^ren
unb erproben fann fid^ bie ©elbftoerleugnung, xok
Äuno Oflfd^er, ®. 6. üt]\inQ. II. 12
178
bie ®an!6orfett, nur in ber SRenfd^entiebc. ^ier
liegt bie ©efal^r naiie, ba^ fid^ ber ©ngetgtaube auf
Äoften ber 3Renfd^enliebe geltenb mad^t; bie Dpfer
ber 5pi^antafieanbad^t, roeld^e ber ©ngelgtaubc forbert,
finb leidet; bie Dpfer beö 9Boi|ltl^unö, welche bie
aJJenfd^enliebe forbert, finb fd^roer. @ö liegt bie
©efalir nal^e, bafe man pd^ mit einem leidsten
Dpfer, roeld^eö fo gut ift alö feines, bie fd^roeren,
roeld^e allein bie roirflid^en Dpfer finb, erläßt; e§
liegt bie ©efal^r nal^e, ba§ julefet biefer ©ngelglaube
bem eitlen äJfenfd^enfinn unbewußt fd^meid^elt, bem
bie SRettung burd^ einen ®ngel t)ornel^mer fd^eint,
als bie burd^ einen 3Renfd^en geroöl^nlid^er 3lrt.
©tolj! unb nid^tS aU ©tola! bet %op^
Söon @ifcn toitt bon einer plbctn S^^ÖC
@ctn au3 ber ®(ut^ gcl^oben fein, um fclBft
@in %op^ t)on ©ilBer fid& ju bünfen.
(Sin fold^er ©taube entroertl^et bie ©elbftoerleugs
nung.
5Diefer SBiberftreit il^rer ©efül^le ift ber ©eele
Sied^aö ©erborgen unb mufe eö fein, ©ie verliert
fid^ in il^re ®mpfinbungen unb oergi^t fid^ felbft;
gerabe barum fel^lt il^r bie ©elbftprüfung, bie
jene SBiberfprüd^e entbedft unb einfielet, ^ier be^:
179
barf ftc Jlatl^anö gül^rung unb feine» erjiel^enben
(Sinftufe, bem fid^ il^r ©emütl^ toitlig öffnet.
Unb lüie fici^er üerftel^t eö 3lat^ar\, ben ©ngel^
glauben SRed^aö von ber ©d^roämterei ju l^eifen, in
feinem ed^ten Äcrn ju ergreifen unb in bie rid^tige
S3al)n ju lenfen. 3Bie menfd^enfunbig, wie fd^onenb
unb UebeüoH gel^t er juerft auf bie SBorfteHungen
9led^a§ ein, um fie julefet mit aller Strenge ju
rid^ten. äJfit einer üäterlid^en ©d^meid^elei, bie feine
ganje görttid^feit für SRed^a auöbrüdft, nimmt er
juerft bie ®ngeföerfd^einung auf:
Sfled^a toär' e3 toettl^;
Unb toütb' an x^m nid^tg ©d^ön'teS fc^cn, als et
3ln il^t !
@r lä^t il^r gern ben ®ngel unb lä^t ilir gern
baö SBunber, bod^ fönnte biefer ©ngel aud^ ein
3Dlenfd^ unb biefeö 3Bunber aud^ eine Segebenl^eit
im natürlid^en 3^fotnmenl)ang ber ®inge gemefen
fein :
2)et Söunbcr l^öd&ftcS ift,
2)a6 uns hk todf^xtn, ed^ten SOßunbet fo
^Itttägltd^ hjetben lönnen, hietben fotten.
Unb war biefer ®ngel ein roirflid^er S^empell^err,
ben ©alabin um einer 3lel^nlid^feit miHen begnabigt
180
l^atte, fo ift bie Scgebcnl^cit, fo natürlid^ fic ft
erflärt, bod^ eine aujaerorbentlid^e g^ügung —
@in SBunbcr, htm tiut iriBglid^, ber bic fltcngflcn
(Sntfd^lüffe, bie unbanbigften (SnttDÜtfe
2)cr Äönige, fein ^piii — toetin nid^t fein ^poii —
@crn an bcn fd^toöd^ften fjäbcn lcn!t.
Um einer Slelinlid^feit njillen fd^cnft ©alabin
bem ^^empell^errn ba§ Seben, unb baburc^ tüirb
Sled^aö Seben gerettet:
6ic]^ ! eine ©ttxn, fo ober fo getoölBt ;
2)cr Sflüdcn einer 5flafe, fo öietmcl^r
9118 fo gefül^ret; Slugenbraucn, bic
^uf einem fd^arfen ober ftumpfen Änod^en
@o ober fo fid^ fd^längeln; eine Sinie,
^in SBuQ, ein Sößijtfcl, eine ^^alV, ein Tlal,
@in 9lid^t8, auf eineö toilben @uro:päer§*
^efid^t: — unb bu entfömmft beut Qfcu^r in Slfien!
^aS toär' lein Söunbcr, tounberfüd^t^geö S5oI!?
ilöarum bemül^t i^r benn nod^ einen ©ngel?
SRed^a üerftummt. 3Sor il^ren 3lugen felbft jeigt
fid^ ba§ SBunber um fo größer, je weniger e§ burd^
einen ßngel gefd^el^en. ^i)x fetbft mujg jefet bie
Slettung burd^ beh 5Cempelf)errn tounberbarer er^:
fd^einen at§ bie burd^ ben ßnget. . Unb nad^bem
auf biefe SBeife ?latf)an il^ren ©ngetglauben juerft
181
burd^ ben 3Bunbcrgtauben tütbcrlegt l^at,. tüibcrtegt
er ü)n jefet burd^ ba§ natürli(3^c 3Kottt) in SRed^aö
©cele, burd^ ilire 2)anf barfeit, bie ben SRetter jur
©ngefeerfd^einung gefteigert. 2Baö fann bie ed^te
©anfbarfeit anbereö barbringen njollen, al§ Dpfer,
TOirflid^e Dpfer? 2)iefe Dpfer finb ilire groben.
2)iefe ^Proben erfpart il^r ber ßngetgtaube. ©ie
felbft erfpart fte fid^ mit bem ßnget, bem fie bie
Siettung fd^ulbig fein voiü, benn ilim ift fie nid^tö
fd^ulbig, roaö roirflid^ Dpfer foftet. „91 Hein ein
3Wenfd^!" 6§ liegt etnjaö fo ©rgreif enbeö , fo
unn)iberftel^lid^ Ueberjeugenbeö, für SRed^a fo nieber-
fd^lagenb uttb befd^ämenb ©rliebenbeö in biefent
einfad^en SBorte 5Ratf)an§ : „Slttein ein 9Jlenfd^!"
9Kit jebem SBorte greift ?latf)an in ilire ©eete, unb
er fetbft liat baö ©efülit, bafe er au§ ilirer ©eete
rebet :
^i^i toaf)x, bem aOßcfcn, ha^
S)td^ Tcttetc, — c§ fei ein ©ngel ober
@tn 9Jlenft5, — bem möd^tet tl^t, unb bu BcfonberS
@ern totebcr ttcle ^xo^t S)tcnfte tl^un? —
5flid^t toa^t? — Sflun, einem ^ngel, toag für 2)ienfte,
gfür Qtofte 2)ienfte fönnt i^x bem tool^l tl^un?
3^t lönnt* if)m banfen, au il^m feufaen, beten,
Äönnt' in ^ntaüdung über il^n acrfd^melaen,
182
Äönnf anbcm Za^t feiner gr^ier fafteti,
Sllniofcn f}3enben — atteä nichts ! — benn mid^
©ftud^t immer, baft il^r felBft unb euer ^fläd^ftcr
4)icbci toeit mel^r getoinnt aU er. @r toirb
9li($t fett burd^ euer t^aften, toirb nid^t reid^
3)urd^ eure ^ptnhzn, toirb nid^t l^errlid^er
2)urd^ eu'r ^ntjüd^en, toirb nid^t m&d^tiger
f)urd^ eu^r 2}er trauen. 5lid^t toal^r? ^Allein ein 2Jlenfd|!
SBctd^cö Tocit reid^crc g^ctb opfcrfrcubigcr ^D^ätig-
feit eröffnet fid^ jefet bem banfbaren SBiUen, wenn
ftatt beö ©ngefe il^m ein aRenfd^ gegeben ift, ein
l^ilf§bebürftige§, tetbenbe§ SBefen, bem gegenüber
bie ©anfbarfeit fic^ afe aWitteib, ^ilfe, SBo^lt^un,
Stuf Opferung betliätigen fann! 3efet erft fommt bie
©anfbarfeit ju il^rem njaliren ©etbftgefül^l. 3e|t
erfennt Sted^a ben Srrtl^um il^rer ©d^roärmerei :
TOälirenb fte vom @ngel träumt unb in biefer aSor-
fteHung fid^ mol^ttl^ut, täfet fie meHeid^t ben 3Wen'
f d^en üerberben ! ©ie erf d^ridft vox fid^ f elbft. Unb
i^fet jeigt il^r Jlatlian ben SBeg, ben eine banfbare
^l^antafie nimmt. 3e mel^r fte fd^märmt, je Isolier
über alle menfd^lid^e 33ebingungen l^inauö fie fld^
ien aSolittl^äter träumt, je weniger l^itföbebürftig
er il^r erfd^eint, um fo fraftlofer wirb bie S)anf-
barfeit fetbft. ©ie wirb um fo inniger unb ftärfer.
183
je bcuttid^cr unb tlicitnelimcnbcr ftc fid^ im SBol^t
tl^äter juglcid^ bie tcibcnbe 3Wcnfd^ennatur t)or^
ftcHt. 2)aö ift bie ^pi^antafie einer toalirliaft banfc
baren ©eele, bie alle ©eifter beö aRitteibö unb ber
©timpatl^ie in unö aufruft. (Sin roirftid^er ^^empel-
l^err |at Sted^a gerettet; einigemal nod^ nad^ ber
21^at |at fie ilin unter ben ^atmen be§ ©rabes
gefelien, bann ift er oerfd^rounbeit, uieHeid^t erlranft:
er ifl
ein ^xanlt, btcfcg ÄItma*8 ungctool^tit;
3ft iung, bet l^Qtten Slrbctt fcinc8 ©tatibcS,
^e3 ^ungernS, SBad^eng ungetDol^nt.
9lun liegt er ba! l^at tocbcr gftcunb nod^ @clb,
©id§ t?^cunbc 3U Bcfolbcn —
iGtegt ol^ne SBattung, ol^ne ^ai^ unb ^i^fP^^^f
@tn 9^auB ber ©d^mer^en unb beg ^obeS ba!
— er, bet für eine, bit er nie
©efannt, gefel^n — genug, c8 toar ein SJlenfd^ —
3n8 gfeu'x ftdö ftürate -
2)et, toQ§ er rettete, nit^t näl^er fennen,
5flid§t toeitcr feigen mod^t', um il^m ben 2)an!
3n fparen toeiter
^uä) nid^t au fcl^n Verlangt', e8 toäre benn,
S)a6 er auni atoeitenmal eg retten fottte —
2)enn g*nug, e8 ift ein 3Jlenfd^ —
5Der, ber ^ai fterbenb Tu^ au loben, nid^tg
mg bag Setougtfein biefer SH^at!
184
Unb lüic t)or bicfent Silbe Sted^a mit il^rcrßnget
fd^roärmcrci ücrmd^tct jufammcnftnft, fo rid^tet fte
5Ratfian mit bcn SBorten auf: „SRed^a! SRcc^a! 6§
ift 2lrjnci, nic^t @ift, toaß id^ bir reid^c!"
6r l^at fte geläutert unb bem rid^tigen @efü|l
bie rid^tige 33al|n gebrod^en:
(SJcl^! — SBcgrciffl bu aber,
2Bte t)tel anb&c^tig ft^toätmen leidster, aU
@ut l^anbeln ift? toic gern bct Wlaffftc 3Jlcnfd^
5lnbdd^tiQ fd^to&tmt, um nur, — ift er ^u Seiten
@id^ fd^on ber SlBpd&t beutlid^ nid^t betouftt —
Um nur gut l^anbeln nid^t au bürfcn?
®iefe Unterrebung 5Ratl^anö mit die^a ifl ein
erjielienb belelirenbeö ©efpräd^, ein Seifpiel, wie
er fie erjief)t, roie er fie läutert. 3Bie meit l^at im
Saufe biefeö ©efpräd^ö fid^ Sted^a von il^rer erften
aSorftellung entfernt ! Sllß SRatl^an feine aWal^nung
beginnt :
i)od^ l^att' aud^ nur
@in 9Wenfd§ — ein SWenfd^, toie bie 5latur pc töglid^
ßJeto&l^rt, bir biefen 2)ienft erzeigt: er müfttc
gftir bid^ ein @ngel fein. @r müßt' unb toürbe —
miberftrebt Sted^a mit allem Eifer, ilireö ©laubenä
finblid^ geroife:
185
^iäii fo ein (Sitgel; nein; ein toitüid^cr
@8 toat Qctot^ ein toirfUd^ct!
Unb bagcgcn il^r Icfetcö 9Bort. ^ei^i toünfd^t fie
felbft, c§ möchte ein aKcnfd^ fein; jcfet bittet fie
' um ben 9Kenfd^eh, ebenfo ftnblid^, afe fte t)orl^er
be§ ©ngefe geroife roar:
^(^ mein SSatet! lagt eute Olet^a bod^
9li« toiebetum attein! — ^^lid^t toa^x, et !ann
Slud^ tool^l terteiSt nur fein?
2lud btefem ©efpräd^ erfennen toir flar, in
loetd^er ©laubenöüberjeugung SRat^an lebt. %üx
il^n gibt eö nur eine fidlere ^robe beö redeten
©taubenö: bie ©elbftoerleugnung, bie aufrid^tig
gewollte, bie roirttic^ betool^rte. g^ür biefe ©elbft^
Verleugnung gibt eö nur eine fidlere ^robe: bie
Slufopferung in berßiebe, bie freubige unb tjoHs
fommen uneigennüfeige, waö 3lati)an „gut ^anbeln"
nennt. 3n biefer ©efinnung foHen fic^ alle ©emütl^d::
fräfte t)eretnigen unb ftreben, bie ^erjenölauterfeit
ju erjeugen. ©o läfet fid^ ber redete ©laube unb
wie weit er im aJlenfc^en gebieten ift, nur bereifen
burd^ bie ^erjenöläuterung unb nur erfennen
burd^ bie ^erjenßlünbigung. 6ö gibt fein anbereö
186
Äcnnjeic^cn. ®er aJlcnfd^ fann bcn redeten ©lauben,
bic rcligiöfc SBalirl^eit nid^t l^aben, tote einen äußeren
33efife, n)te einen ©tein ober Sling ; mit bem SRing
am ginger fann er unlauter bleiben ; er fann, m^
bie 9Bal|rl^eit ber SReligion ausmacht, nur fein int
Äem feineö SBefenö. ^ier gilt ba§ SBort: an
if)ren g^rüd^ten follt il^r fie erfennen! aWit biefer
©infid^t in bie menfc^lid^e Jlatur, in bereu Säuterung
allein ber ©laube feine grüd^te reift, ift SRatl^an
ber %vaQe fern geblieben : n)aö gelten bie ©laubenö-
formen an fid^, abgefel^en oon ben 3Jlenfd^en, in
benen fie leben? 2)a§ tiiefee in feinem ©inn,'bie
©laubenßformen rid^ten motten, abgefel^en oon bem
einjigen Äennjeid^en, baö iliren 3Q3ertl^ erfennbar
mad^t. @ine fold^e g^rage fann man nur aufmerfcn,
menn man nid^t Äenner ift ; eine f old^e grage fann
man nur entfd^eiben, roenn man baö Uned^te für
ed^t nimtnt. ©o falfd^ toirb bie ®ntf (Reibung fein:
eine blofee ©laubensmäfelei, bie ber S)enf art ?latl|an§
fremb ift unb grunbfäfelid^ roiberftreitet. Unb eben
biefe g^age, bie er felbft fid^ nie oorgelegt l^at,
fommt it)m plöfelid^, in einem 9lugenblidf, mo er jte
am roenigften erwartet, auö bem gebieterifc^en Wunbe
©alabins :
187 '
@agc mir bod^ cmmal,
2Qßa§ füt tin (BlanU, toa§ füt ein ©cfcfe
^at btt am mciftcn cingelcud^tct ?
%üt 3lati)an ift bie fj^^agc überrafd^cnb. Sit
feiner SBetrad^tungötüeife liegt fie niä)t unb fann in
il^r nid^t liegen; fie fann eine %aile fein, bie bem
2juben gelegt ift, fie fann aufrid^tig gemeint unb
auö einem ed^ten aSaJ^rfieitöbebürfnig be§ ©ultanö
l^ertjorgegangen fein. @ö l^ilft nid^§, bajg ?latt)an
juerft mit bem SBörte äurüdftritt: „©ultan, id^ bin
ein 3ub\" ©alabin bringt auf eine entfd^eibenbe
Slntroort. SRatl^an roirb befiutfam gefien, er wirb
bie glatte cermeiben unb bem ©ultan bie SBafirl^eit
fagen. 2)aö ©elbftgefpräd^ , in bem fid^ Jlatl^an
auf bie Slntroort vorbereitet, ift ein 3Jlufter feiner
Slrt: ein fold^eö ©elbftgefpräd^ fonnte nur Seffing
f d^reiben !
3Beld^er ßontraft jroifd^en bem, roaö Jlatl^an
t)on ©alabin erwartet, unb bem, roaö er empfängt :
jroifd^en ber 9lnlei^e unb biefer grage ! 6r ift auf
(Selb gefajst, unb ©alabin roill 3Baf)rf)ett. Unb
.bod^ ift ber ßontraft fo grofe nid^t, alö er fd^eint.
®r miH bie 2ßa|rl^eit, afe ob fie ©elb märe ; ber 3ug
ber alten ©rjäl^lung ift l^ier jum ©leid^nife uerebelt :
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Unb toitt fte fo, — fo Baat, fo Blan!, — aU oB
2)ie aOßal^rl^eit aJHinac to&tc ! — 3^a, tocnn nod&
Uralte SWünac, bic gctoogen toatb!
^ag gtn((e not^! ^Uein fo neue ^ünae,
^te nut bet @tein)}el mad§t, bit man aufg $rett
9lur 3&l^Icn barf, ba8 ift jte bod^ nun nidftt!
2öic (SJelb in Bad, fo ftrtd^e man in Äopf
Slud§ aOßa^t^eit ein?
^icr ftclit Jlatl^an bcn ©ultan mit feiner %xa%t
^ unter fid^. ©o üerliätt ftd^ jur 3Bal^rl^eit nid^t bie
Siebe, fonbem bie ^abfud^t, bie btofe jugreifen unb
an fid^ reiben möd^te. SUlit einer feinen SEßenbung
f agt 3laif)an ju fid^ felbfi : „2Ber ift benn l^ier ber
3ube? id^ ober er?"
9Bie n)irb er antworten ? 6r barf ben ©lauben
feines aSolfß nid^t oerteugnen unb jugleid^ bie anbem
^Religionen nid^t uerroerfen. ®s wäre unHug bem
©uttan gegenüber unb jugteid^ in 5Ratl^anö eigenem
©inne falfd^.
@o Qanj
©torfiubc fein ju tootten, gel^t ft^on nid^t.
Unb ganj unb gar nid^t 3ube, gel^t nod^ ntinber.
5Denn, tocnn. fein 3ube, bürft' er mid^ nur fragen,
Söarum fein 9Jlufelmann ? —
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^icr liätt er innc unb nad^ einer furjen ^paufe
fäl^rt er fo fort:
5Da8 toat'8 ! ba8 fotin
mä) tcttcn. — S^td^t bic Äinber BIoS fpcift man
9Jltt ^Jlal^rd^cn ab. — (5r fömmt. @r lornme nur !
2Baö ift tüäfirenb biefer ^aufe im Snnern Jla^
tlianö vorgegangen? 2)er ©ebanfenftrid^, ben Sefftng
an biefer ©teile mad^t, verbirgt eine ganje SReilie
von ©ebanfen, bie nur in ifjrem testen 6rgebniJ3
jum Sßorfd^ein fommen : „S)a§ n)ar*§ ! baö f ann mi(^
retten !" — ®r liat alfo bie 3lntn)ort gefunben auf
jene fj^age, bie er fid^ fetbft im ©inne beö ©ultan§
einwirft: „2)enn, wenn fein Sube, bürft* er mid^
nur fragen, warum fein SJluf elmann ?"
Seffing§ Snterpunctionen finb fo berebt, fo ge::
banfenooH, fo bebeutfam; jebeö Äomma, jebeö ©e^
mifolon rebet bei il^m mit. 6§ gibt ©d^riftfteHer,
bie ©ebanfenftrid^e mad^en, menn il^nen bie @e^
banfen auögelien, barum gibt e§ in il^ren ©d^riften
fo oiet fold^er ©trid^e ; bei Seffing fommen bie (Bt-
banfenftrid^e, menn ju riet ©ebanfen in einen SDio^
ment jufammenftrömen, bei il^m bejeid^nen fie baö
berebtefte ©d^roeigen.
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©todjube ift 92atl^an nid^t unb roiH eö nid^t fcii
Unb bod^ ift unb bleibt er ein 3ubc. Sffiarum i
er einer ? 58ieIIei(3^t erliebt fxd^ biefe g^rage in bief^
©infad^l^eit jefet jum erftenmat t)or feiner ©cel
Unb bie 3lntn)ort ift Mar, bie einjig roal^re: eö
ber ©laube feineö SBolfes unb feiner 3Säter, il^
eingeboren burd^ feine ^erfunft, mit feiner ganji
Sebenögefd^id^te auf baö Snnigfte Derroebt, ein ^\
t)on ilim felbft. @r liat biefen ©lauben nid^t o
ro&^t, fonbern ererbt, er f)at biefeö ©rbtl^i
empfangen unter ben erften unb tiefften ©inbrüdfc
alle Siebe unb 2:reue für bie ©einigen ift n
biefem ©rbtl^eil untrennbar uerbunben. ©ollte
biefen ©lauben, biefe ©laubenöfitten aufgebe
il^m würbe ju 9Kutl) fein, als foHte er feinen 9Sa1
abfd^TOören. ©o ift e§ mit jeber eingelebten @lo
bensform :
5Denn grünbcn alle fiä) nid^t auf ©cfd^td^tc?
©efd^ticben obet übcritcfett! — Unb
(Scfd^id^tc muß bod^ tool^l attetn auf %xm
Unb ßJIaubcn angenommen toetbcn? 5fltd^t?
5lun toeffcn Streu unb ©tauben gleist man bcnn
3lm tocnigften in ^toetfeH bod^ ber ©einen?
2)od^ bereu SBlut toix ftnb? bod^ bereu, bk
Son Äinbl^ett an un§ ^Proben il^rer Siebe
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begeben? bic un§ nie gctäufd^t, aU too
^ctaufd^t ju toetbcn un§ l^etlfamct toot?
Süßte !ann t.d^ meinen 2}ätetn toeniger,
9ll§ bu bcn beinen glauben?
3lIIe bicfe ©ebanfcn taud^cn in feiner ©eele fd^on
auf in jenem 3lugenbltd beö 5D{onotog§, roo er bei
ber ^rage einliält : „S)enn, wenn fein Sube, bürft*
er tttid^ nur fragen, warum fein aJlufelmann?"
Unb mit bem ©ebanfen fommt il^m me eine
ßingebung baö njol^tbefannte 33itb. S)er jübifd^e
©laube, in bem er \iä) fieimifd^ füfltt, ift il^m ein
n)ertf)t)olIeö tl^eureö ©rbtl^eU! 6ö ift ber SRing, ben
er von feinem Sßater fiat. 6r gönnt jebem ben
fetmgen. 2)ie ©taubensformen ber 58ölfer finb rate
bie SRinge ber g^abel. ^^xt Äraft liegt in ber Säu=
terung be§ menf(3^lid^en ^erjenö, bie fie burd^ ifire
Sßerl^eigungen bewirf en; wenn il)re g^rüd^te gereift
finb, bann finb bie SBerlieifeungen erfüllt unb ent^
bel^rli(^ geworben. S)te ©innbilber f)aben ilire
©rjiel^ung t)oIIenbet. 2)ie ^rüd^te fielet, ben S^if^nb
ber Sauterfeit erfennt ber weifere SRid^ter am ^kU
ber Bitten. ?latf)an wirb bem ©uttan bie Slntwort
beö befd^eibenen SRid^terö geben, ber fid^ ber
Söfung bewußt ift, aber fie nid^t vorwegnimmt, nur
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bcn 2Beg jcigt, bcr jenem ^ide jufülirt. Ein
3lugenbticl ernfter ©elbftbeftnnung t)at biefen ©e-
bjcinfen in SRatf)an jur-SReife gebrad^t. Sit jenem
3Jlomeht beö ©elbftgefpräd^ö , ben Sefftng mit bem
ftummen ©ebanfenftrid^ auöbrüdt, bietet jid^ i^m
ate ber glüdlic^fte 3Beg ber Sntroort bie fj^^rf ^^n
ben brei SRingen. S^fet, feiner ©ad^e ftd^er, t)olIenbet
9latl|an fein ©elbftgefpräd^ mit bem fiegeögeroiifen
Sluöruf :
• . 2)a8 toat*8! ha^ tann
9Jlid§ tcttcn! 9ltd^t bic Ätnbcr Ho8 fpcift man
^Jlit SJla^tt^cn ab. — @r lömrnt. (5r !ommc nur!
Unb auf baö SBJort beö ©ultanö: „e§ ^ört
unö feine ©eete!" erroibert er: „W6di)V bod^ au(i^
bie ganje 3Belt unö l^ören!"
S)ie aBett |at if)n gel^ört. ^at fie il^n betierjigt?
2lfe Seffing bie ßrjiel^ung beö aKenfd^engefd^le(ä^t§
l^erauögab, fd^rieb man baö Sa^r 1780. S)ie SBett
ift ein S^l^rl^unbert älter geworben. 9lad^ unferen
2:agen ju urtf)eiten, fd^eint fie weiter aU je von bem
3iete entfernt, baö Seffing il^r jeigte. S5ie hx^-
lid^en kämpfe, ber ©taubenöftreit, fetbft ber 3le^
Ugionöfrieg, ber fid^ ate Äreujjug geberbet, ber
aSölfer= unb Slacenliajs, bie roilbe Empörung, bie
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)en ©d^id^ten ber ©cfcHfi^aft tüütlict, crfd^üttern
©rbtl^cil unb ftnb unö gefäl^rüd^er als je, ba
}ur ©rliattunö beö bcutfd^en SReid^ö bcö inneren
jbenö unb beö 3wfammenlialtö aller Elemente
ireö Sßolfö bebürftiger finb afe je. 2)od^ foH
bie ©egenroart nid^t irre mad^en. 3Baö ift
Sal^rl^unbert im Seben ber 9Jlenfd^l)eit? Unö
t Seffings erl^abener 3luöfprud^ in ber ©rjiel^ung
9Kenfd^engefd^led^t§ : „&tf)^ beinen unmerflid^en
ritt, etoige Sßorfel^ung! ?lur lafe mid^ biefer
fterflid^feit wegen an bir nid^t üerjioeifeln. £aJ3
I an bir nid^t Derjroeif ein , wenn felbft beine
ritte mir fd^einen follten jurüdfjugel^n. ®ö
lid^t raa^r, baj3 bie fürjefte Sinie immer bie
,be ift."
>J^o«-
uno drif^er, &. @. Se||lnÄ. 11. \^